Weniger Geld - schlechtere Versorgung
Durch die weltweite Wirtschaftskrise sind negative Folgen auch bei der gesundheitlichen Versorgung der europäischen Bevölkerung zu erwarten. Dies betonten Fachleute aus Medizin, Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung auf dem Europäischen Gesundheitsforum Anfang Oktober in Bad Hofgastein (EGF).
Bislang halten sich die Auswirkungen zwar noch in Grenzen und sind vornehmlich in einkommensschwachen Staaten spürbar. In Lettland beispielsweise gaben 40 Prozent der chronisch Kranken bei einer Umfrage des Europäischen Patientenforums an, dass sich ihre gesundheitliche Situation in den letzten Monaten signifikant verschlechtert habe. Knapp ein Viertel hat aus wirtschaftlichen Gründen auf einen Arztbesuch verzichtet.
In Rumänien wiederum erhalten Kinder mit Leukämie oder anderen Krebserkrankungen keine ausreichende Versorgung mehr, da es an Medikamenten fehlt. Auch werden Gelder für nationale Programme beispielsweise zur Behandlung der Multiplen Sklerose gestrichen.
Nach Meinung der Experten sind solche Auswirkungen derzeit aber nur die Spitze des Eisbergs. Auch in anderen Ländern dürfte sich die Wirtschaftskrise in Form vermehrter Zuzahlungen, höherer Preise für Arzneimittel und andere medizinische Güter, sowie durch eine Zunahme an Infektionskrankheiten und einen eingeschränkten Zugang zu medizinischen und zahnmedizinischen Leistungen bemerkbar machen.
Auswirkungen ab 2010
„Die Krise schlägt im Gesundheitswesen möglicherweise erst ab 2010 richtig zu“, so Armin Fidler, gesundheitspolitischer Chefberater der Weltbank. Grund hierfür sei, dass die sozialen Auswirkungen der Krise, wie steigende Arbeitslosenzahlen und die damit zusammenhängenden Konsequenzen für die Gesundheit der Menschen erst mit Verzögerung deutlich werden. Auch zeige die Erfahrung, dass Ausgaben für die öffentliche Gesundheitsversorgung in wirtschaftlichen Abschwüngen deutlich gekürzt werden und es danach relativ lange dauert, bis diese wieder den alten Stand erreicht haben.
Dass die Krise trotz des sich möglicherweise abzeichnenden Aufschwungs in Ländern wie Deutschland und Frankreich noch längst nicht ausgestanden ist, belegt auch ein Arbeitspapier der EU-Kommission, das die Behörde angesichts eines Treffens der EUFinanzminister Anfang Oktober in Göteborg vorbereitet hat. Dort heißt es laut einem Bericht der Financial Times Deutschland: „Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit mit ihren potenziell lang anhaltenden Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte und auf das Potenzialwachstum könnte die europäischen Sozialmodelle bedrohen, die bereits jetzt unter der Alterung der Bevölkerung leiden.“
Höhere Erkrankungsraten
Rückgänge im Beitragsaufkommen der Krankenkassen sind dabei nur die eine Seite der Medaille. Untersuchungen über frühere Krisen belegen, dass es in wirtschaftlich schlechten Zeiten zu einem vermehrten Alkohol- und Drogenkonsum kommen und die Zahl der psychischen Erkrankungen steigen kann. Dabei ist offensichtlich von entscheidender Bedeutung, wie hoch das Niveau der öffentlichen Gesundheitsversorgung vor der Krise war.
Der Soziologe David Struckler von der Universität Oxford und Autor einer Studie, die sich mit den Gesundheitsfolgen von Wirtschaftskrisen beschäftigt, erläuterte dies am Beispiel der Selbstmordraten in Schweden und Spanien. „In Schweden, wo es relativ hohe Gesundheitsausgaben pro Kopf gibt, ist keinerlei Zusammenhang zwischen Konjunktur und Selbstmordraten feststellbar. In Spanien, dessen öffentliche Gesundheitsversorgung auf einem deutlich niedrigeren Stand ist, schwanken die Sterblichkeitsraten praktisch parallel zur Konjunkturentwicklung.“
Warnung vor Einschnitten
Struckler warnte eindringlich vor radikalen Einschnitten bei den Gesundheits- und Sozialbudgets. Der Glaube, dass man kurzfristig Opfer bringen müsse, um langfristig zu profitieren, sei völlig falsch. „Eine verschlechterte Gesundheitsversorgung behindert durch steigende Krankenstände und sinkende Produktivität nachhaltig eine Erholung der Wirtschaft und ist daher auch rein ökonomisch nicht zu rechtfertigen“, mahnte der Soziologe.
Aus Untersuchungen über zurückliegende Wirtschaftskrisen wisse man zudem, dass zahlreiche Menschen angesichts steigender Preise, Arbeitslosigkeit und einer allgemeinen Verunsicherung über ihre persönliche Zukunft zu einem ungesunden Lebensstil neigen. So griffen viele Verbraucher zu preisgünstigeren Lebensmitteln mit einem höheren Fett- und Zucker-, aber einem niedrigeren Nährstoffgehalt. Auch käme es zu einem vermehrten Bewegungsmangel. Auf dem Forum wurde ebenfalls deutlich, dass vor allem sozial Schwache und Arme, chronisch Kranke, Schwangere sowie Kinder und Jugendliche von den Auswirkungen der Krise bedroht sind. „16 Prozent der EUBevölkerung sind bereits armutsgefährdet“, so Nata Menabde, stellvertretende Direktorin des Regionalbüros der Weltgesundheitsorganisation für Europa.
Diese Gruppen gelte es daher besonders vor den Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu schützen und ihnen den Zugang zu medizinischen Leistungen zu erweitern, betonte Fidler. Zugleich wies er darauf hin, dass hierbei insbesondere Migranten als mögliche Träger von Infektionskrankheiten zu berücksichtigen seien.
Als Gegenmaßnahmen zur Sicherung der gesundheitlichen Versorgung eigneten sich vor allem gezielte Arbeitsmarktprogramme sowie Maßnahmen zur Reduzierung der Kosten von Arzneimitteln und im Krankenhausbereich.
Struckler machte deutlich, dass in Krisenzeiten grundsätzlich keine anderen Gesundheitsstrategien notwendig sind, als in guten Konjunkturphasen. Auch seien nicht zwingend große Summen erforderlich, um die Strategien zu finanzieren: „Wenn wir ein Prozent der Summe, die für die Rettung des Finanzsystems zur Verfügung steht, für gezielte Gesundheits- und Sozialmaßnahmen aufwenden, dann können wir verhindern, dass die Wirtschaftskrise letztlich auch noch Leben kostet.“
Der deutschen Bundesregierung warf Fidler indessen vor, dass von den zehn Milliarden Euro aus dem Konjunkturpaket, die für das Gesundheitswesen vorgesehen sind, ein Großteil in die Modernisierung und den Ausbau von Krankenhäusern fließt. „Das stützt den Arbeitsmarkt und verbessert möglicherweise auch langfristig die Infrastruktur, für die Qualität der Gesundheitsversorgung während der Krise bringt es aber nichts.“
Stärkere Zusammenarbeit
Robert Madelin, der EU-Generaldirektor für Gesundheit und Verbraucher, hält eine stärkere europäische und internationale Zusammenarbeit für zwingend notwendig. Madelin forderte vor allem eine Konzentration auf Präventionsmaßnahmen und die Förderung eines gesunden Lebensstils sowie den Abbau der gesundheitlichen Ungleichheiten in Europa.
Der Präsident des EGF, Günther Leiner, empfahl den Regierungen angesichts der aktuellen Wirtschaftslage, ihren Widerstand gegen längst überfällige Reformen aufzugeben und sich für mögliche Einsparungen und Effizienzsteigerungen einzusetzen. „Nur wer das Gesundheitssystem rationalisiert, wird Rationierungen bei den Gesundheitsleistungen verhindern können“, so Leiner. Zur Not müssten auch einige heilige Kühe geschlachtet werden.
Die Entscheidungen in der Gesundheitspolitik müssten sich dabei weiterhin primär an medizinischen und ethischen Ansprüchen orientieren. „Budgets geben Rahmenbedingungen vor, aber Geld kann nicht der beherrschende Maßstab in Fragen der Gesundheitsversorgung sein“, so Leiner.
Petra SpielbergChristian-Gau-Straße 2450933 Köln