Der lange Atem des Fortschritts
Der Rückblick auf 100 Jahre zm hat daran erinnert, dass vor zehn Jahren Keramikgerüste für Kronen oftmals noch aus einer zähflüssigen Aluminiumoxidmasse „geschlickert“ werden mussten.
Das Feld der Vollkeramik führten 1999 die Sinterglas-, Press- und Infiltrationskeramiken mit zeitaufwändiger Laboraufbereitung an. Die aufkeimende CAD/CAM-Technik konzentrierte sich noch auf die industrielle, zentralisierte Gerüstfertigung; die Chairside-Anwendung beschränkte sich auf die computergestützte Kavitäten-Versorgung mit 2D-Bildgebung. Kein Wunder, dass der Anteil der vollkeramischen Restauration in der konservierenden Versorgung damals bei zwei bis drei Prozent, in der Prothetik unter ein Prozent lag, weil geeignete Werkstoffe und rationelle Verarbeitungstechniken fehlten oder noch in den Kinderschuhen steckten.
Protagonisten der Keramik
Im gleichen Jahr wurde die Arbeitsgemeinschaft für Keramik in der Zahnheilkunde e.V. (AG Keramik) gegründet. Hochschullehrer, niedergelassene Zahnärzte, Werkstoffspezialisten und industrielle Keramikhersteller mit Grundlagenforschung kamen im August 1999 in Kronberg/Taunus zusammen und schufen eine selbstverpflichtende Satzung. Die Protagonisten der Keramik hatten sich unter der Mitarbeit eines wissenschaftlichen Beirats das Ziel gesetzt, die Keramik in der Zahnerhaltung und Prothetik sowohl in der Fachwelt als auch in der Öffentlichkeit als bewährte Therapielösung zu vertreten und zu fördern. Durch Projekte auf verschiedenen Ebenen wurden die defektorientierte und substanzschonende Behandlung als bewährte Therapielösung begleitet, Forschungs- und Entwicklungsansätze geliefert und dem niedergelassenen Zahnarzt Hilfen an die Hand gegeben, um mit den neuen Werkstoffen klinisch langfristig erfolgreiche Ergebnisse erlangen zu können. Parallel dazu fanden auf der Industrieseite in den Technologien „Vollkeramik und CAD/CAM“ geradezu sensationelle Fortschritte für die Zahnmedizin und Zahntechnik statt, die eine Zeitenwende einläuteten. Digitaltechnik und Hochleistungskeramiken lösten aus, dass weltweit in der vergangenen Dekade rund 30 Millionen Restaurationen computerunterstützt hergestellt und eingegliedert worden sind.
Der bei der Gründung gewählte und heute noch amtierende 1. Vorsitzende der AG Keramik, Dr. Bernd Reiss, brachte eine multizentrische Feldstudie mit niedergelassenen Zahnärzten in das Arbeitsprogramm ein. Unter seiner Führung in den 1990ern begonnen, hatten Zahnärzte ihre computergestützt hergestellten, konservierenden Keramikrestaurationen dokumentiert, in Intervallen befundet und die Ergebnisse der Nachuntersuchungen regelmäßig und anonym der Studienleitung zur Verfügung gestellt. Damit konnten erstmalig evidenzbasierte Aussagen zur klinischen Sicherheit von vollkeramischen Restaurationen getroffen werden.
Die Zuverlässigkeit dieser Feldstudie überzeugte den wissenschaftlichen Beirat, so dass die AG Keramik dieses Modell als „Ceramic Success Analysis“ übernahm und für alle Behandlungsverfahren sowie Keramikund CAD/CAM-Technologien öffnete. Damit erhielten Zahnärzte, Wissenschaftler und Dentalindustrielle erstmalig die Möglichkeit, die klinische Zuverlässigkeit unterschiedlicher Behandlungsmethoden und Materialien in der Praxis zu erfahren. Derzeit sind mehr als 6000 Restaurations-Befunde aus über 250 Praxen Grundlage der Ergebnisse. Der teilnehmende Zahnarzt gibt seine Befunde online auf der Plattformwww.csa-online.netein und erhält sofort ein grafisches Behandlungsprofil, das seine Ergebnisse anonym und individuell mit den Daten von allen anderen Teilnehmerpraxen vergleicht (Abbildung 1).
Qualität groß geschrieben
Diese Qualitätssicherungsstudie gab auch den Anlass zur Einrichtung von regional tätigen Qualitätszirkeln. Durch die Initiative von Dr. Reiss bildeten sich in mehreren Regionen Arbeitsgruppen, in denen niedergelassene Zahnärzte ihre Befunde und Therapielösungen im kleinen Kreis offenlegen und diskutieren. Thematisch geht der kollegiale Gedankenaustausch oftmals über den qualitätssichernden Ansatz der Keramikanwendung hinaus.
In den vergangenen zehn Jahren wurden in der Werkstoff- und Prozesstechnik sowie in den Behandlungsverfahren enorme Fortschritte erzielt.
Um die Forschung – auch des wissenschaftlichen Nachwuchses – auf dem jungen Gebiet in der Zahnmedizin zu fördern und zusätzliche Anreize zu schaffen, stiftete die AG Keramik den „Forschungspreis Vollkeramik“, der alljährlich vergeben wird. Damit wurden Wissenschaftler, Zahnärzte, Doktoranden, Habilitanten, Laborleiter, aber auch interdisziplinär zusammenarbeitende Teams zur Teilnahme eingeladen, um mit ihren Arbeiten den Fortschritt in der Zahnmedizin abzubilden. So wurden in der vergangenen Dekade mit dem Forschungspreis ausgezeichnet und mit Anerkennungen bedacht: Benjamin Jelen, Gunnar Saul, Frank Filser (2000), Dr. Matthias Folwaczny, Prof. Albert Mehl, Prof. Karl-Heinz Kunzelmann (2001), Dr. Anja Posslelt, PD Dr. Joachim Tinschert (2002), Dr. Andreas Bindl, Prof. Daniel Edelhoff, Dr. Stefan Ries (2003), Thomas Wagner, Gergo Mitov, Dr. Andres Baltzer (2004), Prof. Claus-Peter Ernst, Dr. Rupert Dornhofer, Prof. Gerwin Arnetzl, Jenniver Engl-Schmücker (2005), Dr. Petra Güß, Dr. Christian Stappert, Dr. Brigitte Ohlmann, Katrin Marienburg, Rania Zekrallah (2006), Prof. Roland Frankenberger, Dr. Bianca Steeger, Dr. Constanze Müller (2007), Dr. Frank Nothdurft, Dr. Andreas Rathke, Falk Becker (2008). Der Preis für 2009 wird im Jahre 2010 verliehen. Besonders qualifizierte Arbeiten wurden mit Unterstützung der AG Keramik in internationalen Fachmedien veröffentlicht. Für herausragende zahntechnische Arbeiten wurde 2010 erstmalig der Förderpreis „Das digitale Wachsmesser“ ausgeschrieben.
Plattform für die Auszeichnung der Forschungspreisträger und für die Verbreitung neuester wissenschaftlicher und klinischer Erkenntnisse wurde das Keramik-Symposium der AG Keramik, das alljährlich stattfindet – meist in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Fachgesellschaften wie DGCZ, DGI, DGZ, DGPro (früher DGZPW) – damit die Teilnehmer eine ergiebige Informationsquelle mit verschiedenen Disziplinen nutzen können.
Das Keramik-Symposium hat sich zu einem bedeutenden Sprachrohr entwickelt, auf dem Kliniker, Wissenschaftler, Zahnärzte und Zahntechniker die Einsatzmöglichkeiten und Anwendungen der Vollkeramik in allen Gebieten der Zahnmedizin vorstellen und beleuchten. So findet das nächste, 10. Keramik-Symposium am 27. November 2010 in Hamburg in Kooperaption mit der DGI (Deutsche Gesellschaft für Implantologie) statt.
Know-how geht um die Welt
Die enge Vernetzung von Wissenschaft, Forschung, Klinik, Praxis und Labor sowie die fruchtbare Zusammenarbeit mit Fachleuten aus den unterschiedlichsten Sachgebieten führte dazu, das „geballte Wissen“ um die vollkeramische Restauration in einem Handbuch festzuhalten. Daraus entstand der Leitfaden „Vollkeramik auf einen Blick“, ein Vademecum zur Indikation, Werkstoffauswahl und klinischen Durchführung von vollkeramischen Restaurationen (Abbildung 2). Erstmalig 2006 von den Autoren Kunzelmann, Kern, Pospiech, Mehl, Frankenberger, Reiss und Wiedhahn erarbeitet, ist inzwischen die vierte deutsche Auflage (2010) erschienen. 2007 kam das Werk als englische Ausgabe unter Einbeziehung der Co-Autoren Raigrodski und Strassler von den US-Universitäten Seattle und Baltimore auf den Markt. 2008 folgte die französische Ausgabe mit der Autorisierung von Prof. Archien, Universität Nancy. Die Nachfrage nach diesem universellen Ratgeber in Asien führte zur Bereitstellung einer japanischen Ausgabe (2008) unter der Federführung von Prof. Yamazaki, Tokio. Das Werk ist aufgrund der kompakten und aktuellen Informationen zu den weltweit erfolgreichsten Buchneuerscheinungen der letzten Jahre geworden.
In der abgelaufenen Dekade hat sich rund um die Keramik geradezu ein stürmischer Wandel vollzogen. Die konventionelle Bearbeitung von Silikat- und Oxidkeramik wurde durch die computergestützte Fertigung mit interaktiver Software abgelöst. Dadurch wurde die Bearbeitung von Zirkoniumdioxidkeramik möglich. Viele Arbeitsschritte in der manuellen Zahntechnik wurden durch den Einsatz der Digitaltechnik substituiert. Heute zählen Intraoral- und Extraoral-Scanner, CAD/CAM-Konstruktionsdesign, Rapid-Prototyping, NC-gesteuerte Fräsmaschinen weitgehend zum Standard. Intelligente Software fügt klinische Scans zu Quadranten- und Ganzkiefermodellen zusammen, biogenerische Kauflächen lösen Zahnbibliotheken ab, Zahnärzte versenden Datensätze von Restauration und Gegenbiss via Internet an das ZT-Labor (Abbildung 3), Zahntechniker lassen Gerüste in Fräszentren digitalgesteuert ausschleifen, stereolithografische Modelle kontrollieren Passung und Verblendung. Durch den Computereinsatz ist die Fertigung von Zahnersatz schneller und wirtschaftlicher geworden; die Verarbeitung ist aufgrund der Datensätze und dokumentierten Verarbeitungsprozesse reproduzierbar. Die Vernetzung von CAD/CAM und der Digitalvolumentomografie hat dazu geführt, dass die enossale OP und die keramische Implantatprothetik bereits virtuell vorausgeplant werden können und die Sicherheit beim invasiven Eingriff deutlich erhöhen.
Der Anteil der Vollkeramik an konservierenden und prothetischen Behandlungen ist in den vergangenen zehn Jahren steil angestiegen. So lag nach Erhebungen der AG Keramik im Jahr 2009 der Anteil von Keramikwerkstoffen in der Versorgung mit Onlays und Teilkronen bei rund 40 Prozent, in der Kronentechnik bei rund 30 Prozent, und bei Brücken bei rund 25 Prozent. Hinter dieser Entwicklung verbirgt sich nicht nur der Wunsch des Patienten nach metallfreier Restauration mit biologisch herausragenden Eigenschaften und nach einem ästhetischen Zahnbild, sondern auch das Vertrauen der Zahnärzteschaft in die Zuverlässigkeit der vollkeramischen Therapielösung und in die Dauerhaftigkeit der Keramikwerkstoffe. Viele Langzeitstudien zeigen, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit von vollkeramischen Restaurationen den „Goldstandard“ erreicht hat, der in der Literatur bisher metallgestützten Rekonstruktionen zugeschrieben wurde.
Manfred KernFritz-Philippi-Str. 765195 Wiesbadenm.kern-dgcz@t-online.dewww.ag-keramik.eu