Jenseits der Vorstellungskraft
In diesem Frühjahr überschritt die Verschuldung des deutschen Staates die Grenze von zwei Billionen Euro. Auf jeden Staatsbürger, egal ob Baby oder Greis, entfallen damit mehr als 24 000 Euro – mit steigender Tendenz. Denn Finanzminister Wolfgang Schäuble schlug für die Jahre 2012 bis 2015 eine Neuverschuldung von insgesamt 85,5 Milliarden Euro vor. Und die FDP verlangt gleichzeitig Steuersenkungen. Jeder, der ein Haushaltsbuch führt, weiß, dass diese Politik unweigerlich in den Bankrott führt. Schäuble wertet es als Erfolg, dass „seine“ Neuverschuldung von Jahr zu Jahr abnimmt, jedenfalls auf dem Papier. Von Entschuldung spricht niemand, dieser Begriff fehlt im Vokabular der Verantwortlichen.
Dabei gab es auch in Deutschland Politiker, die sich ihrer Verantwortung und der Auswirkungen ihres Handelns auf kommende Generationen bewusst waren. Zu ihnen gehört Karl Schiller. Er war Finanzminister der Großen Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger und anschließend während der Regierung Brandt von 1971 bis 1972 Wirtschafts- und Finanzminister in Personalunion. Dann konnte er die ihm auferlegte Bürde nicht mehr tragen. Zwei Milliarden Neuverschuldung in einem Jahr – für den Erfinder der Konzertierten Aktion war diese Summe nicht tragbar. Er reichte seinen Rücktritt ein. Begründung: „Ich bin nicht bereit, eine Politik zu unterstützen, die nach außen den Eindruck erweckt, die Regierung lebe nach dem Motto: nach uns die Sintflut.“
Auch Schillers Vorgänger Alex Möller hatte die Kündigung wegen einer seiner Meinung nach zu hohen Schuldenaufnahme eingereicht. Die beiden aufrechten Kämpfer würden sich heute im Grabe umdrehen, ahnten sie etwas von der horrenden Schuldenlast, unter der Deutschland inzwischen ächzt. Denn schon sein Nachfolger Helmut Schmidt zeigte weniger Skrupel und genehmigte fünf Milliarden zusätzliche Kreditaufnahme. Bei Hans Apel (SPD) waren es schon 33,5 Milliarden in vier Jahren. Dann ging es Schlag auf Schlag: Hans Matthöfer (SPD) 56 Milliarden Euro, 1982 Gerhard Stoltenberg (CDU) 75 Milliarden Euro und Theo Waigel (CSU), der sich der Sparpolitik verschrieben hatte, musste die Einheit finanzieren: 428 Milliarden Euro Neuaufnahme. Ihm folgte „Sparkommissar“ Hans Eichel (SPD). Sein erklärtes Ziel: „In zwei Jahren ist Schluss mit der Schuldenpolitik der Vorgänger. Durch die Schulden der Vergangenheit wurde ein Teil der Zukunft verspielt.“ Er zeigte geradezu prophetische Züge und ahnte sein Scheitern: „Ab 2006 werden wir keine neuen Schulden mehr aufnehmen. Es sei denn wir bekommen eine große Rezession.“ Er nahm 123 444 Millionen neue Schulden auf.
In dieser Situation musste sich Peer Steinbrück (SPD) beweisen. Um Schlimmeres zu verhüten, glaubte man damals, Banken wie die Commerzbank und vor allem die Hypo Real Estate retten zu müssen. Noch Ende 2010 nutzten nun Banken Garantien von insgesamt 64 Milliarden Euro. Bis zu welcher Höhe der amtierende Finanzminister Wolfgang Schäuble Schuldscheine ausgeben wird, muss sich noch zeigen. Von Ende 2009 bis Ende 2010 waren es schon mal 236 033 Millionen Euro.
Schuldenexplosion
Am 31. März 1950 lag der Schuldenstand der gesamten Republik bei 9, 574 Milliarden Euro. Heute gibt der Staat jeden neunten Euro für Zinsen aus, insgesamt 80 Milliarden Euro pro Jahr. Mit einer Schuldenquote (Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) von 83,2 Prozent (Ende 2010) rangiert Deutschland innerhalb der EU auf Platz sechs, direkt hinter Portugal mit 93 Prozent. Die deutsche Quote legte innerhalb eines Jahres um zehn Prozent zu.
Inzwischen hat sich das Rad wieder gedreht und für 2011 liegen die Prognosen bei etwa 73 Prozent. Denn gegen die erschreckenden Daten spricht die sehr starke deutsche Wirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt wächst und lässt auch Schäubles Schuldenpolitik wieder besser aussehen. Doch die Entwicklungen in Griechenland, in Irland und in Portugal gefährden inzwischen die Bonität der starken EU-Länder wie Deutschland, Frankreich oder die Niederlande. Denn sie haben einen Rettungsschirm für gefährdete Staaten aufgespannt. Mit ihm übernehmen sie zusammen mit dem IWF Garantien in Höhe von 750 Milliarden Euro. Speziell für Griechenland halten die EU-Partner einen Fonds mit 110 Milliarden Euro bereit und planen derzeit einen zweiten mit 120 Milliarden Euro.
Problemfall Griechenland
Dabei gehört Griechenland wirtschaftlich betrachtet zu den kleineren EU-Mitgliedern. Wäre es der einzige Problemfall, dürfte es den solventen Ländern keine Schwierigkeiten bereiten, das schöne Land der Hellenen zu retten. Doch die Probleme sind vielfältiger. Klaus Stopp, stellvertretender Leiter des Rentenhandels bei der Baader Bank, erklärt: „Hierbei ist Griechenland lediglich das Synonym für Portugal, Spanien, Italien, Irland, Belgien und nicht zuletzt auch für die Vereinigten Staaten von Amerika. Griechenland muss trotz seiner wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit als abschreckendes Beispiel herhalten.“ Tatsache ist, dass Griechenlands Verschuldung in diesem Jahr die Marke von 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigen wird und dass das Land ohne Hilfe von außen nicht überleben kann. Was würde passieren, würden sich die EU-Staaten zurückziehen würden und Griechenland – was viele Experten fordern – Insolvenz anmeldete? Wie wahrscheinlich ist eine Insolvenz? Darüber wird viel spekuliert. Zum einen soll die Europäische Bankenaufsicht EBA einen Stresstest angeordnet haben, bei dem 90 europäische Banken aufgefordert sind, einen Ausfall von griechischen Staatsanleihen durchzuspielen. Angeblich zeigt das Ergebnis eine Wahrscheinlichkeit von 36 Prozent. Auch Daniel Gros, Direktor des Zentrums für Europäische Politische Studien in Brüssel, hält den griechischen Staatsbankrott für unausweichlich, vor allem weil die Bewohner des Landes ihre Unterstützung verweigern.
Staatsbankrott als Rechenexempel
Er geht davon aus, dass es einen versteckten Bankrott geben wird, indem die Unterstützer- Länder die Kredite strecken und die Zinsen senken. Dazu Stopp: „Das wird sehr teuer.“ Die Beteiligung der Banken als private Gläubiger scheint wohl eher mager auszufallen. Die Rating-Agenturen akzeptieren sie nicht. Kommt es tatsächlich zu einem Bankrott, stellt der Staat alle fälligen Zahlungen ganz oder teilweise ein. Im Fachjargon heißt es dann, dass ein Kreditereignis eingetreten ist. Das bedeutet etwa, dass Anleihen nicht mehr zurückgezahlt werden und der Schuldendienst nicht mehr erfüllt wird.
Gläubiger können sich mithilfe von Kreditausfallversicherungen gegen eine Insolvenz absichern. Bei diesen Credit Default Swaps (CDS) schließen die Vertragspartner Protektionnehmer und Protektiongeber einen Vertrag ab, bei dem der Protektiongeber bei totalem oder teilweisem Zahlungsausfall oder bei Zahlungsverzögerung des Schuldners den entstehenden Verlust ausgleicht. Dafür zahlt der Protektionnehmer dem Partner eine Prämie. Deren Höhe richtet sich danach für wie wahrscheinlich der Zahlungsausfall eingeschätzt wird. Ebenfalls abhängig von dieser Einschätzung ist die Recovery Rate. Das ist die wahrscheinliche Quote dafür, wie viel Geld der Gläubiger bei Zahlungsausfall erhält.
Wann der Versicherungsfall eintritt, entscheidet ein Gremium der Branchenvereinigung International Swaps and Derivatives Association (ISDA). Die CDS dienen dem amerikanischen Institut CMA Datavision als Basis für die Berechnung der Rückzahlwahrscheinlichkeit der Kredite, die die untersuchten Länder aufgenommen haben. Jedes Quartal veröffentlicht der Datenanbieter eine aktualisierte Liste der sichersten und unsichersten Länder. Nach der letzten Bewertung vom 7. Juli 2011 beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass Griechenland seine Schulden nicht zurückzahlen kann, 80,6 Prozent. Damit liegt das Land mit Abstand auf dem ersten Platz.
Furcht vor Kettenreaktion
Tritt das Kreditereignis – der Bankrott – ein, können die Anleihen trotzdem gehandelt werden. Ihr Kurs sinkt und die Rendite steigt. Besitzer der Anleihen sind neben griechischen Banken internationale Institute und Zentralbanken. Kommt es zum Zahlungsausfall, müssen sie gestützt werden. Wichtigste Triebfeder der EU, ist die Sorge, dass es bei einem Staatsbankrott Griechenlands zu einer Kettenreaktion kommt und Länder wie Portugal und Irland mitgerissen werden. Die Abhängigkeiten innerhalb der EU sind einfach zu groß, als das man ein Land sich selbst überlassen könnte.
Zwar schätzt CMA Datavision die Ausfallwahrscheinlichkeit von Portugal mit 47,6 deutlich niedriger ein, aber drei Monate zuvor lag der Wert noch bei 40,4 Prozent. Dann kam es dort zu Neuwahlen, weil die alte Regierung Mühe hatte, ihren Sparkurs durchzusetzen. Die Nachfolger schlüpften unter den EU-Rettungsschirm. Jetzt versucht man in Lissabon, die versprochenen Reformen umzusetzen. Dies erschwert die Ratingagentur Moody’s, indem sie die Kreditwürdigkeit Portugals herabstufte und die Anleihen auf Ramschstatus absenkte. Grund für die schlechte Beurteilung ist die Annahme, dass das Land in 2013 einen Teil seines Finanzbedarfs nicht wieder selbst decken kann.
Auch Iren müssen sparen
Auf Portugal folgt Irland mit 47,2 Prozent. Auf der grünen Insel hat der Bankensektor das Land in den Sumpf gezogen. Die Regierung setzt auf einen straffen Sparkurs. Trotzdem setzte Moody’s das Land Mitte Juli auf Ramschniveau. Das vierte Sorgenkind in der EU ist Spanien. Es rangiert auf der 67 Länder umfassenden Liste an 11. Stelle. Anders als bei Irland und Portugal sind die Experten hier zuversichtlicher. Sie sehen Chancen, dass Spanien seine Probleme in den Griff bekommen könnte. Die Beobachter der Allianz urteilen: „Unter den vier „GIPS“ (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien) ist Spanien seit Ausbruch der Euro-Raum-Krise zum Vorbild geworden. Strukturelle Reformen und damit eine Verstärkung der spanischen Wettbewerbsfähigkeit scheinen zu greifen.“ Im ersten Quartal 2011 wuchs die Wirtschaft um 0,3 Prozent. Die Exporte steigen, aber die Arbeitslosigkeit liegt immer noch bei 20 Prozent.
Ebenfalls unter strenger Beobachtung der Rating-Agenturen befindet sich Italien. Mit einer Ausfallwahrscheinlichkeit von 14,3 Prozent liegt das Land auf Platz 21 der CMAListe. Moody’s droht inzwischen damit, das Land herabzustufen, sollte es die Staatsschulden nicht in den Griff bekommen. Diese Drohung gilt auch für 16 italienische Banken. Inzwischen haben die Spekulanten das hoch verschuldete Land fest im Visier. Italien verfügt mit einer Quote von 120 Prozent nach Griechenland über den zweithöchsten Schuldenstand.
Italien als weiterer Wackelkandidat
Mitte Juli bat der EU-Ratspräsident Herman van Rompuy zur Krisensitzung nach Brüssel. Bis zuletzt zeigten sich der italienische Staatspräsident Silvio Berlusconi und seine Minister pikiert über die Verdächtigungen, Italien habe seine Finanzen nicht im Griff. Er verwahrte sich dagegen, mit Irland und Griechenland in eine Reihe gestellt zu werden. Eine Schuldenkrise im drittgrößten EULand wäre wohl kaum zu bewältigen.
Mit negativen Einschätzungen durch die Agenturen macht auch Belgien auf sich aufmerksam. Dabei gehörte das Land zu den wirtschaftlich stabilen in Europa. Es baute in der Vergangenheit Schulden ab und während der Finanzkrise nahm es nur wenige Kredite auf. Dennoch änderte Standard & Poor’s den Status von „stabil“ auf „negativ“. Die Risikoaufschläge für belgische Anleihen haben sich in einem Jahr vervierfacht. Grund für die Probleme ist die Tatsache, dass es seit den Wahlen vor rund einem Jahr immer noch keine handlungsfähige Regierung gibt. Viele Beobachter fürchten eine Teilung des Landes zwischen Flamen und Wallonen.
Probleme in ganz anderen Dimensionen hat das von Katastrophen geschüttelte Japan zu stemmen. Dazu gehören Wiederaufbaukosten von etwa 400 Milliarden Euro und eine Staatsverschuldung, die schon Ende 2010 bei 210 Prozent des Bruttoinlandsprodukts lag. Allerdings verfügt das Land über die zweitgrößten Devisenreserven der Welt. Für die Japaner spricht auch die Tatsache, dass sie sich im eigenen Land Geld geliehen haben und die Schulden auf viele Gläubiger verteilt sind. In der CMA-Liste liegt Japan mit einer Ausfallwahrscheinlichkeit von nur 7,3 Prozent auf Platz 45 der 67 Länder.
Schuldengigant USA
Mit 4,4 Prozent noch besser stehen die USA da. Dabei kämpft der Schuldengigant derzeit gegen die Zahlungsunfähigkeit. Bis zum 4. August muss sich die Regierung unter Barack Obama mit den Republikanern über eine Anhebung des Schuldendeckels einigen. Sonst können Zinsforderungen nicht erfüllt werden. Die Agentur Fitch hat für diesen Fall mit einer Abstufung der USA auf „Ausblick negativ“ und dem Entzug der Bestnote „AAA“ gedroht. Ende 2010 lag die Verschuldung bei 95 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Chinesen, die bis vor Kurzem zu den größten Gläubigern der USA gehörten, trennen sich nach und nach von den US-Schätzen. Der größte auf Staatsanleihen spezialisierte Fonds Pimco hat alle US- Anleihen verkauft. Und dennoch trauen die Wirtschaftsexperten den USA zu, dass sie sich mit eigener Kraft aus dem Schuldensumpf ziehen können.
Bislang keinen Zweifel an seiner Bonität muss Deutschland erdulden. Das mit Bestnote ausgestattete Land liegt mit einer Ausfallwahrscheinlichkeit von 3,6 Prozent auf Platz 63 der Schuldnerliste. Die „AAA“-Bonität könnte allerdings in Gefahr geraten, wenn Deutschland die Lasten der maroden Nachbarn nicht mehr tragen kann.
Steuerzahler muss es notfalls richten
Dann allerdings bekommen das auch die noch besser positionierten Niederländer, Finnen und Schweden zu spüren. Denn auch sie sind gefragt, Griechen, Iren, Portugiesen und jetzt vielleicht auch die Italiener zu stützen. Wohin das führt, lässt sich zurzeit nicht beantworten. In der Diskussion um den Staatshaushalt in Deutschland fand Finanzminister Schäuble klare Worte: „Die Zukunft bleibt ein Geheimnis“, hoffentlich kein dunkles. Auszubaden hat die Folgen in jedem Fall der Steuerzahler, egal in welchem Land. Doch soweit soll es dank der gesetzlich verankerten Schuldenbremse nicht kommen.
Marlene EndruweitFachjournalistin für Wirtschaftm.endruweit@netcologne.de
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Land
Gesamtschuld in % des BIP 2010
Gesamtschuld in % des BIP 2011 geschätzt
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Belgien
96,8
100,5
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Bulgarien
16,2
20,2
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Dänemark
43,6
47,5
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Deutschland
83,2
75,9
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Estland
6,6
9,5
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Finnland
48,4
\n
51,1
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Frankreich
81,7
86,8
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Griechenland
142,8
150,2
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Großbritannien
80,0
83,5
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Irland
96,2
107,0
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Italien
119,0
120,2
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Lettland
44,7
51,9
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Litauen
38,2
42,8
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Luxemburg
18,4
19,6
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Malta
68,0
70,8
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Niederlande
62,7
66,6
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Österreich
72,3
72,0
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Polen
55,0
57,2
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Portugal
93,0
88,8
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Rumänien
30,8
33,4
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Schweden
39,8
38,9
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Slowakei
41,0
45,1
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Slowenien
38,0
44,8
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Spanien
60,1
69,7
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Tschechien
38,5
43,1
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Ungarn
80,2
80,1
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Zypern
60,8
\n
65,2
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Die Volkswirtschaften verschiedener Länder sind unterschiedlich groß. Deshalb wird die Gesamtverschuldung nicht in absoluten Zahlen dargestellt, sondern in Beziehung zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) gesetzt. Nach den Maastricht-Kriterien soll die Gesamtverschuldung eines Landes 60 Prozent des BIP nicht übersteigen.
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Quelle: EU-Kommission/Eurostat
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