Im Bann schwerer Entscheidungen
Obschon von der Politik vernachlässigt, ist das Thema in der letzten Zeit hie und da doch in den Blickpunkt gerückt. Angestoßen vorwiegend von Finanzwissenschaftlern und Gesundheitsökonomen wie etwa den Professoren Bernd Raffelhüschen aus Freiburg oder Fritz Beske aus Kiel, sind deren gesundheitsökonomische Vorstellungen über die weitere Zukunft der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mittlerweile von vielen Akteuren in der Gesundheitsbranche aufgenommen worden. Fritz Beske, Direktor des Instituts für Gesundheits- System-Forschung (IGSF), rechnet in seiner in diesem Jahr erschienenen Studie zur „Ausgaben- und Beitragssatzentwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung“ vor, dass es wegen der demografischen Entwicklung immer mehr Ältere und auch multimorbide Patienten gibt. Einerseits kommt es damit zu einer Überalterung der Gesellschaft, andererseits wird die Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, die die Beiträge für die Sozialsysteme, also auch die Krankenversicherung, erwirtschaften, dramatisch sinken. Bei einem unveränderten Leistungskatalog der GKV und einer unterstellten Kostensteigerung von einem oder zwei Prozent infolge des medizinischen Fortschritts müssten die GKV-Beiträge im Jahre 2060 auf 27 respektive 43 Prozent steigen.
Beske bezweifelt, dass die Kostendynamik in der GKV dauerhaft durch Kostendämpfungsmaßnahmen bewältigt werden kann. Seine These: In der GKV wird in Zukunft nicht mehr der Bedarf die Mittel bestimmen, die zur Bedarfsdeckung aufgebracht werden müssen. Vielmehr werden sich Art und Umfang der Leistungen an den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln zu orientieren haben. Dies bedeute, dass der Leistungskatalog radikal auf das Notwendigste begrenzt werden muss.
Blickt man auf die letzten Jahrzehnte, dann wird man schnell erkennen, dass der Gesetzgeber schon längst priorisiert, denkt man etwa an die (teilweise) Streichung von Brillen, Krankentransportfahrten oder zahnmedizinischen Behandlungen aus dem Leistungskatalog der GKV.
Alles für alle, das geht nicht mehr
Beske möchte aber noch weiter gehen: Zwar solle jeder Bürger auch weiter die Gewissheit haben, bei einer ernsthaften Erkrankung rasch medizinisch versorgt zu werden. Doch weil das Prinzip „alles für alle“ in der solidarisch strukturierten GKV auf Dauer nicht mehr zu halten sei, sieht er in der weiteren Priorisierung ärztlicher Leistungen die Möglichkeit zu deren Rettung. Um eine Reihenfolge festlegen zu können, sollten zunächst Quersubventionierungen hinterfragt werden. Dazu gehören etwa die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern, Ehegatten oder Lebenspartnern genauso wie Elterngeld und Krankengeld bei Erkrankung des Kindes. Außerdem sollten medizinische Maßnahmen auf ihren Wirkungsgehalt hin untersucht und ausgewählte Leistungen der GKV zur Disposition gestellt werden. So könnten etwa Massagen als Heilmittel genauso aus dem GKV-Leistungskatalog gestrichen werden wie alternative Heilmethoden einschließlich der Homöopathie und alle dem Wellnessbereich zugehörigen Behandlungen.
Nach Beskes Auffassung ist es dabei unvermeidlich, auch Themen aufzugreifen, die bisher aus ethischen Gründen außen vor gelassen wurden. Sieht man sich seine Vorschläge an, merkt man den gesundheitspolitischen, gesellschaftlich und sozialen Sprengstoff, der im Thema liegt. So sei etwa konkret zu fragen, ob die Zunahme von Schnittentbindungen (Kaiserschnitten) medizinisch begründet ist und ob es Aufgabe der GKV ist, einen nicht medizinisch begründeten Wunsch-Kaiserschnitt zu finanzieren.
Weiter wäre zu untersuchen, ob jedes Frühgeborene unabhängig von seinem Geburtsgewicht eine intensivmedizinischen Behandlung erhalten muss, oder ob es hierfür nicht Grenzen geben kann, so wie etwa in der Schweiz. Dort beginnt nach einer Empfehlung der Swiss Society of Neonatology die intensivmedizinische Behandlung erst ab der 25. Schwangerschaftswoche, in Deutschland bereits ab der 22. Woche.
Beske stellt auch zur Disposition, ob die spezialisierte ambulante Palliativversorgung tatsächlich eine Aufgabe der Gesetzlichen Krankenversicherung ist, oder ob sie nicht in einen anderen Bereich der Sozialsysteme gehört.
Während die Priorisierung in erster Linie eine Aufgabe sei, die wegen des Sachverstandes in den Verantwortungsbereich von Medizinern gehört, falle der Politik eine aktive Rolle in Fragen möglicher Rationierung zu. Von entscheidender Bedeutung ist aber, dass die Politik das Problem überhaupt erkennt und offensiv angeht. „Anderenfalls läuft jeder, der sich dieser Problematik stellt und auch Lösungsvorschläge erarbeitet, Gefahr, hierfür diskriminiert und der sozialen Demontage beschuldigt zu werden“, so der Wissenschaftler.
Ärzte für breit angelegte Debatte
Unter dem Kuratel knapper Kassen und begrenzter Mittel, können sich Beske oder Raffelhüschen der Unterstützung aus mehreren Lagern in der Medizin gewiss sein. So ist auch der Präsident der Bundesärztekammer, Professor Jörg-Dietrich Hoppe, ein wortgewaltiger Befürworter, dass eine breit angelegte Debatte über das Thema in Gang kommt. Ob auf Ärztetagen oder in Interviews, Hoppe setzt sich dafür ein, dass Politik und Gesellschaft darüber reden müssten, welche Patienten und Krankheiten mit welcher Priorität behandelt werden sollen. Schon jetzt, so konstatiert der Ärzte-Chef, gibt es in Deutschland bestimmte medizinische Leistungen nicht mehr für jeden Patienten. Ärzte seien gezwungen, heimlich und intransparent zu rationieren. So wüsste er aus mehreren Kliniken, dass etwa bei Krebserkrankungen neue Behandlungsmethoden mit innovativen Arzneimitteln einfach zu viel kosteten und deshalb nicht angewandt würden. Da kommt Hoppe eine aktuelle repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, die mit Unterstützung der Bundesärztekammer initiiert wurde, gerade Recht. Bei der im Dezember 2010 präsentierten Auswertung räumte jeder zweite Arzt ein, dass er schon aus Kostengründen Patienten medizinisch sinnvolle Leistungen vorenthalten habe. Die Umfrage bestätigte eine Untersuchung des Medizinethikers Marckmann, der 2009 der Öffentlichkeit ein ähnliches Ergebnis vorgestellte.
Sündenbock-Funktion der Medizin abgelehnt
Als Hoppe das Thema Priorisierung vor rund zwei Jahren auf die Agenda setzte, blies ihm scharfer Wind ins Gesicht. Patientenfeindlichkeit witterten die einen, Menschenverachtung hielt ihm die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt vor. Dabei übersahen sie Hoppes Antrieb: Die Enttäuschung, als Arzt von der Politik in gesundheitspolitisch lebenswichtigen Fragen im Regen stehen gelassen zu werden. „Wir Ärztinnen und Ärzte in Deutschland wollen keine Rationierung, keine Streichung von medizinischen Leistungen“, verteidigte er sich. „Aber wir wollen auch nicht weiter für den staatlich verordneten Mangel in den Praxen und den Kliniken verantwortlich gemacht werden. Die Politik dreht uns den Hahn zu und macht uns dafür verantwortlich.“ Hoppes Kritik: Es sei falsch gewesen, dass man über mehrere Jahrzehnte das Gefühl vermittelt habe, durch die Zahlungen von Beiträgen an die gesetzlichen Krankenversicherungen sei alles abgegolten. Derzeit sei es der einzelne Arzt, der verantworten müsse, welche Patienten und Krankheiten mit welcher Priorität behandelt würden. Dies aber überfordere die Ärzte und belaste überdies das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Eine Priorisierung sei dringend notwendig, um verdeckte Rationierung zu vermeiden. Hoppe: „Der wissenschaftliche Fortschritt ist nicht unendlich finanzierbar. Wir müssen in Deutschland endlich ein Verfahren entwickeln, nach dem entschieden wird, wer wie behandelt wird, wenn die Mittel nicht für alle reichen. Oder wollen wir, dass es so kommt wie in England, wo Patienten vom 75. Lebensjahr an kein künstliches Hüftgelenk mehr erhalten?“ Wie Beske hat auch Ärztepräsident Hoppe Vorstellungen zur Priorisierung entwickelt, allerdings, so ist er sich bewusst, in einem hochsensiblen Bereich. Gegenüber der Presse nannte Hoppe eine amerikanischen Studie, wonach drei Viertel der Kosten im Gesundheitswesen im letzten Lebensjahr eines Menschen anfallen, davon ein Drittel in den letzten drei Monaten. Hoppe: „Da läge es natürlich nahe, dort mit dem Sparen anzusetzen. Genau das ist aber ethisch am sensibelsten.“
Priorisierung ist schon längst Ärztealltag
Für Professor Christoph Fuchs, Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer, ist die Priorisierung ebenfalls schon längst medizinischer Alltag. Der Ärztefunktionär nannte auf einer Veranstaltung der Heinrich Böll-Stiftung weitere Beispiele: Neben der Verteilung des Grippe-Impfstoffes 2009 als einem klassischem Beispiel würde dies besonders in der Unfallchirurgie deutlich: „Der OP-Plan wird unter Umständen jeden Morgen nach den aktuellen Ereignissen neu geordnet“. Dr. Eckard Nagel, Professor für Medizinethik und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bayreuth, nannte auf dem Symposium mit der Organtransplantation ein anderes Beispiel. „Da ist es schon nicht mehr Priorisierung, sondern eindeutig Rationierung, da wir ohnehin nicht genug Organe haben.“ Für Ärzte stellt die Situation auch ein juristisches Dilemma dar: Einerseits hält sie das Sozialrecht zu wirtschaftlichem Handeln an, andererseits sichert das Haftungsrecht dem Patienten einen bestimmten Behandlungsstandard zu.
Doch Behandlungsentscheidungen werden oft in einer Grauzone getroffen: Ärzte müssen häufig unter großem Druck klären, welche Therapien und Medikamente eingesetzt werden – im Rahmen knapper Finanzmittel und unter Maßgabe des vorgeschriebenen Wirtschaftlichkeitsgebots. Leitlinien zur Entscheidungshilfe? Fehlanzeige. Der Medizinethiker Georg Marckmann: „Rationierung findet statt, und sie ist unvermeidbar. Aber dann sollte man die Einschränkungen gezielt dort vornehmen, wo es dem Patienten am wenigsten wehtut“. Er hält es für richtig, mit den verfügbaren Ressourcen möglichst vielen zu helfen. „Die Politik muss dafür sorgen, dass das Nutzenopfer für den einzelnen Patienten so gering wie möglich bleibt.“ Wie ist das ethisch zu rechtfertigen? „Ich wäre auch froh, wenn wir in einer Welt leben würden, in der wir allen Patienten alles Nützliche zukommen lassen können – egal was es kostet. Aber Ethik muss eben auch realisierbar sein.“ Marckmann weiß, wovon er spricht, er hat bereits 2009 eine Diskussionsvorlage geliefert und entwickelte unter Kostenaspekten eine Leitlinie für die Kardiologie. Doch die wurde von Ärzten und Politikern abgelehnt, aus Gründen der Effizienzreserven im System, wie es hieß.
Effizienzreserven nutzen statt priorisieren
An wirtschaftliche Reserven, die das System noch berge, möchte auch Dr. Rainer Hess ran, bevor er die Priorisierung unterstützt. Hess ist Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), dessen Aufgabe es unter anderem ist, einzelne medizinische Leistungen und Medikamente nach ihrer Nützlichkeit zu bewerten und zu entscheiden, welche Leistungen den Patienten über die GKV bereit gestellt werden und welche privat bezahlt werden müssen. Damit ist der G-BA de facto nicht nur Herr über die von der Solidargemeinschaft zu bezahlende Medizin und Behandlung, sondern durch seine Arbeit selektiert er bereits, sodass Kritiker fragen: Was ist bei der Priorisierung anders? Die Selektion, so Hess, geschehe nicht nach Priorisierungskriterien, sondern auf Vorschlag der sogenannten „Bänke“ aus Leistungserbringern und Kostenträger. Bislang läge für den G-BA noch kein Gesetzesauftrag zur Priorisierung vor, den bräuchte es aber, um als Ausschuss aktiv werden zu können. Einem Vorschlag der BÄK, ein Gesundheitsrat solle das Thema diskutieren und dann in Kooperation zur Politik treten, steht Hess skeptisch gegenüber: „Ich halte nichts von Gremien, die keine Verantwortung übernehmen. Konzertierte Aktionen hatten wir genug.“
Hess hält die Debatte für „verfrüht“, solange es Überkapazitäten in der Versorgung wie etwa bei Katarakt-Operationen gebe. Allerdings schließt der G-BA-Chef nicht aus, dass man „irgendwann“ über das Thema sprechen müsse – und zwar dann, wenn notwendige Leistungen nicht mehr finanziert werden könnten. „In diesem Fall würde ich jedoch eher bei den Strukturen und nicht beim Leistungskatalog ansetzen.“ Nach seiner Ansicht sollten zukünftig ganze Versorgungsverläufe bei Erkrankungen untersucht werden, ähnlich den Disease- Management-Programmen. „Wir müssen viel mehr in Krankheitsbildern denken“, so Hess über seine Vorstellungen über Priorisierung. Man müsse exemplarisch ein Themenfeld definieren. „Das ist der Einstieg in eine neue Denke.“ Noch sei man auf der Suche nach einem Krankheitsbild, das sich zur Veranschaulichung eigne. „Wir sind auf einem Weg der Priorisierung, aber auf eine ganz andere Art als das bisher verstanden wurde.“ Auch eine weitere Institution zur Überprüfung medizinischer Leistungen und Behandlungen, das Institut für Qualität im Gesundheitswesen (IQWIG), sah sich unter seinem bisherigen Leiter, Professor Peter Sawicki, in der Vergangenheit nicht berufen, die Debatte nach vorn zu treiben. Man darf gespannt sein, wie das IQWIG zukünftig seine Rolle in dieser Frage mit dem neuen Chef Professor Jürgen Windeler sieht.
Ethikrat will intensivere Diskussion
Bleibt als moralische Instanz der Deutsche Ethikrat. Dort beschäftigt man sich nach eigenen Aussagen seit geraumer Zeit mit dem Thema, ist aber bislang nicht gerade als Motor der Debatte in Erscheinung getreten. Das hat seinen Grund. Die Diskussion über die gerechte Verteilung von Mitteln und Ressourcen werde in der Öffentlichkeit noch viel zu oberflächlich geführt, bemängelt Dr. Joachim Vetter, Geschäftsstellenleiter des Rats. Ethische Fragen müssten noch viel stärker eine Rolle spielen. Bislang richtete der Rat eine Arbeitsgruppe ein, die sich mit dem ethischen Status von Kosten-Nutzen-Bewertungen befasst, schreibt er in seinem Jahresbericht 2009. Kritisch wird angemerkt, dass Konzepte zu Priorisierung, Rationalisierung oder Rationierung zum Teil zwar affektiv, nicht aber inhaltlich eindeutig besetzt seien. „Ihre Verwendung dient oft eher politischen als Informationszwecken. Ob beispielsweise die Formel ‚Rationalisierung geht vor Rationierung‘ so beruhigend ist, wie sie klingen soll, hängt davon ab, wie Rationalisierung genau definiert wird. Bereits bei diesem Konzept ist nicht alles, was in der Debatte darunter verstanden wird, ethisch unproblematisch.“ Professor Weyma Lübbe, Inhaberin des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Universität Regensburg und Mitglied im Ethikrat, sieht im GKV-System noch keine wirkliche Knappheit, daher wäre es ihrer Auffassung nach unethisch, in der jetzigen Situation zu priorisieren. Nicht unethisch sei es jedoch, schon jetzt darüber zu diskutieren, was zu tun sei, wenn die Mittel knapp werden.
Während Ärzte eine offene Debatte fordern, wiegeln Vertreter von Krankenkassen bisweilen ab. Philipp Storz, Abteilung Medizin des GKV-Spitzen verbandes und Bernhard Egger, Leiter der Abteilung Medizin des GKV-Spitzenverbandes etwa werfen ein, dass noch Geld genug im System sei. Die Frage sei eher, wie die Versorgung und die Strukturen optimiert werden können und wie die Sicherstellung gewährleistet werden könne. „Die Debatte sollte abgesagt werden und das Potenzial und Engagement der Beteiligten in die Lösung der wirklichen Versorgungsprobleme investiert werden.“ Doch andererseits kommen die Kassen-Funktionäre ebenfalls nicht umhin, der schleichenden Einschränkung medizinischer Leistungen ins Auge zu sehen. Erst im Sommer 2010 forderte der GKV-Spitzenverband „krankheitsübergreifende Kosten-Nutzen-Analyse“. Was manche noch als ein Arbeitsmittel der Kassen zur sektorenübergreifenden Qualitätssicherung sehen mögen, kann auch als erster Schritt für die Erstellung von Wertigkeitslisten interpretiert werden.
Forschungsgemeinschaft untersucht Thema
Was bleibt? Gesundheitspolitisch wichtig, aber wenig bekannt ist, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ein interdisziplinäres Projekt zum Thema „Priorisierung in der Medizin“ gefördert bekommt, für das sich Forscher aus verschiedenen deutschen Universitäten zusammengeschlossen haben. Auf den Internetseiten des Projekts (www.priorisierung-in-dermedizin.de) heißt es: „Ziel des Projektes FOR655 ist es, systematisch durch disziplinübergreifende, theoretische und empirische Untersuchungen und Analysen in verschiedenen Teilprojekten Fragen der Priorisierung unter besonderer Berücksichtigung der Betroffenen, also Patienten, Mediziner, Bürger zu beantworten und möglicherweise Leitlinien zur Priorisierung zu erstellen.“ Speerspitzen bei der Diskussion um Priorisierung sind auch die Professoren Christoph Fuchs, Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer, Eckhard Nagel aus Bayreuth sowie vom Transplantationszentrum des Klinikums Augsburg und Heiner Raspe, Institut für Sozialmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Nach deren Auffassung könnte eine Priorisierungsdebatte hilfreich sein, das öffentliche Bewusstsein zum Umgang mit Mittelknappheit zu schärfen. Es biete sich an, den Einstieg in die Debatte vorerst über eine Priorisierung unterschiedlicher Krankheits- und Krankengruppen oder eine Priorisierung von Versorgungszielen zu betreiben. Allerdings stellen auch sie heraus, dass Priorisierungsverfahren Fragen zu den grundlegenden Konstruktionsprinzipien der nach dem Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip gestalteten gesetzlichen Krankenversicherung aufwerfen.
Verfassungsrechtlicher Schutz der GKV
Im Klartext: Es geht an die Substanz der GKV, auch und vor allem im verfassungsrechtlichen Sinn. Gerade hier sind die Hürden aus gutem Grund ziemlich hoch aufgestellt. So ist etwa das sogenannte Nikolaus-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 6. Dezember 2005 (siehe Info-Kasten) zu berücksichtigen, wonach die Bedürftigkeit und die Dringlichkeit von Patienten absoluten Vorrang haben, unabhängig von Nutzen und Kosten medizinischer Behandlungen. Sozialrechtler Professor Stefan Huster von der Ruhr-Universität Bochum kommt jedoch zu dem Fazit, dass Leistungsausschlüsse, die auf Nutzen- und Kosteneffektivität basieren, zulässig sind, solange sie die verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbote beachten. Zusätzlich bedürfen sie einer hinreichend legitimierten Rechtsgrundlage und eines ausreichend legitimierten Entscheidungsträgers.
Doch was passiert, wenn entwickelte Priorisierungslisten in die Diskussion kommen? Wie Georg Marckmann hatte auch Heiner Raspe als Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer vor etlichen Jahren schon seinen Entwurf einer Diskussionsgrundlage präsentiert. Damals stieß das Papier auf „null Komma null Reaktion“ so Raspe. Und obwohl er sich schon lange für ein Umdenken und ein Engagement der Politik in dieser Frage einsetzt, waren die Ergebnisse bislang eher enttäuschend für ihn. Deswegen nahm Raspe das Heft selbst in die Hand und rief im Sommer 2010 die Lübecker Bürgerkonferenz ins Leben. Dort diskutierte man einmal ohne Politiker, Ärzte, Standesvertreter oder Funktionäre aus der Gesundheitsbranche darüber, welche Behandlungen für wichtig und welche für weniger wichtig erachtet werden. Natürlich wurde auch auf dieser Basis-Veranstaltung die Komplexität des Themas deutlich und wie schwer es ist, Übereinkünfte zu erzielen. Und: Hier ging es „nur“ um Priorisierung, was, wenn es mal um Rationierung geht?
Eckhard Nagel weist denn auch auf mögliche Probleme hin: „Es handelt sich um Entscheidungsprozesse, die sich niemals im Guten auflösen. Wenn wir über Rationierung reden, bedeutet das immer, dass einer zu kurz kommt.“ Nagel macht am Beispiel der Organtransplantation deutlich, wie schwierig es ist, Wertigkeiten oder ethische Kategorien für Entscheidungen festzulegen. „Da gibt es sehr unterschiedliche Präferenzen – abhängig davon, ob man beispielsweise Studenten, Ärzte oder betroffene Angehörige befragt.“ Deswegen sei es auch schwierig, zu einem gesellschaftlichen Konsens zu kommen.
Heimliche Rationierung ist unethisch
Allerdings: Wird dieser Weg nicht gegangen, so prophezeit Fritz Beske, muss mit einer Ausweitung der geheimen Rationierung gerechnet werden. Diese Form sei aber die ungerechteste und unsozialste Form von Leistungseinschränkung überhaupt. „Sie ist zufallsbedingt, intransparent und kann denjenigen von Leistungen ausschließen, für den diese Leistungen notwendig und bedarfsgerecht sind.“ Übrigens: Der eigene Berufsstand ist bei der Diskussion eher außen vor. Durch die Pionierleistung der Einführung von befundorientierten Festzuschüssen hatten Zahnärzte bereits vorweggenommen, was für den allgemeinen medizinischen Versorgungsbereich in der Gesetzlichen Krankenversicherung erst noch in die Tat umgesetzt werden muss.