Altersschwäche
Einem alten, aber zutreffenden Diktum zufolge ist nichts so schwierig wie eine Prognose, besonders wenn sie die Zukunft betrifft. Insofern hat sich der Kieler Gesundheitsökonom Fritz Beske weit hervorgewagt mit seiner „Morbiditätsprognose 2050“. Denn wer weiß heute schon, was in 40 Jahren sein wird? Die Statistiker, würde Beske antworten. Tatsächlich wissen die Bevölkerungswissenschaftler ziemlich genau, wie die Bevölkerungsstruktur in 40 Jahren aussieht. Die Alten von morgen, das sind nämlich wir – auch keine wirklich neue Erkenntnis. Aber wer weiß schon, dass sich die Zahl der über 80-Jährigen im Jahre 2050 gegenüber 2007 um 6,1 Millionen auf zehn Millionen vergrößern wird?
Noch weniger bekannt ist, wie sich die Altersstruktur auf die Gesundheit der Menschen auswirkt und welche Folgen das auf die Sozialsysteme haben wird. Beske versucht das herauszudestillieren, indem er das Erkrankungsrisiko bis zum Jahr 2050 für 22 Krankheiten hochrechnet. Die Ergebnisse sind erschütternd. Die Zahl der Patienten mit multiplen Beschwerden wird wachsen, die mit schweren Krankheiten und entsprechend hohen Behandlungs- und Pflegekosten in die Höhe schießen, die der Dementen sich verdoppeln. Bei der altersbedingten Makuladegeneration wird die Zahl der Fälle um 900 000 auf 1,6 Millionen steigen, beim Diabetes mellitus um ein Fünftel auf 7,8 Millionen. Die Zahl der Herzinfarkte wird um 75 Prozent im Jahr zunehmen, die der Schlaganfälle um annähernd zwei Drittel.
Die Prognose hat Folgen für die medizinische und pflegerische Betreuung. In einer kleiner werdenden Bevölkerung könnten Ärzte und Pfleger knapp werden. Während die nachwachsende Generation um 35 Prozent schrumpft, steigt die Zahl der nicht mehr Erwerbsfähigen um 38 Prozent, die der Hochbetagten bis 2050 sogar um 156 Prozent. Das hat Auswirkungen nicht nur auf die Arbeitskräfte, sondern in einem Umlage-System auch auf die Finanzierung.
Beskes These von der Personalknappheit wird durch neue Zahlen der Bundesärztekammer erhärtet. Demnach werden schon bis zum Jahr 2017 an die 76 000 Ärzte altersbedingt ausscheiden. Ob adäquater Ersatz gefunden wird, scheint heute ungewiss. Der Arztberuf sei zu wenig attraktiv und zu bürokratiebeladen, sagt der Präsident der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe. Schon seien 4 000 Stellen an Krankenhäusern unbesetzt. Dabei wächst die Zahl der berufstätigen Mediziner Jahr um Jahr, zuletzt um 1,5 Prozent auf knapp 320 000.
Vielleicht kommt es doch weniger schlimm, als die Hochrechnungen auf heutiger Basis nahelegen: Menschen ändern sich, Lebensstile wandeln sich. Welche Erfolge Prävention haben kann, haben die Zahnärzte bei der Karies-Bekämpfung eindrucksvoll bewiesen. Aber sie wissen auch, dass das der Parodontose herzlich egal ist. Dennoch gilt: Medizinischer Fortschritt hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur Leben verlängert, sondern auch geholfen, Krankheiten zu heilen oder ihren Ausbruch hinauszuzögern. Forschung und Prävention sind Variablen, die die Rechnung zu unseren Gunsten beeinflussen könnten. Hinzu kommt: Wenn das Land mehr Ärzte benötigt, sollte der Zugang zum Studium weniger reglementiert werden. Dass die Bundesärztekammer die Zahl der Plätze nicht ausweiten will spricht eher dafür, dass sie den Markt für Ärzte aus ökonomischen Gründen „eng“ halten will.
Darüber hinaus spricht viel für Beskes Einschätzung, dass Steuerzuschüsse für die Krankenversicherung angesichts riesiger Haushaltdefizite und Verschuldungsverbote im Grundgesetz die Geldknappheit nur vorübergehend lindern werden. Wachsenden Bedürfnissen und steigender Nachfrage stehen begrenzte Mittel gegenüber. Aber noch hat die Politik nicht den Mut gefunden, jenseits der verdeckten Rationierung von Leistungen offen über die Altersschwäche des Systems zu diskutieren. Die Zeit drängt. Die Baby-Boomer gehen ab 2020 in Rente. Es sage niemand, er habe es nicht gewusst.
Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.