Fortschrittsfalle Medizin

Die Politik ist gefordert

Heftarchiv Gesellschaft
pr
Wie viel Gesundheit können wir uns leisten? An dieser Frage erhitzten sich die Gemüter bei einer Diskussion in der nordrhein-westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste zum Thema „Fortschrittsfalle Medizin“. Während sich der referierende Wirtschaftsexperte für eine sozialverträgliche Rationierung aussprach, betonten die anwesenden Mediziner, dass eine Rationierung mit dem ärztlichen Selbstverständnis nicht in Einklang zu bringen sei. Einig waren sich die Referenten hingegen darin, dass eine gesellschaftliche Debatte über eine Priorisierung von Leistungen dringend erforderlich ist.

Der Wirtschafts- und Sozialstatistiker Professor Walter Krämer von der Technischen Hochschule Dortmund ist sich sicher: Eine Rationierung von Leistungen im Gesundheitsbereich ist unausweichlich. Krämer begründete seine These auf einem Forum zur Zukunft des Gesundheitswesens bei der nordrheinwestfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Düsseldorf damit, dass die moderne Medizin Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden sei.

„Das Problem der modernen Medizin ist nicht ihr Mangel, sondern es sind ihre Möglichkeiten“, so der Gesundheitsökonom. Nicht die Preise, sondern die Menge an medizinischen Leistungen sei der Hauptmotor für die Ausgabenexplosion der letzten 50 Jahre gewesen. Medizinische Verfahren wie Organverpflanzungen oder Operationen am offenen Herzen hätten zudem einen Bedarf erzeugt, der vorher allenfalls latent vorhanden war.

Die Folge, so Krämer: „Die moderne Medizin wird immer unbezahlbarer.“ Dabei gelte es, die Rationierung human und sozialverträglich zu gestalten. „Die Politik ist hier gefordert, verbindliche Aussagen zur Entwicklung des deutschen Gesundheitssystems zu treffen“, forderte Krämer.

Auch mit einem Mehr an Prävention sei dem Dilemma der modernen Medizin nur unzureichend zu begegnen. Denn Prävention sei unter reinen Kostenaspekten in der Regel ein Verlustgeschäft, erklärte der Gesundheitsökonom. „Ob eine erfolgreiche Prävention einer bestimmten Krankheit das Gesundheitsbudget als ganzes entlastet oder nicht, hängt offenbar entscheidend davon ab, was billiger ist: die verhinderte Krankheit oder die, die man stattdessen kriegt.“ Dies gelte auch für die Zahnmedizin. „Denn die kurativen Eingriffe werden durch eifriges Zähneputzen ja nicht verhindert, sondern nur ein paar Jahre aufgeschoben“, sagte Krämer.

Ethisch problematisch

Mit seinen Äußerungen zog der Wirtschaftswissenschaftler den Widerspruch von Professor Eckhard Nagel, Medizinethiker und Transplantationschirurg aus Bayreuth auf sich. Nagel warf Krämer vor, auf Basis falscher medizinischer Annahmen ethisch problematische Aussagen zu treffen. Eine Fortschrittsfalle, wie sie Krämer skizzierte, existiert aus Sicht von Nagel nicht. Auch habe die moderne Transplantationsmedizin keine Nachfrage geschaffen, die vorher nicht vorhanden gewesen sei.

„Das Problem in der Transplantationsmedizin ist vielmehr der Mangel an Organspendern“, so Nagel. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation sterben in Deutschland täglich drei und in der EU zehn Patienten auf der Warteliste, weil für sie nicht rechtzeitig ein Spenderorgan zur Verfügung steht. Nagel fürchtet, dass durch den demographischen Wandel in Zukunft immer weniger geeignete Organe zur Verfügung stehen werden.

Die Transplantationsmedizin sei somit ein Paradebeispiel für die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen. Nagel hält es für dringend erforderlich, hierüber eine öffentliche und transparente Diskussion vor dem Hintergrund der rechtlichen Rahmenbedingungen zu führen. Demnach habe sich eine Organvermittlung nach dem Stand der medizinischen Erkenntnisse, der Erfolgsaussicht einer Transplantation und der Dringlichkeit für geeignete Patienten zu richten.

Klaus Bergdolt, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität zu Köln, machte deutlich, dass der Zwang zur Rationalisierung beziehungsweise Rationierung zu einer dramatischen Verschlechterung der Stimmung unter dem ärztlichen Personal in deutschen Krankenhäusern geführt hat. Die Arbeit der Ärzte lasse sich nur bedingt nach dem Vorbild der Industrie und Planungen häufig fachfremder Consultants „organisieren“, da sonst die Qualität leide.

Petra SpielbergChristian-Gau-Straße 2450933 Köln

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