Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
als die Publizistin Alice Schwarzer vor dreieinhalb Jahrzehnten mit ihrem damaligen Aufreger-Buch „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ die Rollenbilder der Geschlechter aufmischte, durchdachte die diskussionsbereite Intelligenz dieses vielleicht größte aller Themen vorrangig in soziologischen Bezügen.
Kaum jemand – vielleicht einmal abgesehen von Gynäko- und Urologen – näherte sich diesem Feld unter der Blickwarte geschlechtsspezifisch ausgerichteter Diagnose und Therapie in der Allgemein- oder gar der Zahnmedizin.
Heute sind die zunehmend offensiv erforschten und sich dadurch immer mehr verdichtenden Erkenntnisse geschlechtsspezifischer Medizin im Detail immer noch neu. Sie werden aber, anders als die gesellschaftliche Rollendiskussion vor Jahrzehnten, eigentlich nicht als epochal eingestuft – ein Zeichen dafür, dass sich im gesellschaftlichen Verständnis seitdem doch einiges geändert hat, manches „selbstverständlicher“ geworden ist und inzwischen einen anderen Stellenwert erhalten hat.
In der Medizin hingegen stehen der Gender-Forschung ihre großen Zeiten noch bevor. Hier ist es nicht allein der soziologische Verständniswandel, dass sich die Krankheitsbilder einer Gesellschaft gerade auch unter Berücksichtigung der Geschlechtsspezifik ändern, der zum Sammeln weiteren Wissens anspornt. Viel mehr ist es der sich durch wissenschaftlichen Fortschritt massiv ändernde Gesichtskreis, der das Denken immer schneller in neue Bahnen zu leiten scheint.
Spannend und beachtenswert ist auf diesem Gebiet die wissenschaftliche Komplexität der Forschungsansätze. Es wird des Miteinanders ganz verschiedener Disziplinen – von der Sozio- und Psychologie über die Anthropo- und Molekularbiologie bis zu den unterschiedlichen medizinischen Fachdisziplinen – bedürfen, um von heutigen Ahnungen zu gesicherten Erkenntnissen und dann letztlich konkreten therapeutischen Handlungsvorteilen zu gelangen.
Wiederum zukunftsweisend für die medizinische Versorgung dürfte auch sein, dass diese spezifiziertere Ausrichtung der Medizin mit ihrem Grundverständnis, dass Frauen und Männer, Kinder und alte Menschen jeweils anders therapiert werden müssen, an dieser Stelle auch andere Grundlagen für eine individualisiertere Form der Therapie schaffen wird. Und dies nicht mehr auf Grund von Erfahrung oder gar Intuition, sondern basiert auf einem gesicherten Fundament wissenschaftlicher, schulmedizinischer Kenntnis. Zielgerichtete Medikamentierung ist dabei nur eins von vielen vorstellbaren Feldern, die in den kommenden Jahrzehnten – so die Gesellschaft es zulässt – den medizinischen Fortschritt vorantreiben.
Mit freundlichen Grüßen
Egbert Maibach-Nagelzm-Chefredakteur