Alfred Kantorowicz und Gustav Korkhaus

Ein Thema, zwei Weltanschauungen

Heftarchiv Gesellschaft
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Die Karrieren von zwei zahnmedizinischen Wissenschaftlern der Universität Bonn, Alfred Kantorowicz und seinem Schüler Gustav Korkhaus, sind Gegenstand der medizinhistorischen Masterarbeit von Dr. Rosemarie Mattern. Sie geht auf das tief greifende Spannungsverhältnis zwischen Kantorowicz als Wissenschaftler und praktizierendem Sozialdemokraten und dem National-konservativen und späteren Nationalsozialisten Korkhaus ein. Die Arbeit steht in der Tradition einer differenzierten Betrachtung der Verstrickung der Zahnärzteschaft in den Nationalsozialismus. Hier eine Zusammenfassung.

Die rasante akademische Entwicklung von Gustav Korkhaus (1895–1978) im kieferorthopädischen Wissenschaftsbereich ist ohne den älteren und akademisch erfahrenen Alfred Kantorowicz (1880–1962) nicht denkbar. Hier trafen zwei Wissenschaftler aufeinander, die über Jahre im Hochschulbereich produktiv zusammen arbeiteten, während sie politisch für unterschiedliche Gesellschaftsordnungen im eigenen Land standen. Der ältere Kantorowicz, im 1. Weltkrieg Kriegsfreiwilliger, war geprägt durch die Analysen fortschrittlicher Gesellschaftswissenschaftler der Jahrhundertwende. Die Zusammenhänge von Krankheit und sozialer Lage bildeten den lebenslang stringent durchgehaltenen sozialmedizinischen Impetus seiner Tätigkeit in Verbindung mit den Forschungsergebnissen naturwissenschaftlich determinierter Medizin. Kantorowicz wissenschaftliche, in aller Welt anerkannte Befähigung war durchdrungen von bodenständigem, sozialpolitischem Handeln zugunsten einer überwiegend materiell armen und/oder marginalisierten Bevölkerung. Neben der Erarbeitung eines äußerst umfangreichen wissenschaftlichen Werkes und dessen Umsetzung in Lehrmaterial galt sein Engagement der sozialmedizinischen, unmittelbaren Transformation seiner epidemiologisch untermauerten Erkenntnisse im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens. Dabei half ihm nicht unerheblich sein parteipolitisches Eintreten als Sozialdemokrat im Bonner Stadtrat und überregional im Verein Sozialistischer Ärzte.

Unter dem Motto „Ein sauberer Zahn wird nicht kariös“ wurde er zum international anerkannten Vorreiter der kollektiven Schulzahnpflege mithilfe der Einheit von Untersuchung und Behandlung durch hauptamtliche Schulzahnärzte während der Unterrichtszeit – das „Bonner System“ mit seinen automobilen Zahnstationen wurde zum international kopierten und erfolgreichen System.

In dessen Rahmen sank im Bonner Raum in kürzester Zeit die Rachitisrate von 50 Prozent (1925) auf 3 Prozent (1929); im selben Einzugsgebiet wurde bei Kindern und Jugendlichen bezüglich der Erkrankung an Karies ein bis heute einmalig gebliebener Sanierungsgrad (93 Prozent) erreicht. Bereits 1920 gelang in Bonn die Verstaatlichung der zuvor privatwirtschaftlich betriebenen Zahnmediziner-Ausbildung, die dadurch entscheidend an Qualität und Attraktivität gewann.

Seinem sozialmedizinischen Weitblick war es zu verdanken, dass die dem Ausbildungsinstitut eng zugeordnete Schulzahnklinik 1927 von der Stadt Bonn als Städtische Schulzahnklinik übernommen wurde. Dadurch wurde die von kommerziellen Interessen befreite kollektive Behandlung von Kindern und Jugendlichen Realität und die bis dahin äußerst elitäre Kieferorthopädie (für einige Wenige) im Sinne von Früherkennung und -behandlung allen Gesellschaftsschichten zugänglich.

Die Masterarbeit stellt heraus, dass dieses Engagement massiv mit standespolitischen Interessen der Zahnärzteschaft des Köln-Bonner Raumes kollidierte und Kantorowicz wissenschaftliche Karriere teilweise erheblich beeinträchtigte. Ab 1933 wurden die Organisationsformen der maximal wirksamen Schulzahnpflege nicht nur durch die Nationalsozialisten – in Übereinstimmung mit der verfassten Zahnärzteschaft – sukzessive zerschlagen, sondern ihr Erfinder, Mentor und Förderer gehörte auch zu den ersten aus politischen Gründen in einem Konzentrationslager Inhaftierten. Die Wut der Nazis und ihrer Vorteilsnehmer galt sogar den Errungenschaften einer sozialen Zahnmedizin.

Im Vorfeld des Nationalsozialismus

Korkhaus gehörte altersmäßig nicht zur Kriegsgeneration des 1. Weltkrieges und wuchs hinein in die „Ära Kantorowicz“. Beide verband im Wissenschaftsbereich eine rege Zusammenarbeit; Korkhaus wandte sich unter dem Einfluss von Kantorowicz frühzeitig den Problemen der Kieferorthopädie zu und wurde zu einem ihrer Vorreiter. Der als sehr konservativ beschriebene Korkhaus soll während der Weimarer Republik der Programmatik der Deutschen Volkspartei DVP zugeneigt gewesen sein, einer nach der Novemberrevolution von 1918 antisozialen und teilweise republikaversen Partei, die zum Ende der Republik versuchte, den Nationalsozialisten den Rang abzulaufen und schließlich von diesen als eine mit ihnen konkurrierende Partei verboten wurde. Er erntete die wissenschaftlichen Früchte „sozialistischer“, kollektiver, wissenschaftlich rationaler Zahnheilkunde im Bezugsrahmen des öffentlichen Dienstes. Kantorowicz erreichte 1927 die Angliederung einer orthodontischen Abteilung an die Schulzahnklinik; Korkhaus wurde im gleichen Jahr deren Abteilungsleiter.

Nachdem die kieferorthopädische Behandlung an diesem Institut von den immensen Therapiekosten für die Betroffenen befreit war, konnten im Laufe der Zeit epidemiologisch signifikante Behandlungsfallzahlen zur Auswertung kommen. Dazu Korkhaus im Wortlaut: „Etwa 4 000 Kinder hatten wir in Behandlung, eine Zahl, die vermutlich die Gesamtzahl sämtlicher damals an anderen kieferorthopädischen Kliniken Deutschlands behandelten Spätfälle übertraf.“ Und an anderer Stelle: „Im Jahr 1927 wurde die kieferorthopädische Schulzahnklinik eingerichtet, ein Zeichen, dass die Entwicklung dieses Fachgebiets hinreichend gereift war, um einen derartigen Massenversuch wagen zu können. […] Zwillings- und Stammbaumforschungen sowie Reihenuntersuchungen gaben ungewohnte neue Einblicke in das Entwicklungsgeschehen an Kiefern und Zähnen und ließen günstige und ungünstige Einflüsse erkennen.“

Nachdem die für die Normalbevölkerung zu kostenintensive kieferorthopädische Individualbehandlung abgelöst worden war zugunsten von Reihenuntersuchungen und Massenbehandlungen, gestattete diese Ausgangssituation die auch international bis dahin nie dagewesene Möglichkeit wissenschaftlich signifikanter Analysen, die günstigen/ ungünstigen Entwicklungseinflüsse für Zahnstellungsanomalien aufzudecken und durch Früherkennung erstmals auch systematische Prophylaxe-Bestrebungen zu forcieren.

Von der Eugenik zur Euthanasie

Das erste Drittel des Jahrhunderts wurde maßgeblich beeinflusst von erbbiologischen Erkenntnissen und mehr noch von den damit in Verbindung gebrachten spekulativen, teilweise rassenideologisch geprägten Hypothesen. Diese Hypothesen wurden im damaligen Spektrum parteiübergreifend von links nach rechts – wenn auch graduell unterschiedlich – gepflegt und politisch zu nutzen versucht. Die Medizin der Moderne trat an, mithilfe von rassenhygienischen Maßnahmen den vermeintlich perfekten Menschen zu schaffen und gleichzeitig sogenannte „lebensunwerte Existenzen auszumerzen“.

Korkhaus entschied sich frühzeitig für die wissenschaftliche Bearbeitung erbbiologischer Fragestellungen und fand zahlreiche Anknüpfungspunkte in den von Kantorowicz geschaffenen sozialmedizinischen Verhältnissen. Durchaus zeitgemäß und vorausschauend hatte Korkhaus sich auch in seiner Habilitationsschrift (1929) mit erbbiologischen Fragen befasst („Über den Einfluss der Erbmasse auf die Entwicklung des Gebisses“).

Kantorowicz dachte im Hochschulbereich primär in wissenschaftlichen Kategorien und seine politische und menschliche Toleranz war das krasse Gegenbeispiel zum Vernichtungswillen der Nationalsozialisten gegenüber Andersdenkenden. Das zeigte sich mehrfach bei seinen Personalvorschlägen im Universitätsbereich. So wurde Korkhaus mit seiner eher nationalkonservativen Einstellung auf Kantorowicz Vorschlag hin 1927 Abteilungsleiter der Orthodontie. Der mehrsprachig talentierte Korkhaus gelangte – im sozialmedizinischen Schatten Kantorowicz zum Fortschritt der Kieferorthopädie beitragend – auch ins internationale wissenschaftliche Rampenlicht; er führte später über diese Zeit aus: „Die Bonner Zahnklinik hatte dank des Namens und der unermüdlichen Tätigkeit Alfred Kantorowicz´ im In- und Ausland den unbestrittenen Ruf einer führenden Forschungs- und Lehrstätte erworben.“

In einer Zeit, in der etwa 80 Prozent der Jugendlichen an Zahnstellungsanomalien litten, formulierte Kantorowicz 1932 seine sozial-ethisch determinierten Überlegungen: „Es gab bis vor kurzem 4 bis 5 Spezialorthodonten in Deutschland. Die Preise für die Regulierung bewegten sich in schwindelnden Höhen von 600 bis 4 000 Mark. Da höchstens 7 Prozent der deutschen Bevölkerung ein Einkommen von über 5 000 Mark besitzt, schied gerade die orthodontische Behandlung für die Kreise praktisch aus, die sie am notwendigsten hatten, und war als Luxusbehandlung für diejenigen reserviert, die auch sonst durch das Leben gekommen wären.“ Mattern kam in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass durch die beiden großen Persönlichkeiten, Kantorowicz als spiritus rector und Korkhaus als sein Schüler, Prophylaxe und Schulzahnpflege in Verbindung mit der Orthodontie ein danach nie mehr erreichtes Niveau in der breiten Massenversorgung erreichten; die Wirksamkeit der planmäßigen Schulzahnpflege konnte in der Zeit der Weimarer Republik in Verbindung mit der Behandlung kieferorthopädischer Anomalien ein in der Geschichte der deutschen Schulzahnpflege einmaliges Ausmaß erreichen. Diesbezügliches Datenmaterial aus der früheren DDR, der Schweiz oder den Ländern Skandinaviens, in denen das „Bonner System“ der Schulzahnpflege inhaltlich kongruent oder modifiziert fortgeführt wurde, hat Mattern nicht problematisiert.

Kantorowicz langer Schatten

Gleichwohl erwies sich ab 1933 Kantorowicz langer Schatten für Korkhaus akademische Karriere als reichlich ambivalent. Einerseits war Korkhaus 1933 für die Nationalsozialisten bereits langjährig prädestiniert für höhere akademische Weihen durch frühe und zahlreiche Forschungsaktivitäten aus dem Bereich der Vererbung. Er publizierte biologische Zusammenhänge unter Herausgebern wie dem Nationalsozialisten Walter Klussmann, beforschte die Erbabhängigkeit der Zahnkaries und betrieb eine für damalige Verhältnisse groß angelegte Sippenforschung an fast 300 eineiigen und zweieiigen Zwillingen; später fügten sich Befunde bei Drillingen und sogar Vierlingen an.

Mit diesen Themen tangierte er „zeitgemäß“ die Interessengebiete zahlreicher Wissenschaftler dieser Tage, von denen einige zu einzigartigen Verbrechen beitrugen. Dazu gehört beispielsweise Josef Mengele, der Humangenetiker und SS-Hauptsturmführer, der mit der Arbeit „Rassenmorphologische Untersuchung des vorderen Unterkieferabschnittes bei vier rassischen Gruppen“ zum Dr. phil. und mit der Arbeit „Sippenuntersuchungen bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte“ zum Dr. med. promoviert und ab 1943 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zahlreiche terminale Versuche und Sektionen an Mehrlingsgeburten vorgenommen hatte.

Demgegenüber war Korkhaus wissenschaftlicher Ausflug in das okkupierte Kiew ausgesprochen harmlos; denn dort ließ er von Bonner Doktoranden Kieferabdrücke herstellen, um die Abrasionen als Folge ausgeprägten Konsums von Sonnenblumenkernen zu erforschen.

Liquidation der Jugendzahnpflege

Ohne jeden Widerstand der Bonner Leitung und mit Unterstützung der Bonner Zahnärzteschaft – wie Kantorowicz ausführte – wurde die Jugendzahnpflege liquidiert. Die Schulzahnpflege mutierte zum Instrument der Auslese „Kranker und Schwacher“ im Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten. 1933 war Kantorowicz wegen seiner politischen Gesinnung in ein Konzentrationslager gebracht worden.

Eine Fürsprache durch Korkhaus nach über einem Jahrzehnt kollegialer Zusammenarbeit und engagierter Mentorentätigkeit ist nirgendwo dokumentiert worden. Unverzüglich trat Korkhaus 1933 in die NSDAP ein. Er definierte die Trennung von seiner Wirkungsstätte und das schwere Emigrantenschicksal seines Mentors in der Türkei später lapidar und „ohne jegliche Empathie“, wie Mattern feststellte, als eine „Einladung in die Türkei“. Gleichwohl gelang es Korkhaus bei aller Anpassungsbereitschaft nicht, aus dem sozialpolitischen Schatten von Kantorowicz herauszutreten, nachdem er nicht nur im Mai 1933 der NSDAP beigetreten war, der HJ angehörte und Mitglied im NS-Ärztebund (1935), im NS-Altherrenbund (1936), im Reichsluftschutzbund (1940) und im NSDozentenbund (1941) wurde.

Sein Parteifreund, der Kieferchirurg Edwin Hauberrisser, der Korkhaus für „selbstgefällig, eitel, übertrieben ehrgeizig“ hielt, sprach die Vermutung aus, dass der „ausgesprochene Opportunitätsmensch“ nicht unbeeinflusst geblieben sei durch das Verhältnis zu seinem Lehrer und Förderer Kantorowicz. Karl Pieper, ein „alter Kämpfer“ der NSDAP und Referent für Zahnmedizin in der Reichs-Dozentenführung, schrieb 1934 mit der ihm eigenen menschenverachtenden Rabulistik: „Herr Korkhaus hat gerade in letzter Zeit in Bonn dokumentiert, dass seine jahrelange Zusammenarbeit mit dem Moskowiter Juden Kantorowicz nicht ohne Einfluss auf ihn und seinen Charakter geblieben ist.“ Während unter der Leitung von Hauberrisser einige Mitarbeiter die Klinik verlassen mussten, weil sie „mehrere Jahre unter dem jüdischen Professor Dr. Kantorowicz Assistententätigkeit ausgeübt“ hatten, kam auch Korkhaus Karriere nicht richtig voran, obwohl er selbst im Bekanntenkreis als eifriger Nationalsozialist galt.

Im sogenannten Entnazifizierungsbogen machte Korkhaus als ehemaliger Nationalsozialist „politische Gründe“ dafür verantwortlich, dass ihm das nationalsozialistische „3. Reich“ die Besetzung eines Lehrstuhls, auf den er „nach Alter und Leistung hätte Anspruch erheben können“, nicht ermöglicht hatte. 1948 charakterisierte der Bonner Dekan Erich von Redwitz Korkhaus, der 1935 zum nicht beamteten außerordentlichen Professor ernannt worden war, als den typischen, karrierebewussten Opportunisten dieser Ära: „So ist er jetzt imstande, auf Grund von Briefen etc. zu beweisen, dass er niemals Nationalsozialist war. Aber ich vermute, dass er den Nazis ebenso beweisen konnte, dass er stets für ihre Sache eingetreten wäre.“

Korkhaus sukzessive Annäherung an die Machthaber durch multiple nationalsozialistische Mitgliedschaften lässt die Deutung zu, dass er unermüdlich bemüht war, seine akademische Karriere über diesen opportunistischen Weg zu befördern. Finanzielle Gründe dürften nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben, denn wirtschaftlich hatte er sich schon 1933 durch die Gründung einer Privatpraxis in Köln unabhängig zu machen versucht.

Trotz zahlreicher Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen fehlte Korkhaus aufgrund seines wenig völkischen, dafür professoralen Auftretens („König Gustav“ oder „Papst der KfO“), seiner polyglotten Ambitionen und intensiven wissenschaftlichen Auslandskontakte der eigentliche „Stallgeruch“, wie er den anderen damaligen Vertretern der Hochschullehrerschaft der Zahnmedizin eigen war. Der medizinischen Fakultät galt sein orthodontisches Wissenschaftsgebiet als eher eingeschränkt, was ihn mitten in den Kriegswirren veranlasst haben dürfte, das medizinische Examen nachzuholen.

Ungeklärt blieb die Frage, welche Rolle Korkhaus bei und nach der Verhaftung seines Lehrers gespielt hatte. Unaufgegriffen blieb auch die Frage nach seiner Ein- und Mitwirkung bei der Einführung des Fachzahnarztes für Kieferorthopädie, die 1935 vom damaligen Reichzahnärzteführer Ernst Stuck, der als Förderer von Korkhaus galt, verfügt worden war.

Karriere in der Nachkriegszeit

Während Kantorowicz auch im Emigrationsland sozialmedizinische Projekte wie die Förderung von Betriebszahnkliniken und die Zahnärztefortbildung anzuschieben versuchte, setzte Korkhaus seine wissenschaftliche Laufbahn unter teilweise kriegsbedingt ungünstigen Vorzeichen fort. Der mit großem Verhandlungsgeschick und Diplomatie ausgestattete Korkhaus wurde in der Zeit des Nationalsozialismus nicht der Nachfolger von Kantorowicz, wenn ihm auch später Leitungsfunktionen übertragen werden sollten. 1946 übernahm Korkhaus die kommissarische Leitung der Bonner Zahnklinik.

1946 erhielt Kantorowicz ein Angebot der Universität, erneut in seine alten Funktionen einzutreten. Eine inzwischen eingetretene Krankheit und die Befürchtung persistierender antisemitischer Ressentiments in Deutschland veranlassten ihn zu einer Absage. Es spricht für seine Großzügigkeit und politische Toleranz, dass er den inzwischen „entnazifizierten“ Kollegen Korkhaus für seine Nachfolge vorschlug.

Drei Jahre nach Kriegsende war Gustav Korkhaus 1948 am Ziel, er wurde zum Ordinarius für Zahnheilkunde und zum Direktor der Bonner Zahnklinik ernannt. Als solcher erfuhr er zahllose Ehrungen und trug dazu bei, die Bonner Zahnklinik erneut zu einer auch international anerkannten Hochburg der Kieferorthopädie zu machen, allerdings ohne die Anbindung an die früher erfolgreich betriebene sozialmedizinisch ausgerichtete Kinder- und Jugendzahnheilkunde. Ein diesbezügliches Interesse an sozialmedizinischen Fragestellungen aus dieser Zeit wurde nicht dokumentiert.

Korkhaus als typischer Vertreter der in Westdeutschland erfolgreich aus dem Nationalsozialismus transformierten, weitgehend personal-identischen Ordinarien-Universität musste bei seiner Emeritierung im Jahr 1966 die Erfolge der aufmüpfigen westdeutschen Studentenbewegung registrieren, die begann, „den Muff unter den Talaren“ dieser Ordinarien und deren verdrängte Vergangenheit zu lüften. 1978 verstorben, hat er es nicht mehr erlebt, dass einige Jahre später die nationalsozialistische Vergangenheit der Hochschullehrer des Faches – gegen den erbitterten Widerstand der verfassten Zahnärzteschaft und Teile ihrer Wissenschaftselite – aufgerollt wurde.

Enttäuscht und verbittert

1950 kehrte Kantorowicz nach bald zwei Jahrzehnten im türkischen Exil im Alter von fast 70 Jahren in seine Heimat zurück. Er musste feststellen, dass die von ihm erkämpften Errungenschaften einer epidemiologisch erfolgreichen, sozialen Zahnheilkunde einem seiner Meinung nach weitaus weniger effektiven, in großen Teilen privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitssystem Platz gemacht hatten. Bezüglich der Aufgabe der Einheit von Untersuchung und Behandlung durch beamtete Schulzahnärzte/ innen schrieb er 1957 äußerst enttäuscht und verbittert: „Die zahnärztliche Tätigkeit beschränkt sich auf die Feststellung, ob in einem Zahn eine Sonde hakt und ist damit zu einer Karikatur einer Berufsausübung geworden, die ein fast 6-jähriges Studium voraussetzt […] Ich würde es ablehnen, aus dem Herumstochern mit einer Sonde um ein Loch in einer Fissur zu finden, eine selbständige Disziplin zu machen.“

Das Sozialministerium des Landes Nordrhein-Westfalen ernannte ihn zum „Fachberater für Fragen der Schulzahnpflege“; er bekam an der Bonner Klinik einen Lehrauftrag und hielt Vorlesungen über die medizinische und soziologische Problematik der Zahnheilkunde. Noch mehrfach geehrt und offensichtlich ohne eine persönliche Beziehung zu seinem ehemaligen Schüler Korkhaus verstirbt der weltweit renommierte Alfred Kantorowicz 1962 im Alter von 82 Jahren. Es sollten, sieht man von wenigen Ausnahmen einmal ab, Jahrzehnte vergehen, bis man sich seiner enormen sozialmedizinischen Erfolge gebührend erinnerte.

Dr. Wolfgang Kirchhoff, Marburgkuwkirchhoff@gmx.de

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