Typ 2-Diabetes
Die Zahl der Menschen mit einem Typ 2-Diabetes steigt seit Jahren und Jahrzehnten kontinuierlich an, und nach den aktuellen Prognosen wird sich daran auf absehbare Zeit nichts ändern. Denn es ist neben der zunehmenden Lebenserwartung letztlich der Lebensstil in unserer Wohlstandsgesellschaft mit Überernährung und Bewegungsmangel, der die Stoffwechselerkrankung auf dem Boden einer entsprechenden genetischen Prädisposition triggert. Immerhin wird derzeit in Deutschland Tag für Tag rund 1 000-mal die Diagnose „Typ 2-Diabetes“ gestellt.
Acht Prozent der Bevölkerung betroffen
Die Diabeteshäufigkeit in der Bevölkerung wird hierzulande bereits auf mehr als acht Prozent geschätzt. Damit dürften rund sieben Millionen Menschen wegen der Erkrankung in ärztlicher Behandlung sein, wobei eine jährliche Steigerungsrate von etwa fünf Prozent angenommen wird. Für das Jahr 2025 ist nach offiziellen Schätzungen mit weltweit 350 Millionen Typ 2-Diabetikern zu rechnen.
Es ist dabei sogar noch von einer enorm hohen Dunkelziffer auszugehen, wie Erhebungen am Deutschen Diabeteszentrum in Düsseldorf gezeigt haben. Dort wurde bereits im Jahr 2000 im Rahmen der KORAStudie unter Leitung von Privatdozent Dr. Wolfgang Rathmann bei 1 300 zufällig über die Einwohnermeldeämter ausgewählten Personen im Alter zwischen 55 und 74 Jahren der Kohlenhydratstoffwechsel untersucht. Das Ergebnis: 8,4 Prozent der Probanden wiesen einen bekannten Diabetes auf, weitere 8,2 Prozent hatten einen manifesten Diabetes, jedoch ohne dass dieser diagnostiziert worden wäre. Und besonders erschreckend: Bei 16 Prozent wurde eine verminderte Glukosetoleranz nachgewiesen, die allgemein als „Prädiabetes“ gilt. Damit ergaben sich bei mehr als 30 Prozent der Zufalls-Stichprobe Auffälligkeiten im Kohlenhydratmetabolismus.
Epidemiologische Zahlen belegen Handlungsbedarf
Wie sich die Stoffwechselstörung weiter entwickelt, wurde anhand der Follow up- Daten der KORA-Studie jüngst beim Kongress der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Leipzig dargestellt: In der aktuellen Erhebung wurden 700 Teilnehmer der im Jahre 2000 untersuchten Bevölkerungsstichprobe sieben Jahre lang nachverfolgt. Von den Personen, die ursprünglich einen offenbar normalen Stoffwechsel besaßen, entwickelten in diesem Zeitraum 4,1 Prozent einen Typ 2-Diabetes. Deutlich höher war dieser Anteil mit 17,9 Prozent bei Personen, die in der Erstuntersuchung eine abnorme Nüchternglukose (IFG) aufwiesen. Noch größer ist die Gefahr im Falle einer verminderten Glukosetoleranz (IGT). Denn 27,7 Prozent der Personen mit einem solchen Befund in der Erstuntersuchung hatten sieben Jahre später einen Diabetes entwickelt. Lag gar eine kombinierte IFG und IGT vor, so manifestierte sich im Beobachtungszeitraum bei jedem zweiten Teilnehmer der Erhebung eine diabetische Stoffwechsellage.
Kardiovaskuläre „Übersterblichkeit“
Diese Zahlen signalisieren einen dringenden Handlungsbedarf, so hieß es beim DDGKongress. Denn gleichzeitig mehren sich die Belege für eine massive Übersterblichkeit bei Menschen mit Typ 2-Diabetes, wobei die Einbuße der Lebenserwartung auf etwa zehn Jahre geschätzt wird.
Rund 75 Prozent der Betroffenen versterben aber nicht an einer Komplikation des Diabetes, sondern an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall, so Professor Dr. Oliver Schnell aus München. Das kardiovaskuläre Risiko steigt nach seinen Angaben schon vor der eigentlichen Manifestation der Stoffwechselstörung, also im prädiabetischen Zustand, es nimmt bereits zu, wenn lediglich eine gestörte Glukosetoleranz zu diagnostizieren ist. Das sollte nach Schnell bei der Behandlung berücksichtigt werden, indem einerseits alles getan wird, um kardiovaskuläre Risikofaktoren zu minimieren. Andererseits sollten bei manifester Erkrankung bevorzugt Therapiestrategien eingesetzt werden, für die eine nachhaltige Reduktion des kardiovaskulären Risikos in Endpunktstudien belegt wurde.
Gefahrenpunkt Hypoglykämie
Unabhängig vom geschärften Blick auf das kardiovaskuläre Risiko gibt es derzeit auch einen deutlichen Wandel bei den metabolisch orientierten Therapiestrategien beim Typ 2-Diabetes. So wurde in den vergangenen Jahren fast schon gebetsmühlenhaft gepredigt, den Blutzucker möglichst normnah einzustellen und den HbA1c-Wert, der als Maß für die Qualität der Blutzuckereinstellung gilt, auf einen Wert unter 6,5 Prozent zu senken. Das aber gelingt oftmals nur durch eine intensivierte Insulintherapie, bei der zwangsläufig die Gefahr von Hypoglykämien steigt.
Solche Unterzuckerungen aber sind offenbar gefährlicher als bisher bekannt. Das lässt vor allem die ACCORD-Studie (Action Control Cardiovascular Risk in Diabetes) vermuten, die im vergangenen Jahr vorzeitig beendet werden musste, weil sich in der Patientengruppe mit intensivierter Insulintherapie eine deutlich höhere Mortalität als bei einer konventionell therapierten Kontrollgruppe abzeichnete. Diese erhöhte Mortalität wird von den meisten Experten auf vermehrte Hypoglykämien zurückgeführt.
Das HbA1c als Qualitätskriterium der Blutzuckereinstellung gerät damit zunehmend ins Wanken. Dies gilt umso mehr, als laut aktuellen, in diesem Jahr publizierten Daten wiederholt auftretende Unterzuckerungen auch die Gefahr einer Demenzentwicklung bei Diabetikern heraufbeschwören.
Paradigmenwechsel: Betazellen sind wichtig
Die neuen Befunde scheinen eine Trendumkehr bei den Zielen der Diabetestherapie – weg vom strikten Starren auf die HbA1c-Werte und eine möglichst normgerechte Blutzuckersenkung – einzuläuten. In den Vordergrund rücken stattdessen die insulinproduzierenden Betazellen des Pankreas. Denn ihr Untergang ist es, der das Fortschreiten des Diabetes triggert. So sind nach Professor Dr. Juris Meier aus Bochum zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits mehr als 50 Prozent der Betazellen zugrunde gegangen. Dieser Prozess setzt sich unter der Gabe der herkömmlichen Antidiabetika offenbar ungebrochen fort, was die Progredienz der Stoffwechselstörung erklärt.
Therapeutisch muss deshalb nach Meier alles daran gesetzt werden, den weiteren Zelluntergang zu stoppen und möglichst sogar eine Regeneration der insulinbildenden Zellen anzuregen. „Wir erkennen mehr und mehr, dass es sich beim Typ 2-Diabetes um eine Betazellerkrankung handelt“, berichtete Meier anlässlich der Tagung.
GLP-1 – ein Darmhormon fördert Insulinfreisetzung
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis hat sich die Diabetesforschung vor allem in Deutschland mehr und mehr den grundlegenden Prinzipien der Stimulation der Insulinbildung und -freisetzung gewidmet. Dreh- und Angelpunkt sind dabei zwei Darmhormone, das GLP-1 (Glucagon-like- Peptide) und das GIP (Glucose-dependentinsulinotropic- Peptide), die abhängig von der Höhe des Blutzuckers die Insulinbildung in den Betazellen anregen.
Das Augenmerk der Forscher richtete sich besonders auf das GLP-1, ein Peptidhormon, das während der Nahrungsaufnahme im Gastrointestinaltrakt freigesetzt wird und zahlreiche Effekte auf die metabolischen Vorgänge im Körper hat. Es steigert die Insulinbildung und regt die Ausschüttung von Insulin an und es verzögert gleichzeitig die Magenentleerung und verstärkt damit das Sättigungsgefühl. GLP-1 hat noch einen wichtigen weiteren Effekt: Tierexperimentell wurde eindeutig belegt, dass das Darmhormon, auch Inkretinhormon genannt, den Untergang von Betazellen hemmt und sogar das Wachstum und die Proliferation der insulinbildenden Zellen fördert.
Es lag daher nahe, eine auf der Wirkung von GLP-1 basierende Diabetestherapie zu entwickeln, wobei das natürliche Inkretinhormon allerdings nicht direkt eingesetzt werden kann, da seine Halbwertszeit mit eineinhalb bis zwei Minuten ausgesprochen kurz ist.
Neue Inkretin-basierte Therapiestrategien
Dennoch kann die Wirkung des Inkretinhormons GLP-1 genutzt werden. Hierzu wurden zwei Strategien entwickelt: Es gibt mit den so genannten DPP-4-Inhibitoren inzwischen Wirkstoffe, die den Abbau von GLP-1 durch das Enzym Dipeptidylpeptidase- 4 (DPP-4) hemmen. Prototyp dieser Therapierichtung ist der Wirkstoff Sitagliptin, der als Monotherapie oder als Fixkombination mit Metformin in der Diabetestherapie eingesetzt werden kann. Weitere DPP- 4-Hemmer wie das Vildagliptin sind im Handel oder noch in Entwicklung.
Eine zweite Strategie besteht in der Nachahmung der GLP-1-Wirkung durch sogenannte Inkretin-Mimetika. Eine erste Option stellt dabei das bereits länger verfügbare Inkretin- Mimetikum Exenatide dar, ein Wirkstoff, der ursprünglich im Speichel der amerikanischen Krustenechse entdeckt wurde. Jüngst kam ferner die Substanz Liraglutid auf den Markt, ein Inkretin-Mimetikum, das eine 97-prozentige Homologie zum menschlichen GLP-1 besitzt und damit der Behandlung mit dem natürlichen Hormon sehr nahe kommt.
Die Inkretin-Mimetika haben bei der Therapie des Typ 2-Diabetes nach Angaben der Experten wesentliche Vorteile gegenüber herkömmlichen Optionen: Sie senken den Blutzucker bedarfsgerecht und entfalten ihre Wirksamkeit nur bei erhöhten Blutzuckerspiegeln. Dadurch induzieren die Substanzen anders als beispielsweise Insulin und die Sulfonylharnstoffe keine Hypoglykämien. Da die Inkretin-Mimetika ähnlich wie GLP-1 die Magenentleerung verzögern und Sättigungsgefühle verstärken, führt die Behandlung im Gegensatz zur Insulintherapie nicht zu einer Gewichtszunahme. Im Gegenteil: „Es ist die einzige Form der Diabetestherapie, unter der wir sogar eine deutliche Gewichtsreduktion beobachten“, so Professor Dr. Baptist Gallwitz aus Tübingen.
Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: So wie das GLP-1 wirken auch die Inkretin-Mimetika auf die Betazellen und es gibt aus tierexperimentellen Untersuchungen Befunde, wonach unter den neuen Inkretin-basierten Wirkstoffen sogar eine Zunahme der Betazellproliferation und letztlich der Betazellmasse resultiert. Das nährt Hoffnungen, in den Krankheitsverlauf korrigierend eingreifen und zumindest die Progredienz hemmen zu können.
Erfolge durch „Glukose-Gedächtnis“?
Die Effekte sind offensichtlich am besten, wenn bereits frühzeitig entsprechend interveniert wird. Das lassen die Daten eines Follow ups der UKPDS-Studie (United Kingdom Prospective Diabetes Study) vermuten, die im vergangenen Jahr publiziert wurden. Die Daten der Hauptstudie waren bereits vor zehn Jahren publiziert worden, wobei sich gezeigt hatte, dass eine optimale Diabeteskontrolle die Gefahr mikrovaskulärer Komplikationen minimiert. Bei den makrovaskulären Komplikationen wie Herzinfarkt und Schlaganfall war seinerzeit aber nur ein Trend erkennbar gewesen.
Das zehnjährige Follow up belegt nunmehr, dass auch die kardiovaskuläre Gefährdung von Diabetikern, die frühzeitig normgerecht eingestellt werden, langfristig signifikant niedriger ist. Auch die Gesamtmortalität war in dieser Gruppe eindeutig geringer, und das, obwohl die Patienten beider Gruppen während der Nachbeobachtungszeit keine unterschiedliche Therapie erhielten und auch keine Unterschiede bei der Blutzuckerkontrolle aufwiesen. Die Daten sprechen dafür, dass es offenbar im Organismus eine Art „Glukose-Gedächtnis“ gibt und dass eine frühzeitige gute Stoffwechselkontrolle für die langfristige Prognose der Patienten bedeutsam ist.
Neue Leitlinien zur Diabetestherapie
Dem tragen die neuen Therapieleitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft Rechnung, die sich für eine frühzeitige konsequente Behandlung aussprechen. Während früher geraten wurde, nach der Diagnosestellung zunächst durch allgemeine Maßnahmen eine Normalisierung der Blutzuckerwerte zu erwirken, geben die neuen Leitlinien nunmehr eine sofortige medikamentöse Behandlung vor, wobei Metformin als Mittel der Wahl genannt wird. Das gilt für normgewichtige wie übergewichtige Patienten gleichermaßen. Zusätzlich sollte eine gute Schulung erfolgen und eine Bewegungsund Ernährungstherapie eingeleitet werden.
Ziel der Behandlung ist weiterhin ein HbA1c-Wert unter 6,5 Prozent. Wird er durch die alleinige Metformin-Gabe nicht innerhalb von drei bis sechs Monaten erreicht, so rät die DDG zur Kombination des Wirkstoffs mit anderen Antidiabetika. Infrage kommen Alphaglukosidasehemmer, Glitazone, Sulfonylharnstoff sowie die Glinide und auch die innovativen DDP-4-Hemmer und die Inkretin-Mimetika. Allerdings gilt der Zielwert unter 6,5 Prozent nicht mehr dogmatisch. Vielmehr sollte der Wert bei Patienten mit erhöhtem Hypoglykämierisiko individuell festgelegt werden.
Auf die postprandialen Werte achten
Bleibt der HbA1c-Wert über 7,5 Prozent, so sollte zusätzlich mit Insulin behandelt werden, wobei üblicherweise zunächst ein Basalinsulin gewählt wird. Allerdings sind hierbei verstärkt auch die postprandialen Blutzuckerwerte zu beachten, fordert Privatdozent Dr. Thomas Kunt aus Berlin. Denn postprandiale Blutzuckerspitzen sind nach seinen Angaben entscheidend für die hohe kardiovaskuläre Gefährdung von Typ 2-Diabetikern mitverantwortlich.
„Sie bringen Herz und Gefäße in Gefahr“, so Kunt. Akute Blutzuckerspitzen bahnen nach seiner Darstellung der Atherosklerose den Weg, wobei die kardiovaskuläre Mortalität Studien zufolge umso höher ist, je höher der Zwei-Stunden-Blutzuckerwert nach einer oralen Gukosebelastung ausfällt.
Es besteht somit eine deutliche Glukotoxizität im Hinblick auf die Gefäße und eine postprandiale Hyperglykämie wird unabhängig vom Nüchternblutzucker und vom HbA1c-Wert allgemein als eigenständiger Risikofaktor für Herz- und Gefäßkomplikationen bei Typ 2-Diabetikern angesehen. Das sollte bei der Insulintherapie Berücksichtigung finden, weshalb die Experten sich zusätzlich zum Basalinsulin für eine prandiale Insulintherapie aussprechen, die am besten mit kurzwirksamen Insulinanaloga zu realisieren ist. In den internationalen Therapieempfehlungen der IDF (International Diabetes Federation), die aufgrund der vorliegenden Evidenz der Zusammenhänge sogar eine eigene Leitlinie zur postprandialen Blutzuckereinstellung formuliert hat, wird dabei geraten, die Behandlung beim Typ 2-Diabetes so zu steuern, dass die postprandialen Blutzuckerwerte unter 140 bis 145 mg/dl liegen.
Die deutschen Diabetologen empfehlen zudem übereinstimmend, neben der antihyperglykämischen Therapie die mit dem Typ 2-Diabetes häufig assoziierten kardiovaskulären Risikofaktoren im Blick zu behalten. Konkret muss bei Typ 2-Diabetikern für eine strikte Blutdruckkontrolle mit einem Zielwert unter 130/80 mmHg gesorgt werden und für eine konsequente Behandlung von Auffälligkeiten im Lipidprofil der Patienten.