Der Kampf ums Wort
Auf dem Campingplatz brennt ein Lagerfeuer. Die Stimmung ist ausgelassen, reihum werden Witze erzählt. Der Nächste ist dran, legt los – aber stockt, setzt wieder an, bricht schließlich ab. Ein Stotterblock, durchdringend wie der Sprung in einer Schallplatte, verdirbt die Pointe. Situationen wie diese durchziehen den Alltag von Menschen, die als „Stotterer“ benannt werden.
Die Sprechstörung kann die Schulzeit zur Hölle machen und Meetings im Berufsleben zum Spießrutenlauf. Auch in Streitgesprächen – und Liebeserklärungen – kommt sie meist ungelegen.
Stottern tritt in allen Kulturen und Schichten auf. Viele Prominente haben und hatten damit zu kämpfen, unter anderem Marilyn Monroe, Isaac Newton, Winston Churchill und Rowan Atkinson alias Mr. Bean. Nach Angaben der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe (BVSS) sind in Deutschland fünf Prozent aller Kinder zwischen drei und fünf Jahren betroffen, Jungs doppelt so häufig wie Mädchen. Bundesweit leben 800 000 Menschen mit diesem Problem.
Keine Formschwäche
An schlechten Tagen verhaspelt sich jeder mal beim Sprechen. Vor allem, wenn man müde oder unkonzentriert ist, wollen die Sätze einfach nicht richtig herauskommen. Mit Stottern – in der Fachliteratur auch Ischnophonie, Balbuties, Dysphemie oder Psellismus genannt – sind solche gelegentlichen Formschwächen jedoch nicht vergleichbar. Stottern ist eine Störung im Sprechablauf, deren Ursache noch nicht hundertprozentig geklärt ist. Fest steht, dass die Störung nicht, wie viele früher glaubten, psychisch bedingt ist. Als wahrscheinlich gilt eine Fehlfunktion bei der für den Redefluss verantwortlichen Zusammenarbeit der motorischen und sensorischen Sprachregion des Gehirns, des Sprechapparats und der Stimme. Die Betroffenen wissen im Moment des Stotterns genau, was sie sagen wollen, aber es gelingt ihnen nicht, es flüssig auszusprechen. Bei der Hälfte der betroffenen Kinder setzt die Störung vor dem vierten Lebensjahr ein, bei 90 Prozent vor dem sechsten. Bei Jugendlichen, die älter als zwölf sind, tritt sie nur selten erstmalig auf. Circa achtzig Prozent der betroffenen Kinder verlieren das Stottern bis zur Pubertät wieder. Bei Mädchen kommt es häufiger als beim männlichen Geschlecht zu Remissionen, wodurch das Verhältnis männlichweiblich auf 4 : 1 anwächst.
Im Erwachsenenalter werden verschiedene Arten der Sprechstörung unterschieden:
• Erworbenes Stottern setzt erst in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter ein, sein Ursprung kann unter anderem drogeninduziert oder psychogener Natur sein.
• Neurogenes oder neurologisches Stottern tritt nach Hirnläsionen, Schädel-Hirn-Traumata oder bei Schädigungen des Zentralen Nervensystems (ZNS) auf.
• Eine weitere Form ist das „Persistent Developmental Stuttering“ (PDS), das in der Kindheit beginnt und nicht – wie im Großteil der Fälle – bis zur Adoleszenz vergeht.
Drei Symptome
Die Sprechstörung äußert sich in drei primären Symptomen:
Erstens: hörbare und stille Blockaden, im Fachjargontonisches Stotterngenannt. Dabei wird der Redefluss durch hörbare oder stille Blockaden unterbrochen, das heißt, der Sprechende macht gefüllte oder ungefüllte Pausen vor einem Wort. „Wichtig“ würden Betroffene typischerweise „-----wichtig“ aussprechen.
Klonisches Stottern:Wiederholung von Wortteilen und Silben. Bei dieser Variante, auch klonisches Stottern genannt, wird aus „wichtig“: „w-w-w-wichtig“. Drittens gibt esProlongationen, womit die übermäßige Dehnung von Lauten und Wortteilen gemeint ist, zum Beispiel „wwwwichtig“.
„Zu den primären kommen sekundäre Symptome hinzu“, erklärt Dr. Martin Sommer. Der Neurologe am Klinikum der Georg-August Universität Göttingen ist selbst Betroffener und stellvertretender Vorsitzender der BVSS. Laut dem Experten sind bei Stotterern vor allem zwei Verhaltensweisen anzutreffen: „Manche gehen den für sie schwierigen Wörtern von vorneherein aus dem Weg, andere versuchen, die Blocks mit körperlicher Kraftanstrengung zu überwinden.“
Im Gegensatz zum für Laien nur schwer erkennbaren Vermeidungsverhalten ist das so genannte Fluchtverhalten kaum zu übersehen. Es äußert sich in ruckartigen Bewegungen des Oberkörpers, einem Rudern der Arme, Fußstampfen, Augenkneifen oder erhöhter Anspannung der artikulatorischen und laryngealen Muskeln. Manche Betroffene berichten, dass sie während oder nach Phasen starker Blocks oft Schmerzen im Kieferbereich haben – eine Information, der Zahnärzte bei stotternden Patienten nachgehen sollten.
Die Symptomatik des Stotterns kann von Anfang an stark ausgeprägt sein oder sich langsam über einen längeren Zeitraum steigern. Oft findet der Verlauf schubweise statt, und symptomarme Phasen wechseln sich mit starken Problemen beim Sprechen ab. Grundsätzlich können stotternde Menschen sich nie sicher sein, flüssig zu sprechen. Die Folge sind dann Scham und Angst.
Ständig auf der Hut
„Stottern hat neben der körperlichen auch eine emotionale Komponente“, sagt Stefan Hummes-Fabianek von der BVSS. Der 38-Jährige fing mit vier Jahren an zu stottern. „Angst ist ein starker Faktor. Man fürchtet sich davor zu sprechen, weil man stottern könnte. Diese Angst ist bei mir immer präsent. Vielleicht ist es weniger Angst als das Gefühl, ständig auf der Hut zu sein.“ Im Laufe der Jahre lerne man zwar, mit der Sprechstörung umzugehen, eine frustrierende Erfahrung bleibe es aber immer.
Die Hemmungen zu sprechen, können so groß werden, dass sie jeden Lebensbereich der Betroffenen bestimmen. Das kann so weit gehen, dass Ausbildung, Beruf, Freunde und Freizeitaktivitäten nicht nach den tatsächlichen Wünschen ausgewählt werden, sondern danach, wie wenig man sprechen muss, heißt es in einer Broschüre der BVSS.
Auf lange Sicht bleibt stotternden Menschen – wollen sie nicht ins soziale Abseits geraten – nichts anderes übrig, als sich ihren Ängsten zu stellen. „Spätestens wenn man erwachsen wird, muss man lernen, für sich selbst einzustehen und konfrontativ mit der Behinderung umzugehen“, findet Hummes-Fabianek. Die BVSS hofft, dass die Stotternden dabei irgendwann auf eine größere gesellschaftliche Sensibilität gegenüber ihrer Sprechstörung stoßen. Bis dahin unterstützt sie Betroffene dabei, trotz ihrer Sprechstörung ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Ausschließlich auf mehr Entgegenkommen von außen zu setzen, empfiehlt Hummes-Fabianek allerdings nicht: „Stottern ist keine sichtbare Behinderung. Betroffene können deshalb nicht erwarten, dass die Welt sich auf sie zu bewegt. Man muss mutig sein und immer zuerst bei sich selbst anfangen.“
Auch für Stotterer, die offen mit ihrer Behinderung umgehen, ist jeder Tag eine Herausforderung, denn Stottern ist in hohem Maße abhängig von Situationen und Tagesform. Wenn das emotionale Gleichgewicht gestört ist – zum Beispiel aufgrund von Stress, Nervosität oder Konflikten im Privatleben – ist die Wahrscheinlichkeit zu stottern höher als an guten Tagen. Stottern kann so auch ein Indikator für die Angst vorm Zahnarztbesuch sein.
Forschung gestern...
Die Ätiologie des Stotterns beschäftigt Wissenschaftler schon seit Jahrtausenden. Im antiken Griechenland glaubten die Gelehrten, der Grund sei eine zu trockene Zunge. Diese Option wurde mittlerweile natürlich widerlegt, auf eine einzige Theorie konnten sich Forscher aber bis heute nicht einigen. „Es gibt hunderte Erklärungen. Jede Zeit hat ihre eigenen Ansätze“, sagt Stotter-Experte Sommer.
Um 1830 standen Ansätze hoch im Kurs, die sich auf den Sprechapparat konzentrierten. Von einer fehlerhaften Stellung der Zähne auf dem Alveolarbogen, Erschlaffung der Zungenbänder oder unnatürlicher Länge des Zungenzäumchens war in wissenschaftlichen Abhandlungen die Rede. Als weitere Möglichkeiten zogen die damaligen Mediziner Löcher im Oberkieferknochen in Betracht, durch die Schleim auf die Zunge fließt, oder eine Schwäche der Kehlkopf und Zunge bewegenden Kräfte . Die vermuteten anatomischen Abnormalitäten behandelte man mit zum Teil sehr abenteuerlichen, apparativen Methoden wie Zungengewichten oder Mundprothesen. Es gab auch chirurgische Eingriffe, die oft zu Verstümmelungen oder noch schlimmeren Behinderungen führten. „Den Wissenschaftlern damals war noch nicht klar, dass eine zentrale Störung wie das Stottern mit solch peripheren Mitteln nicht dauerhaft behandelt werden kann“, so der Wissenschaftler.
In den 1960er-Jahren waren psychologische Ansätze in der Stotterforschung en vogue. Neurosen und Eltern-Kind-Konflikte wurden als Ursachen identifiziert und psychotherapeutisch behandelt. Heute hat das Gros der Forscher von der These, Stottern habe eine psychologische Ursache, Abstand genommen.
...und heute
Aufgrund der schnellen Entwicklung bildgebender Verfahren wie der Emissions-Tomographie (PET) und der Funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Neurologie an Bedeutung für die Stotterforschung gewonnen. Martin Sommer und sein Kollege Christian Büchel haben Forschungsstand und neue Theorien in einem Überblicksartikel auf der Wissenschaftsplattform „PLoS Biology“ zusammengefasst. Demnach stimmt die heutige Forschergeneration der Annahme, dass PDS ausschließlich als eine Reaktion auf negative Umwelteinflüsse entsteht, nur noch teilweise zu. Als Erklärung favorisieren sie, dass Abnormalitäten im ZNS die Sprechstörung auslösen und nicht negative Einflüsse aus dem elterlichen und sozialen Umfeld. Aber: Diese Faktoren können dazu beitragen, die Störung zu verstärken und zu ihrer Chronifizierung führen – insbesondere durch Vermeidungsverhalten. Welcher Art die zugrunde liegende neurologische Störung ist, verursacht nach wie vor viele Diskussionen in Fachkreisen: Manche Forscher haben eine fehlerhafte Verarbeitung akustischer Informationen oder Dystonien im Verdacht. Andere Theorien erforschen die Möglichkeit, dass das Stottern – wie das Tourette-Syndrom – durch eine Überproduktion des Neurotransmitters Dopamin ausgelöst wird. Grund: Eine antidopaminerge Medikation, zum Beispiel Neuroleptika wie Haloperidol, Risperidon und Olanzapin, vermindert die Sprechstörung.
Ein weiterer, viel diskutierter Ansatz vergleicht die Gehirnaktivität von fließend sprechenden und stotternden Menschen. Er geht auf Versuche des Stotterforschers Charles van Riper in den 1980er-Jahren zurück. Van Riper stellte fest, dass bei nicht Stotternden die linke Gehirnhälfte für den Sprechablauf dominant ist. Dabei wird zunächst in einem vorderen Areal der linken Gehirnhälfte geplant, was gesagt werden soll, anschließend werden die Inhalte mithilfe eines Areals im Zentrum der linken Hemisphäre ausgeführt. Dieses Muster lag laut van Riper bei Stotternden nicht vor, sondern war dort vielmehr aufgehoben. Das war der erste Hinweis darauf, dass bei Stotternden eine neurologisch bedingte Fehlsteuerung im Timing von Sprache vorliegen könnte.
Sommer und Büchel haben inzwischen herausgefunden, dass bei Stotterern die Nervenbahnen zwischen den verschiedenen Sprecharealen in der linken Hirnrinde unterbrochen sind. Das könnte der Grund dafür sein, dass das Planungszentrum der Sprache, das sogenannte Broca-Areal, und die für die Bewegung der Sprechorgane zuständigen Bereiche im Gehirn nicht ausreichend kommunizieren. Folge: Das Zusammenspiel von Zunge, Rachen und Kehlkopf beim Sprechen wird zu spät gestartet und Stottern entsteht.
In ihrem Artikel erwähnen Sommer und Büchel Messungen anderer Forscherteams, die bei Stotternden auf eine Störung der Abstimmung zwischen dem vorderen und zentralen Kortex der linken Gehirnhälfte hingewiesen und gleichzeitig eine Hyperaktivität der rechten Hemisphäre ergeben haben. Eine Untersuchung der Hirnaktivität bei Stotterern mit PDS hat dieses Ergebnis spezifiziert. Sie hat ergeben, dass die linke Hirnhälfte im Moment des Stotterns stärker arbeitet und dass die rechte beim flüssigen Sprechen dominiert. Eine Beobachtung, die Fragen offen lässt: Verursacht die linke Seite die übermäßige Aktivität der rechten oder sind die Abstimmungsprobleme linksseitig eine Reaktion auf die Hyperaktivität der benachbarten Hemisphäre? Viele Wissenschaftler favorisieren folgende Hypothese: Die Ursache liegt linkshemisphärisch und die erhöhte Aktivität der rechten Gehirnhälfte ist ein Versuch, das Stottern zu kompensieren. In einem Moment des flüssigen Sprechens tut sich bei stotternden Menschen deshalb rechtshemisphärisch mehr, denn diese Seite übernimmt die Funktionen, die bei nicht Betroffenen links ablaufen.
Dass diese Theorie richtig sein könnte, bestärkt noch eine andere Beobachtung. Sommer: „Erfahrungen zeigen, dass Stotterer beim Singen keine Blockaden haben und beim Singen arbeitet hauptsächlich die rechte Hirnhälfte.“
Auch das ungleiche Zahlenverhältnis männlicher und weiblicher Betroffener ließe sich laut dem Neurologen eventuell damit erklären: „Frauen und Mädchen können ihre rechte Gehirnhälfte stärker nutzen, also auch das Sprechen mehr auf beide Seiten verteilen. Dadurch haben sie mehr Kompensationsmöglichkeiten. Das ist aber reine Spekulation und bedarf weiterer Forschung.“
Doch die moderne Hirnforschung muss sich mit verschiedenen Vorwürfen auseinandersetzen. So wenden Kritiker ein, dass die meisten Ergebnisse auf Versuchen mit Erwachsenen beruhen. Neurologische Veränderungen bei älteren Stotterern könnten aber auch daher rühren, dass sie Wörter seit mehreren Jahrzehnten anders aussprechen oder vermeiden. Eine enorme geistige Anstrengung, die Spuren im Gehirn hinterlassen haben könnte. Sogenanntes erlerntes Verhalten lassen Neurologen jedoch nicht als Ursache gelten, für sie sind die Abweichungen im Gehirn stotternder Menschen eine klare Folgeerscheinung.
Abschließende Antworten kann wohl nur die Erforschung kindlicher Gehirne bringen. Grund: In diesem Alter entwickelt sich die Sprechstörung und dann ist auch der Zeitpunkt, an dem sich entscheidet, ob das Stottern bleibt oder wieder verschwindet. Studien mit Kindern sind allerdings problematisch, weil man die Probanden dafür narkotisieren muss.
Familienerbstück
Stotternde Menschen haben nach Informationen der BVSS im Vergleich zu nicht Stotternden etwa dreimal häufiger Verwandte, die ebenfalls von der Störung betroffen sind. Zwillingsstudien haben laut dem Verein außerdem ergeben, dass bei eineiigen Zwillingen, die auf identisches Erbgut zugreifen, häufiger beide Geschwister stottern als bei zweieiigen Zwillingen. Wissenschaftler gehen deshalb davon aus, dass 70 bis 80 Prozent der Stotterwahrscheinlichkeit bei Kindern genetisch bedingt sind. „Stottern wird jedoch nicht direkt vererbt, sondern vermutlich als Veranlagung zum Stottern weitergegeben“, heißt es in einer Broschüre der BVSS.
Eine Pille gegen das Stottern – viele Betroffene würden sich darüber freuen. „Ich kann mir vorstellen, dass viele so ein Medikament ohne zu zögern schlucken würden“, meint Sommer. Die pharmakologische Forschung in diesem Bereich sei aber noch weit von einer Lösung entfernt. Einige Arzneien, die zu einer Entspannung der Muskeln führen, können Stottern zwar vermindern, nach Absetzen kehrt das Problem jedoch unvermindert zurück – und mit ihm der Frust über das Stottern. Der bequeme Weg der Therapierung bleibt Betroffenen also zurzeit noch versperrt. Sie müssen andere Wege einschlagen, um die Sprechstörung langfristig in den Griff zu kriegen.
Flüssig werden
In der Stottertherapie haben sich vor allem zwei Methoden etabliert: Stottermodifikation und Fluency Shaping. Die in den USA entwickelte Stottermodifikation ist auch unter den Namen Riper-Methode und Non-Avoidance-Therapie, zu Deutsch: Nichtvermeidungsansatz, bekannt. Der Leitsatz in diesem Sinne: Nicht vermeiden, Stottern zeigen. Oberstes Ziel der Methode ist der Abbau von Ängsten. Außerdem erlernen Stotternde Techniken, mit denen sie Unterbrechungen im Redefluss kontrollieren können, bevor sie eintreten. Der Fokus liegt auf dem Stotterereignis, also vor allem auf den Worten, bei denen man ins Stocken gerät.
Die Therapie ist in vier Phasen unterteilt: In der Identifikationsphase analysiert der Betroffene sein Stottern und was er dabei empfindet. In der anschließenden Desensibilisierungsphase arbeitet er gegen negative Gefühle wie Angst, Frust und Wut an. In der Modifikationsphase steht das Verlernen typischer Vermeidungs- und Anstrengungsreaktionen und das Training von Sprechtechniken im Mittelpunkt. In der Stabilisierungsphase werden die Ergebnisse schließlich gefestigt.
Ein zweiter erprobter Ansatz ist das Fluency Shaping. In ihrer klassischen Form arbeitet diese Therapie nur am Sprechen, nicht an der Angst davor. Denn, so die Hoffnung: Wenn man den Sprechfluss insgesamt besser kontrollieren kann, legt sich auch die Angst. Beim Fluency Shaping lernen Stotternde eine komplett neue Art zu reden. Die Methode reagiert also nicht – wie der Vermeidungsansatz – auf einzelne Wörter, sondern arbeitet am ganzen Satz. Zu diesem Zweck wird das Sprechen zunächst stark verlangsamt, Vokale werden gedehnt, die Aussprache wird weicher gestaltet. Ein Beispiel: Statt einem harten „p“ spricht der Stotternde ein weiches „b“. Zusätzlich lernt er, Atmung und Sprechbewegungen zu kontrollieren. Wenn er die neuen Techniken intus hat, wird die Sprechgeschwindigkeit nach und nach an das normale Tempo angeglichen.
In der Praxis weisen beide Ansätze Schwächen auf, findet Stottertherapeut Holger Prüß. Beim Vermeidungsansatz gibt es oft Probleme, nachhaltige Desensibilisierungstaktiken zu finden, das Fluency Shaping schreckt viele durch den unnatürlichen Klang der Sprache ab. Prüß hat deshalb aus den beiden Ansätzen ein neues Konzept erarbeitet: die Bonner Stottertherapie für Jugendliche und Erwachsene. Wie er auf die Ängste stotternder Menschen am besten eingeht, weiß der Therapeut, denn er stottert selbst. Zum Angstabbau müssen die Teilnehmer zum Beispiel Passanten ansprechen oder – für Stotterer oft schwierig – Telefonate führen. Gleichzeitig wird am flüssigen Sprechen gearbeitet, indem das Stottern zunächst auf ein lockeres Stottern reduziert und dann durch weichen Stimmeinsatz praktisch unmöglich gemacht wird.
Langzeiterfolge bei einer Stottertherapie hängen auf Patientenseite von „vielen Faktoren ab. Dazu gehören Zeit, Motivation und die Unterstützung durch ein starkes soziales Umfeld“, weiß Prüß. Die Therapie ist allerdings nur der Startpunkt. „Generell müssen Betroffene sich auf eine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Stottern einstellen. In etwa so, wie Menschen mit Rückenproblemen immer etwas für ihren Rücken tun müssen.“
Die Versorgungslage könnte nach Einschätzung von Holger Prüß besser sein: „Es gibt zwar eine sehr große Zahl an Therapieangeboten, insbesondere im ambulanten Bereich. Aber was fehlt, sind Logopäden, die sich auf die Stotterproblematik spezialisieren. Nur so können sie die nötige Fachkompetenz und Erfahrung für dieses komplexe Krankheitsbild erlangen.“ Wirtschaftlich sei es natürlich nicht tragbar, nur ein Spezialgebiet zu haben. „Aber wenn die Kollegen sich auf zwei oder drei Sprechstörungen konzentrieren, wäre das schon ein Schritt nach vorne“, schließt Prüß.
Ein weiteres Problem: Viele Therapieangebote sind eher dubios und versprechen Stotternden, sie per Massage, Meditation oder Akupunktur von ihrer Sprechstörung zu erlösen. Diese Methoden führen laut BVSS häufig nur kurzfristig zu größerer Flüssigkeit. In den meisten Fällen stellen sich die alten Probleme später aber wieder ein. Die Enttäuschung über den gescheiterten Therapieversuch lässt den Frust der Betroffenen noch größer werden und nagt nachhaltig an ihrem Selbstbewusstsein. Seriöse Therapie erkennt man daran, dass sie Heilung verspricht, über eine ausreichende Dauer verfügt, Wert auf den Transfer des Erlernten in den Alltag des Patienten legt, über einen längeren Zeitraum Nachsorge anbietet und ein Programm für Rückfälle vorsieht. Gute Angebote werden außerdem von der Krankenkasse unterstützt.
Tun und lassen
Das soziale Umfeld – vom Arbeitskollegen bis zum Zahnarzt – kann erheblich dazu beitragen, stotternden Menschen den Umgang mit ihrer Sprechstörung zu erleichtern. Ein paar einfache Verhaltensregeln: „Im Gespräch sollte man einem stotternden Menschen genügend Zeit geben. Schlecht ist zum Beispiel, wenn dein Gegenüber den Moment des Stotterns nicht abwarten kann oder, noch schlimmer, deine Sätze ergänzt. Das ist sehr beleidigend“, erklärt Stefan Hummes-Fabianek.
Kindern fällt es besonders schwer, wenn Eltern und Lehrer ungeduldig auf ihre Sprechunflüssigkeiten reagieren oder sie sogar ermahnen, sich mehr anzustrengen. Um das Selbstbewusstsein der Kids nicht zu belasten, empfiehlt die BVSS tröstende Reaktionen wie: „Das war jetzt anstrengend, nicht?“ oder „Da hat dein Mund gerade nicht gemacht, was du wolltest.“ Einen Grund, das Stottern zu tabuisieren, gebe es nicht. Das Thema zu verschweigen, führe nur zu Gefühlen der Scham und Unsicherheit. Lieber sollten Eltern offen mit Kindern über deren Unflüssigkeiten reden.
Ein weiterer Punkt: Gegen Klischees vorgehen – auch im eigenen Kopf. „Aufgrund der Sprachstörung entsteht oft der Eindruck, dass Stotterer weniger intelligent sind. Das trifft natürlich nicht zu. Stotternde Menschen sind genauso intelligent wie andere, aber es ist schwieriger für sie, sich zu beweisen und für ihre Leistung belohnt zu werden“, sagt Hummes-Fabianek. Auch dass die Trottel in Filmen klassischerweise stottern, hat das nachteilige Bild geprägt. Hummes-Fabianek, der für die BVSS Öffentlichkeitsarbeit an Schulen macht, kann so zum Beispiel folgende Episode erzählen: „Sagte eine Schülerin zu mir: ’Wie Sie habe ich mir einen Stotterer nicht vorgestellt.’ Kein Wunder, das Klischee eines stotternden Menschen sieht wie folgt aus: Schlechte Klamotten, schreckliche Frisur und überhaupt total unmodern und weltfremd. Mit diesem Stereotyp müssen Stotternde brechen, indem sie aus sich herausgehen und das Bild gerade rücken.“
Susanne TheisenFreie Journalistin in KölnSusanneTheisen@gmx.net