Das Recht auf Nichtwissen
Nach jahrelangen Debatten hat die Bundesregierung mit dem Gendiagnostikgesetz nun einen klaren rechtlichen Rahmen für genetische Untersuchungen geschaffen. Bereits 2002 hatte die Enquête-Kommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ ein Gendiagnostikgesetz empfohlen, zwei Gesetzesvorlagen wurden 2005 und 2007 verworfen. Das jetzt von der Großen Koalition vorgelegte Gesetz setzt künftig hohe Hürden für Gentests. Es soll noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten.
Klärung überfällig
Die gesetzliche Klärung des Themas galt als unabdingbar, denn die Gen-Daten sind hoch brisant. Im Erbgut verbergen sich Risiken für spätere Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder bestimmte Augenkrankheiten. Die Gene, so die Befürchtung, könnten Versicherungen oder Firmen verraten, wie lange ein Kunde oder Mitarbeiter arbeitsfähig ist – und welche Kosten entstehen, wenn er krank wird.
Das Gesetz macht nun die Anforderungen an eine gute genetische Untersuchungspraxis verbindlich. Ziel des Gesetzes ist es, die mit der Untersuchung eines Gentests verbundenen Gefahren einer genetischen Diskriminierung zu verhindern, heißt es im Gesetzentwurf. Niemand solle wegen seiner genetischen Eigenschaften, wegen der Vornahme oder Nichtvornahme einer genetischen Analyse oder wegen des Ergebnisses einer solchen Analyse benachteiligt werden. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und der Schutz vor Diskriminierung stehen deshalb im Mittelpunkt des Gesetzes. Genetische Untersuchungen dürfen künftig nur durchgeführt werden, wenn die Betroffenen in die Untersuchung rechtswirksam eingewilligt haben. Jeder Bürger soll das Recht haben, den eigenen genetischen Befund zu kennen (Recht auf Wissen) oder diesen bewusst nicht zur Kenntnis zu nehmen (Recht auf Nichtwissen). Allein der Betroffene bestimmt über Weitergabe, Aufbewahrung oder Vernichtung seiner genetischen Daten und Proben.
Gentests auf Verlangen des Arbeitgebers werden verboten. Auch Versicherungsunternehmen dürfen beim Abschluss eines Versicherungsvertrags weder eine genetische Untersuchung noch Auskünfte über bereits durchgeführte Untersuchungen verlangen.
Ausnahmen
Ausnahmen soll es nur für Lebens-, Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen ab 300 000 Euro Versicherungssumme oder mehr als 30 000 Euro Jahresrente geben – hier dürfen die Versicherer die Preisgabe bereits vorliegender Tests verlangen. Standarduntersuchungen, mit denen die gesundheitliche Eignung für bestimmte Arbeiten – zum Beispiel als Busfahrer, Elektriker oder in der Chemieindustrie – festgestellt wird, bleiben hingegen weiterhin erlaubt.
Heimliche Vaterschaftstests sollen künftig verboten und mit bis zu 5 000 Euro bestraft werden können. Um vorgeburtliche, prädiktive Gentests hatte es in der großen Koalition bis zuletzt Streit gegeben. Die Tests sind umstritten, da sie zwar Auskunft über ein erhöhtes Risiko geben, beispielsweise an Brust- oder Prostatakrebs zu erkranken, aber nichts darüber aussagen, ob die Krankheit auch wirklich ausbricht. Die Union setzte im Verlauf der Verhandlungen durch, dass solche Tests auf Krankheiten, die erst im Erwachsenenalter eventuell auftreten, verboten werden sollen.
Prinzipiell gilt: Babys vor der Geburt dürfen nur aus medizinischen Zwecken getestet werden, etwa zum Ausschluss einer Behinderung – und nicht, weil werdende Eltern Aufschluss über Geschlecht oder künftige Eigenschaften haben wollen. Vorschriften für die Verwendung genetischer Daten für Forschungszwecke enthält der Gesetzentwurf nicht. Dieser Bereich der Gendiagnostik muss also künftig in einem anderen Gesetz geregelt werden.
Nur Ärzte dürfen eine diagnostische genetische Untersuchung vornehmen. Prädiktive genetische Untersuchungen bleiben Fachärzten für Humangenetik oder anderen besonders qualifizierten Ärzten vorbehalten. Das Gesetz sieht darüber hinaus vor, eine Gendiagnostik-Kommission beim Robert Koch-Institut anzusiedeln. Diese soll den allgemein anerkannten Stand von Wissenschaft und Technik in Richtlinien für die in diesem Gesetz relevanten Bereiche festlegen und kontinuierlich die Entwicklungen im Bereich der genetischen Diagnostik beobachten und bewerten.
Positiv bewertet
Die Bundesärztekammer hat den Gesetzentwurf überwiegend positiv bewertet. „Es ist sehr zu begrüßen, dass ein Arztvorbehalt für genetische Untersuchungen vorgesehen ist und auch die Rolle des Facharztes für Humangenetik beziehungsweise des besonders qualifizierten Arztes – insbesondere im Hinblick auf die prädiktive Diagnostik – berücksichtigt wird“, heißt es in der Stellungnahme der Bundesärztekammer vor dem Bundestag.
Das Gesetz stelle entsprechend den Forderungen der Ärzteschaft klar, dass niemand wegen seiner genetischen Eigenschaften diskriminiert werden dürfe. Auch die von der Ärzteschaft geforderte Verankerung eines Rechtes auf Nichtwissen und die Freiwilligkeit der Teilnahme an genetischen Untersuchungen seien positiv zu bewerten. Die Ausnahme genetischer Untersuchungen zu Forschungszwecken vom Anwendungsbereich des Gesetzes wird ebenso positiv aufgenommen.
Auch die Krankenkassen begrüßen den Gesetzentwurf. Der Arztvorbehalt, verbunden mit einer qualifizierten ausführlichen Beratung, werde Patienten in die Lage versetzen, Chancen und Risiken einer Genuntersuchung qualifiziert abwägen zu können, erklärte der GKV-Spitzenverband in der öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags.
Verbraucherschützer hatten hingegen die Ausnahmen für die Versicherungswirtschaft massiv kritisiert. Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) hatte im Vorfeld der Gesetzgebung vergeblich ein vollständiges Verbot von Gentests im Versicherungsbereich gefordert. Die Verbraucherschützer fürchten Nachteile oder gar den kompletten Ausschluss von einer Versicherung, falls ein Gentest Hinweise auf mögliche Krankheiten gibt.
Erwartungsgemäß sehen das die Versicherer anders. Der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft kritisierte, „das im Gesetzentwurf vorgesehene, umfassende Verbot des Verlangens, der Entgegennahme und der Verwendung von Ergebnissen genetischer Untersuchungen gefährdet mittelund langfristig den Umfang und preisliche Attraktivität des Versicherungsangebotes in Deutschland“.
Otmar MüllerNürburgstr. 650937 Köln