Nachwuchssorgen
Im vergangenen Frühjahr startete das Land Brandenburg mit einem bundesweit einmaligen Projekt. Zwanzig russischstämmige Ärzte wurden innerhalb von zehn Monaten auf ihre neuen Arbeitsstellen in deutschen Kliniken und Praxen vorbereitet. Für das Modellprojekt stellten das Land Brandenburg und die Europäische Union (EU) 150 000 Euro zur Verfügung. Noch einmal so viel kam über das Arbeitslosengeld II zusammen. Sinn der Maßnahme war es, dem eklatanten Ärztemangel in Brandenburg entgegenzuwirken.
Das ostdeutsche Bundesland ist bei weitem nicht das einzige Land, das versucht, seine Versorgungslücken mit Personal aus dem Ausland zu füllen. Zahlreiche Regionen in Europa leiden unter einem zunehmenden Fachkräftemangel im Gesundheitswesen und setzen auf den Mobilitätswillen der Angehörigen von Gesundheitsberufen aus anderen europäischen Ländern sowie aus Drittstaaten, um der drohenden Unterversorgung zu begegnen.
In Großbritannien beispielsweise stammt bereits rund ein Drittel der Ärzte aus anderen Staaten, in Norwegen sind es 16 Prozent. Beim Pflegepersonal übersteige die Zahl der neu zugelassenen Kräfte aus dem Ausland sogar die des britischen Fachpersonals, sagt Stephan von Bandemer vom Institut für Arbeit und Technik (IAT) der Fachhochschule Gelsenkirchen.
Zunehmende Überalterung
Grund für den Mangel sind zum einen unattraktive Arbeitsbedingungen in einigen Regionen Europas, aber auch die zunehmende Überalterung der Fachkräfte im Gesundheitswesen. Die Zahl der Ärzte im Alter von unter 45 Jahren sank nach Angaben der Europäischen Kommission zwischen 1995 und 2000 europaweit um 20 Prozent, während die Zahl der über 45-Jährigen um mehr als 50 Prozent zugenommen hat. Auch die Krankenpflege leidet unter Nachwuchsproblemen. In fünf Mitgliedstaaten sei nahezu die Hälfte des Krankenpflegepersonals über 45 Jahre alt, so die Kommission in einem Mitte Dezember letzten Jahres veröffentlichten Diskussionspapier.
Mehr Frauen
Hinzu komme, dass der Anteil der Frauen an den Gesundheitsberufen stetig zunimmt, was eine bessere Vereinbarkeit von Berufsund Privatleben erforderlich mache. Drei Viertel der Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in der EU sind Frauen; in einigen Ländern beträgt die Quote der Studienanfängerinnen im Fach Medizin schon über 50 Prozent, berichtet die Brüsseler Behörde. Dieser Trend ist auch in der Zahnmedizin spürbar. So ist der Frauenanteil im zahnmedizinischen Grundstudium innerhalb der EU und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einschließlich Kroatien zwischen 2003 und 2008 von 52 auf 60 Prozent gestiegen, teilt die Europäische Zahnärztevereinigung CED (Council of European Dentists) mit.
Internationale Fachleute fürchten indessen, dass sich der Arbeitskräftemangel in der gesundheitlichen Versorgung durch die weltweite Wirtschaftskrise verstärken könnte. „Die Regierungen dürfen jetzt nicht den Fehler machen, im Gesundheitswesen zu sparen, sondern sollten gezielt in Arbeitsplätze in diesem Bereich investieren“, fordert Francois Decaillet von der WHONiederlassung bei der EU.
Das „Grünbuch über Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in Europa“, wie das Diskussionspapier der EU-Kommission offiziell heißt, soll die EU-Mitgliedstaaten und die gesundheitspolitisch Verantwortlichen in den Ländern dazu anregen, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, wie mit diesen Herausforderungen umgegangen werden kann.
Genaue Daten fehlen
Zahlreiche Interessenvertretungen, darunter die Bundeszahnärztekammer (BZÄK), die Bundesärztekammer (BÄK), der Ständige Ausschuss der europäischen Ärzte CPME, der Marburger Bund (MB) und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), haben sich bereits in die Diskussion eingeschaltet. Dabei zeichnet sich zweierlei ab: Bislang fehlen Daten, die genauen Aufschluss über die Wanderungsbewegungen von medizinischem und pflegerischem Fachpersonal sowie über die Motive für einen Wechsel ins Ausland geben, wenngleich davon auszugehen ist, dass die meisten Fachkräfte ihre Heimat aus wirtschaftlichen Erwägungen verlassen.
Auch scheint es keinen Königsweg zur Lösung des Problems zu geben. Einig sind sich die Fachleute lediglich darin, dass der alleinige Abzug von Personal aus anderen Ländern unethisch wäre, da er zur Unterversorgung in den Heimatregionen beiträgt. Rechtliche Einschränkungen der Freizügigkeit lehnen die Fachleute ebenfalls ab.
Nutzen verspricht sich beispielsweise die BÄK davon, in eine Erhöhung der Studienund Ausbildungsplätze zu investieren. Begrüßt wird auch eine längere Integration von älteren Erwerbstätigen in den Arbeitsmarkt. Ferner sollten europäische Fördergelder stärker zur nachhaltigen Qualifizierung und zum Erhalt von Arbeitsplätzen im Gesundheitswesen insbesondere in strukturschwachen Regionen eingesetzt werden, lautet eine weitere Forderung.
Besondere Stellung der Zahnärzte
Der CED macht zugleich deutlich, dass keine „allgemeingültigen Lösungen“ für alle Gesundheitsberufe gefunden werden können und verweist auf die besondere Stellung der Zahnärzte in Europa, die ihren Beruf zu 90 Prozent selbstständig in eigener Praxis ausübten. Auch geben der CED und der MB bilateralen Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten zur Nutzung etwaiger Überschüsse an Ärzten und Krankenpflegepersonal den Vorzug vor EU-weiten Konzepten.
Als weitere sinnvolle Option wird die sogenannte zirkuläre Migration von Arbeitskräften im Gesundheitswesen genannt, die es ausländischen Fachkräften ermöglicht, nach einer gewissen Zeit wieder in ihre Heimat zurückzukehren. „Ausländisches Gesundheitspersonal, das in der Bundesrepublik ausgebildet wurde, trägt nach der Rückkehr nicht nur zu einer Verbesserung der Versorgung in den Heimatländern bei, sondern bildet ein wichtiges Netzwerk, auf das Internationalisierungsstrategien aufbauen können“, so von Bandemer.
Dabei müsse das Rad nicht unbedingt neu erfunden werden, mahnt die DKG. Mit den EU-Programmen Erasmus, Leonardo und Sokrates stünden bereits sinnvolle Ansätze zur Förderung der Aus-, Weiterund Fortbildung zur Verfügung, die sich auch auf die Gesundheitssysteme anwenden ließen.
Der Krankenhausbereich macht zudem vor, wie sich auf freiwilliger Basis die Zusammenarbeit und der gegenseitige Austausch von Personal auf europäischer Ebene fördern lassen. Seit 1981 ermöglicht ein Austauschprogramm der Europäischen Krankenhausvereinigung Hope Krankenhausmitarbeitern aus der EU und der Schweiz eine vierwöchige Hospitation in einem Gastkrankenhaus im Ausland. Derartige Modelle sollten die Unterstützung der Europäischen Union erfahren, fordert die DKG.
Petra SpielbergChristian-Gau-Straße 2450933 Köln