Gastkommentar

Rationierung ist unvermeidbar

Trotz der Finanzprobleme weigert sich die Politik bislang, über Rationierung zu sprechen. Doch für die Versicherten wären klare Regeln besser als die heutige Praxis. Dr. Dorothea Siems Politikkorrespondentin der Welt, Berlin

Die Ärzte haben die Debatte angestoßen. Die Krankenkassen steigen bereits vorsichtig darauf ein. Nur die Politik will das R-Wort nicht hören: Rationierung. Ihre Verweigerung wird den Gesundheitspolitikern nichts nutzen. Zu offensichtlich ist, dass angesichts der Überalterung der Gesellschaft das Versprechen, alles für alle zu zahlen, unhaltbar ist. Die Wirtschaftskrise verschärft die Finanzprobleme der GKV zusätzlich, weil die Beitragseinnahmen wegbrechen. Und die Staatsverschuldung macht die Hoffnung zunichte, dass sich die Unterfinanzierung des Gesundheitsfonds mit immer größeren Steuerzuschüssen korrigieren lässt.

Der Präsident der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe hatte im Mai eine „Priorisierung“ gefordert: Die GKVen sollten nur noch Behandlungen erstatten, die dringend, wichtig und kosteneffizient seien. Für alles andere sollte der Patient selbst aufkommen. Ein mit Patientenvertretern, Gesundheitsökonomen, Ärzten, Ethikern und anderen Gruppen besetzter Gesundheitsrat sollte der Politik beratend zur Seite stehen.

Während Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt den Vorstoß als „menschenverachtend“ geißelte, haben die Kassen die Notwendigkeit erkannt, sich dem Problem zu stellen. Rationierung medizinischer Leistungen ist längst Realität. Wenn Kassenpatienten länger auf einen Termin beim niedergelassenen Arzt warten müssen als privat Versicherte, ist das Rationierung. Gleiches gilt für die seit Jahren betriebene Ausdünnung des Rettungsdienstes, die zur Folge hat, dass man in dünn besiedelten Gegenden heute im Notfall oft länger auf einen Krankenwagen wartet als vor einem Jahrzehnt. Auch gibt es bei Krankheiten wie Alzheimer neuartige Medikamente, die Mitgliedern von AOK, Barmer und Co. nicht verschrieben werden, weil sie zu teuer sind. Und in einer Umfrage unter Intensivstationen sagten zwei Drittel der Befragten aus, dass es bei ihnen schon Rationierungen gebe.

Angesichts dieser schleichenden Verknappung medizinischer Leistungen forderte der GKV-Spitzenverband im Juni eine „krankheitsübergreifende Kosten-Nutzen-Analyse“. Dieser Vorschlag ist im Kern nichts anderes als die von Hoppe ins Spiel gebrachte „Priorisierung“ – nur unter anderem Namen. Um das Kassensystem langfristig finanzierbar zu halten, sollte nach Ansicht des Spitzenverbandes überlegt werden, wie das knappe Geld am Sinnvollsten eingesetzt werden kann. Damit auch in Zukunft genug Mittel vorhanden sind, um schwere Krankheiten therapieren zu können, sollten beispielsweise hochwirksame Medikamente zur Behandlung kleiner Wehwehchen wie etwa Fußpilz ganz aus dem Leistungskatalog der Kassen gestrichen werden.

Anders als die Ministerin räumen die Kassen ein, dass schon heute „Priorisierung“ stattfindet, schließlich entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss regelmäßig darüber, welche Leistungen zu Lasten der Kassen verordnet werden dürfen und welche als Privatsache gelten. Die Politik hat indes nicht nur mit der stetigen Kostendämpfung die schleichende Rationierung befördert, sondern auch immer wieder selbst ganze Kostenblöcke gestrichen. So wurden etwa rezeptfreie Arzneimittel und Brillen im Zuge früherer Gesundheitsreformen aus dem Leistungskatalog gestrichen.

Die Frage ist also nicht, ob rationiert werden soll, sondern lediglich, wie die Entscheidungen getroffen werden und ob die Versicherten Einfluss auf die Sparmaßnahmen haben. Bislang laufen die Prozesse meist in einer Grauzone ab. Ärzte und andere Leistungserbringer müssen oft vor Ort Entscheidungen treffen, welche Therapien und Medikamente angesichts knapper Pauschalen und Budgets sinnvoll, notwendig und gleichzeitig auch wirtschaftlich vertretbar sind. Transparente Regeln gibt es nicht – weil die Politik es bisher ablehnt, über Rationierung zu sprechen. Doch für die Versicherten wären klare Regeln allemal besser als das jetzt praktizierte Lotteriespiel.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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