Sozialverbände kritisieren Reformskizze
„Ich bin damit sehr zufrieden“, erklärte Bahr (FDP) nach der Verabschiedung durch das Kabinett selbstbewusst. „Die Eckpunkte sind ein Signal, dass es diese Koalition ernst meint mit einer Pflegereform.“
Das Ziel: Im Laufe dieser Wahlperiode soll ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff definiert werden, um den Bedürfnissen Demenzkranker besser zu entsprechen. Gleichzeitig soll die ambulante Versorgung gestärkt, sollen pflegende Angehörige entlastet sowie die Leistungen und Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen verbessert werden. Vorab bekannt wurde außerdem der Koalitionsplan, den Beitragssatz zum 1. Januar 2013 um 0,1 Prozentpunkte auf 2,05 Prozent anzuheben, um die Behandlung Demenkranker zu verbessern. Was für Beitragszahler eine monatliche Mehrbelastung von bis zu 3,82 Euro bedeutet – die Erhöhung wird von Arbeitgebern und -nehmern paritätisch getragen – soll rund 1,1 Millarden Euro Mehreinnahmen bringen.
Zu wenig, findet Ulrike Mascher. „Mit der Mini-Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrags kommt man nicht weit“, sagt die Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland. „Die dadurch erzielbaren Mehreinnahmen reichen bei Weitem nicht aus, um die Situation von Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen spürbar zu verbessern“, erklärt sie. Stattdessen seien mindestens drei Milliarden Euro pro Jahr notwendig, um die häusliche Pflege von Demenzkranken finanziell zu unterstützen.
Pflege kostet 20 Milliarden Euro pro Jahr
Aktuell gibt es nach Auskunft des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) 1,4 Millionen Demenzkranke in Deutschland, insgesamt waren im August dieses Jahres mehr als 2,4 Millionen Menschen pflegebedürftig. Tendenz steigend. Laut Schätzungen des BMG steigt die Zahl der Personen über 65 Jahre – und damit die Anzahl von Personen mit einer höheren Pflegewahrscheinlichkeit bis 2050 von 16,7 auf 23,4 Millionen. Konkret rechnet das Ministerium für 2050 mit fast 4,4 Millionen Pflegebedürftigen – was zu einer Kostenexplosion führen würde. 2010 gab die Pflegeversicherung 20,4 Milliarden Euro aus, gut 28 Prozent mehr als noch im Jahr 2000.
Nach Einschätzung des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach fehlen schon heute fünf Milliarden Euro jährlich im Pflegesystem. Darum rechnet er in den kommenden Jahren mit Hunderten von Pleiten bei Pflegediensten und -heimen. Weniger apokalyptisch, aber kritisch äußert sich Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbands Deutschland (SoVD). „Durch die 0,1-Prozent-Anhebung des Pflegeversicherungsbeitrags wird weder den demenziell erkrankten Menschen wirksam geholfen noch werden die pflegenden Angehörigen erkennbar entlastet“, sagt er.
Genau das will Bahr nach eigener Aussage mit dem Geld aber erreichen. Wie, dass ist aus den Beschreibungen des Eckpunktepapiers jedoch nicht herauszulesen. Dort heißt es nur, dass Demenzkranke im Vorgriff auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff „kurzfristig bessere Leistungen“ erhalten sollen. Gleichzeitig sollen Bedürftige künftig zwischen Leistungspaketen und Zeiteinheiten frei wählen können, „deren inhaltliche Ausgestaltung sie mit dem Pflegedienst vereinbaren können“.
Ebenfalls für Mehrkosten sorgen dürften Bahrs Pläne, jedem Pflegebedürftigen bei Antragsstellung ein Gutachten über seine individuelle Rahabilitationsfähigkeit auszustellen, ein Förderprogramm für ambulante Wohngruppen aufzulegen sowie die medizinische Versorgung und Beratung zu verbessern. Als einzige Maßnahme zur Kostenreduktion nennt das Eckpunktepapier den „Bürokratieabbau“, zu dem demnächst ein Maßnahmenpaket vorgelegt werden soll. Wann genau die einzelnen Punkte konkretisiert werden, bleibt unklar. Der Minister hat einen Gesetzentwurf fürs erste Halbjahr 2012 angekündigt.
Riester-Pflege gilt als Geschenk an Versicherer
Florian Lanz vom GKV-Spitzenverband drängt vor allem mit Blick auf den Pflegebedürftigkeitsbegriff auf eine zügige Umsetzung. „Nach dem Kabinettsbeschluss brauchen die Pflegebedürftigen jetzt schnell eine gesetzliche Konkretisierung der Pläne“, mahnt er, sagt aber auch: „Man muss erhebliche Zweifel haben, ob der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff noch vor der Bundestagswahl 2013 kommt.“
Ein anderes Vorhaben ist jedoch schon für den Jahresbeginn 2013 angekündigt: Die Einführung einer steuerlich geförderten, privaten Pflegeversicherung. Wie die umgesetzt werden soll, ist noch unklar – fest steht jedoch, dass das Geld aus dieser privaten Absicherung nicht in den Topf der gesetzlichen Pflegeversicherung fließen, sondern zur Finanzierung des Eigenanteils des Pflegebedürftigen herangezogen wird. Eine Idee, die die stellvertretende SPDVorsitzende Manuela Schwesig unmittelbar nach Bekanntwerden als Geschenk an die Versicherungswirtschaft verurteilte.
Caritas-Präsident Peter Neher mahnte, auch dieser freiwillige Pflege-Riester könne die Finanzierungslücken nicht stopfen, berge vielmehr das Risiko, dass Menschen mit Vorerkrankungen entweder keine Versicherung erhielten oder nur zu hohen Prämien. „Menschen mit niedrigem Einkommen oder im Hartz-IV-Bezug können sich eine private Zusatzversicherung einfach nicht leisten“, so Neher.
Das Resümee von Dr. Eberhard Jüttner, dem Vorsitzenden des Paritätischen Gesamtverbands, zum beschlossenen Eckpunktepapier fällt sogar noch weniger schmeichelhaft aus. „Das einzige, was nun konkret feststeht, ist, dass die Versicherten höhere Beiträge zahlen und künftig auch noch privat vorsorgen sollen. Was die Menschen als Gegenleistung dafür bekommen werden, bleibt nebulös“, sagt er. „Statt eine mutige Reform auf den Weg zu bringen, vertröstet diese Regierung die Menschen mit vagen Versprechungen und punktuellen Einzelmaßnahmen.“