Neonatologie

Eine Handvoll Mensch

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Noch vor hundert Jahren hatten Frühgeborene kaum Überlebenschancen. Das hat sich grundlegend geändert. Hier ein aktueller und nicht unkritischer Bericht, der die derzeitige Situation und Möglichkeiten schildert. Er wird von einem zahnärztlichen Kommentar ergänzt.

Von hektischer Betriebsamkeit ist im Perinatalzentrum Datteln nichts zu spüren. Mehrere der dort liegenden Frühgeborenen schlafen. Gebadet und gewogen werden die Kinder in der Mittagszeit nicht. Jan hat allerdings offenbar großen Hunger. Schnell hat er sein Fläschchen ausgetrunken, und er könnte wohl noch mehr vertragen. Schwestern und Ärzte lächeln. „Bei uns ist es durchaus nicht immer traurig. Wir haben, wie man sieht, auch viel Freude mit den Frühchen“, sagt Chefärztin Priv.-Doz. Dr. med. Claudia Roll.

Nur wenige Mütter sind zurzeit auf der Station. Eine von ihnen ist die Mutter der kleinen Sinem, die sich freut, dass ihr Kind nicht mehr im Inkubator liegen muss. Am liebsten wende sie die sogenannte Känguru-Methode an, berichtet sie. Dabei legt die Mutter oder der Vater das Kind zugedeckt auf die nackte Brust, um ihm Geborgenheit und Wärme zu vermitteln.

Doch dass das Leben der Kinder oft an einem seidenen Faden hängt, wird in Datteln ebenfalls deutlich. In einem Inkubator liegt ein vor einem halben Tag geborener, noch namenloser Junge mit einem Gewicht von 615 Gramm. Zum Vergleich: Ein Kind, das termingerecht zur Welt kommt, ist in Deutschland durchschnittlich zirka 3 400 Gramm schwer. Oberarzt Dr. Friedemann Hornschuh steht ständig neben dem Frühgeborenen, um die Beatmungstherapie zu optimieren. Große Hoffnungen, dass das Kind durchkommt, hat er allerdings ebenso wenig wie Roll. Kinder, die wie dieses Frühchen mit 23 Wochen zur Welt kämen, hätten generell schlechte Chancen. „Ich schätze, dass das Kind eine Überlebenschance von 30 bis 50 Prozent hat“, erklärt Hornschuh.

Glücklicherweise lägen die Frühgeborenen-Intensivstation der Abteilung für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln und der Kreißsaal der Abteilung für Geburtshilfe des St.-Vincenz-Krankenhauses Datteln direkt „Tür an Tür“ und bildeten so das Perinatalzentrum. Auf diese Weise müssten die Kinder nicht transportiert werden und könnten in der Nähe der Mutter bleiben, erläutert Roll. Das Perinatalzentrum gehört seit seiner Inbetriebnahme im Jahr 1991 zu den größten des Landes Nordrhein-Westfalen. Dort werden alle sehr kleinen Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1 500 Gramm sowie weitere Risikoneugeborene betreut.

Ältere Frühgeborene, die mit ihren Eltern auf die Entlassung vorbereitet werden, und reife kranke Neugeborene, die, weil Probleme vor der Geburt nicht vorhersehbar waren, in Geburtskliniken ohne Kinderklinik zur Welt kamen, werden auf den Stationen „Seepferdchen“ und „Delfin“ in der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln behandelt. Beide Stationen gehören wie die Intensivstation im Perinatalzentrum zur Abteilung für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin. Ein Team aus 18 Ärzten und ein den Aufgaben entsprechend großes Team von Kinderkrankenschwestern betreuen im Schichtdienst jährlich zirka 800 kleine Patienten. Auch außerhalb der Patientenzimmer können Ärzte und Pflegepersonal über Monitore ständig den Gesundheitszustand der Kinder überwachen. Doch es geht nicht nur um die medizinische und pflegerische Betreuung, die Eltern erhalten bereits auf der Intensivstation auch eine psychologische Begleitung.

Erstes Frühchenheim 1908 gegründet

Dass Neu- und Frühgeborene auf derart hohem Niveau behandelt und betreut werden können, hätte man sich wohl lange nicht träumen lassen. Denn die Disziplin der Neonatologie ist gerade einmal hundert Jahre alt. Im April 1908 wurde unter der Leitung des Kinderarztes Jakob Bernheim im Haus Rosenberg in Zürich das wahrscheinlich erste staatliche Säuglingsheim seiner Art in Europa eröffnet. Dort wurden Neugeborene betreut, von denen jedes 20. die ersten 28 Tage nicht überlebte.

Geleitet wurde das Heim damals von einem Arzt im Nebenamt, der von sechs Pflegekräften unterstützt wurde. Fachspezifische Kenntnisse gab es kaum. Die Babys wurden in der Villa Rosenberg isoliert. „Nur wer das Frühgeborene pflegen und behandeln muss, hat Zutritt zu der Frühgeborenen-Abteilung“, schrieb der damalige Chefarzt Heinrich Willi in einem Zeitungsbericht, der vor 50 Jahren in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen ist. „Besuche, selbst die der Eltern, sind nur bis zur verglasten Abteilungstür erlaubt“, [2, 3].

Heute Rooming-In

Heute ist eine solche Trennung von Frühgeborenen und Eltern immer seltener. In Datteln können die Eltern entweder bei ihren Kindern oder in Elternzimmern übernachten. Dennoch sei das immer noch keine Selbstverständlichkeit, stellt Silke Mader, erste Vorsitzende des Bundesverbandes „Das frühgeborene Kind“ fest: „In vielen Kliniken dürfen Eltern immer noch nur zu bestimmten Zeiten ihr Kind besuchen.“ Auch der erste Vorsitzende der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin, Prof. Dr. med. Christian Poets, Universitätsklinikum Tübingen, sieht noch Verbesserungsbedarf. „In unserer Klinik gibt es aber inzwischen bereits 13 Zimmer für die Mütter.“

Eltern sollen mitarbeiten

Die Einbeziehung der Eltern ist nur einer von mehreren Meilensteinen in der Entwicklung der Neonatologie. So begann nach Angaben der Stiftung Kindergesundheit ab 1970 der Aufbau von neonatalogischen Intensivstationen in Deutschland. Außerdem wurden Risikoambulanzen eingerichtet. Ab 1980 praktizierten Neonatologen die konsequente Beatmung von Frühchen unter 1 500 Gramm.

Mitte der 80er-Jahre setzten die Geburtshelfer vermehrt pränatal Steroide (Betamethason) zur Beschleunigung der Lungenreife ein, kurze Zeit später kam die neonatologische Behandlung des Atemnotsyndroms durch Surfactant hinzu. Außerdem wurden die ersten Perinatalzentren eingerichtet.

Als Untersuchungsmaßnahme kam seit zirka 1998 die Magnetresonanztomografie zum Einsatz. Die Überlebensrate bei Babys unter 1 500 Gramm liegt bei 84 Prozent in Deutschland. Die Sterblichkeit von Frühgeborenen unter 1 000 Gramm Geburtsgewicht liegt bei 32 Prozent. Von den Kindern mit einem Geburtsgewicht von unter 1 000 Gramm überlebte 1973 in der damaligen Bundesrepublik kein einziges das erste Lebensjahr.

Schallgrenze: 24 Wochen

Die statistische Grenze zwischen Leben und Tod hat sich inzwischen der Stiftung Kindergesundheit zufolge bei einer Schwangerschaftsdauer von 24 Wochen und einem Geburtsgewicht von zirka 650 Gramm eingependelt. Von da an überleben 50 Prozent der extrem kleinen Frühchen.

Doch schon seit ihrem Beginn stand die Neonatologie in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld. „Schon oft ist die Frage gestellt worden, ob sich die viele Mühe und die hohen Kosten für die Erhaltung der Frühgeborenen lohnten“, führte Willi in seinem Artikel aus. Er beantwortete die Frage mit Ja – denn „ein Frühgeborenes gesunder Eltern, das die Schwangerschaft und die Geburt ohne Schaden überstanden hat, hat ebenso gute Lebensaussichten wie ein ausgetragenes Neugeborenes“. Diese optimistische Aussage ist für extrem unreife Frühgeborene, die zu Willis Zeiten praktisch nie überlebt hätten, nicht zutreffend – Bewegungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und Schulprobleme sind auch bei Frühgeborenen häufig, bei denen medizinisch alles „glattgegangen“ ist. Und je unreifer ein solches Frühgeborenes ist, desto häufiger kommen Komplikationen hinzu – Hirnblutungen, nekrotisierende Enterokolitis, bronchopulmonale Dysplasie und die Frühgeborenen-Retinopathie. Irgendwo stellt sich dann die ethische Frage, ob extrem Frühgeborene mit intensivmedizinischen Maßnahmen am Leben erhalten werden sollen und wo eine sinnvolle Grenze zu setzen ist. Eine Frage, mit der sich auch Roll intensiv, und wie sie versichert „immer wieder und von Fall zu Fall erneut“, auseinandersetzt.

In Deutschland haben sich mehrere Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin und Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin) in einer gemeinsamen, vor Kurzem aktualisierten Empfehlung dafür ausgesprochen, bei Frühgeborenen ab 24 Schwangerschaftswochen grundsätzlich zu versuchen, das Leben zu erhalten. Bei Frühgeborenen ab 22 Schwangerschaftswochen habe „die Entscheidung über eine lebenserhaltende oder eine palliative Therapie in jedem Einzelfall den eingangs dargelegten ethischen und rechtlichen Grundsätzen zu entsprechen und sollte im Konsens mit den Eltern getroffen werden“.

Doch warum gelten in Deutschland niedrigere Grenzen als in anderen Ländern? Weltweit habe man dies sonst in keinem anderen Land so gehandhabt, schrieb Roll in einem Kommentar zu der Neuauflage der Empfehlungen (siehe Grafik). Die erste Leitlinie zur Behandlung extrem unreifer Frühgeborener wurde im Namen der gemeinsamen wissenschaftlichen Fachgesellschaften der deutschsprachigen Länder im Jahr 1998 veröffentlicht.

Im Jahr 2000 verfassten die Schweizer Neonatologen jedoch eigene Empfehlungen, im Jahr 2005 folgten die österreichischen Ärzte. In Österreich ist die Grauzone ebenfalls bis in den Bereich von 22 Schwangerschaftswochen vorverlegt worden. Dort hätten sich, so Roll, die Geburtshelfer aber gegen ein aktives Vorgehen vor 24 Schwangerschaftswochen ausgesprochen [7]. In der Schweizer Richtlinie, die kein aktives Vorgehen unter 24 Wochen empfiehlt, heißt es, es solle auch die Aussicht des Kindes auf eine „akzeptable Lebensqualität“ berücksichtigt werden sowie die Frage, ob „die derzeit notwendigen Therapien zumutbar“ seien. Gewarnt wird vor „Übertherapie“ [8]. Die deutsche Leitlinie stellt dagegen fest: „Wenn für das Kind die Chance zum Leben besteht, sollen lebenserhaltende Maßnahmen ergriffen werden.“

„Ist die Einstellung zu Sterben und Leiden, zu möglicher oder wahrscheinlicher Behinderung hier anders? Oder sind die Behandlungsergebnisse besser?“, fragte Roll in ihrem Kommentar. Man wisse in Deutschland weder, wie viele Frühgeborene mit einem Gestationsalter von 22 oder 23 Wochen tot geboren werden und wie viele lebend geboren, aber nicht intensivmedizinisch behandelt werden, noch habe man populationsbezogene Informationen über die Langzeitprognose von Frühgeborenen an der Grenze der Überlebensfähigkeit.

Die deutsche Leitlinie geht jedoch von der Annahme aus, „dass bei Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit eine individuelle Prognose unmittelbar nach der Geburt aufgrund der perinatalen Anamnese und des klinischen Zustands so unzuverlässig ist, dass sie nicht Grundlage einer Entscheidung gegen die Lebenshilfe sein kann, außer bei Gesundheitsstörungen, die mit dem Leben nicht vereinbar sind“. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wolle man sich nicht dem Vorwurf aussetzen lassen, „leichtfertig Leben wegzuwerfen“, sagt Poets gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.

Individuelle Prognose

Die Einschätzung, ob für das Kind die Chance zum Leben besteht, ist dabei, so die Leitlinie, ärztliche Aufgabe. „Ausnahmen von diesem Grundsatz können geboten sein, wenn eindeutige Gesundheitsstörungen bekannt sind, die nicht mit einem längeren Leben vereinbar sind. Auch bei Frühgeborenen mit extremer Unreife müssen nicht in jedem Fall lebenserhaltende Maßnahmen ergriffen werden, weil der Ausgang des Behandlungsversuchs umso ungewisser ist, je unreifer das Kind ist.“

Der Rechtsphilosoph Prof. Dr. jur. Reinhard Merkel, Universität Hamburg, plädiert ebenfalls dafür, nach einer „individuellen Prognose“ vorzugehen. Danach sollte seiner Ansicht nach zunächst geklärt werden, ob sich ohne erhebliche Zusatzbelastungen des Kindes das (konkrete einzelne) Leben erhalten lässt. Dabei sollte der erreichte Stand an Einsicht ständig (täglich) evaluiert werden, und man müsse gegebenenfalls bereit sein, die Behandlung mit tödlicher Folge sofort einzustellen, wenn die Abwägung – unter absolut primärer Berücksichtigung der Interessen des Kindes – irgendwann contra vitam ausfalle.

Die Grenzen der Grauzonen wurden nach „einem langen Ringen“ gegenüber der ersten Version der Leitlinien nicht geändert, wohl aber der Tenor. Während 1998 noch betont wurde, dass Ärzte als Garanten des Kindes den rechtlichen und ethischen Geboten zur Lebenserhaltung zu folgen und gegebenenfalls auch gegen den Willen der Eltern zu handeln hätten, wird der Elternwille in der neuen Leitlinie gleich mehrfach betont. „Eltern haben das Recht, medizinischen Maßnahmen bei ihrem Kind zuzustimmen oder sie abzulehnen. Damit die Eltern dem Wohlergehen des Kindes entsprechen und verantwortungsvoll handeln können, müssen sie von ärztlicher Seite umfassend aufgeklärt werden“, heißt es in der Leitlinie.

Doch auch, wenn es schon schwer genug sei, den Wunsch der Eltern zu eruieren, „so fällt es uns oft noch schwerer, ihn zu respektieren“, so Roll in ihrem Kommentar. In der Leitlinie werde betont, dass nicht die Aussicht auf eine Behinderung des Kindes den Therapieverzicht rechtfertigen dürfe – nicht vertretbares Leiden oder der drohende Tod würden als Begründungen jedoch hingenommen. „Aber sind wir da ehrlich zu uns?“, fragt Roll. „Diejenigen von uns, die ein Frühgeborenes an der Grenze der Lebensfähigkeit im Kreißsaal nicht immer aktiv versorgen, und auch diejenigen, die nach einem Therapieversuch diesen wieder abbrechen – sie tun dies vielleicht auch wegen des Leidens des Kindes, aber primär doch wegen der drohenden Aussicht auf eine schwere Behinderung.“

Dass Frühgeborenen generell ein geringeres Lebensrecht zugeschrieben wird, davon gehen sowohl Roll als auch Poets aus. So wurde in Kanada in acht fiktiven Fällen Medizinstudierenden und Ärzten die Frage gestellt: „Denken Sie, dass Intubation, Reanimation und Behandlung auf der Intensivstation im besten Interesse des Patienten sind?“ Die meisten der Befragten hielten Reanimation und Therapie auf einer Intensivstation bei einem zweimonatigen und siebenjährigen Kind (97 beziehungsweise 94 Prozent) für im besten Interesse des Patienten, gefolgt von einem 50-jährigen Patienten und einem reifen Neugeborenen (jeweils 87 Prozent) und zwei Patienten mit einer fünfprozentigen Überlebenschance (76 und 80 Prozent). Bei dem Frühgeborenen waren es dagegen lediglich 69 Prozent, die sich für die Reanimation aussprachen. [9] „Bei extrem unreifen Frühgeborenen besteht eine höhere Nulloptionsbereitschaft als bei anderen Patienten“, resümiert Roll. Das wirkt sich letztendlich auch auf die mangelnde Nachsorge der Kinder aus. Familien von Frühchen, die vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren wurden und so besonders gefährdet für Entwicklungsstörungen seien, müssten nach einer vor Kurzem veröffentlichten Studie der European Foundation for the Care of Newborn Infants mit einer Gesamtbelastung von 6 613 Euro bis zu deren fünftem Geburtstag rechnen. „Viele denken: kleine Kinder, kleine Kosten. Aber dem ist nicht so“, mahnt der Innsbrucker Neonatologe Dr. Matthias Keller.

Gisela KlinkhammerHauptstraße 5250859 Köln

Die Leitlinie „Frühgeburt an der Grenze zur Lebensfähigkeit“ im Internet:www.aerzteblatt.de/plus3708.

Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus dem Dtsch Arztebl 2008; 105(37): A-1880 / B-1619 / C-1583 übernommen.

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