Schweigepflicht bei einer Minderjährigen mit Bulimie
Auch zu diesem Fall nehmen zwei Zahnärzte als Kommentatoren Stellung, ohne sich zuvor besprochen zu haben. Mit diesem Vorgehen soll deutlich gemacht werden, dass eine ethische Dilemma-Situation durchaus unterschiedlich beurteilt werden kann, zumal Entscheidungen in ethischen Fragen immer auch Ausdruck von bestimmten Werthaltungen und moralischen Überzeugungen sind. Umso wichtiger ist, dass die Kommentatoren ihre jeweilige Sicht begründen und veranschaulichen.
Wie in den vorangegangenen Fällen stammen die Kommentare von (ehemals) praktisch tätigen Zahnmedizinern, die sich im Bereich Klinische Ethik fortgebildet haben. Die Kommentatoren bemühen sich im Rahmen ihrer Fallanalyse um die Abklärung relevanter juristischer Hintergründe, sind aber keine Juristen. Die nachfolgenden Kommentare sind somit keine rechtsverbindlichen Stellungnahmen, sondern stellen persönliche Meinungsäußerungen aus ethischer Perspektive dar. Anregungen und konstruktive Kritik sind willkommen.
Der Fallbericht:
Die Zahnärztin Dr. GB praktiziert in einer kleinen Landgemeinde im nördlichen Saarland. Die Mehrzahl ihrer Patienten wohnt direkt am Ort. Die übrigen Patienten reisen in der Regel aus den umgebenden Ortschaften mit dem Auto an, denn Ort und Praxis sind nur unregelmäßig an den Buslinienverkehr angebunden. Die 15-jährige Patientin KW wird zum zweiten Mal in der Sprechstunde von GB vorstellig. Sie stammt aus einer zehn Kilometer entfernten Ortschaft und wurde von ihrer 18-jährigen Schwester chauffiert. Die Eltern der Schwestern haben sich vor eineinhalb Jahren getrennt. Der Vater ist weggezogen, die Mutter ist seit einigen Monaten wieder berufstätig. Während KW gleich ins Behandlungszimmer gebeten wird, nimmt die Schwester im Wartezimmer Platz. Seit dem ersten Besuch von KW sind drei Jahre vergangen. In der Zwischenzeit hatte sie keine zahnärztliche Untersuchung wahrgenommen. KW teilt GB mit, dass sie in zunehmendem Maße an „überempfindlichen Zahnhälsen“ leide. GB stellt im Rahmen ihrer Untersuchung teils erhebliche Zahnerosionen an der Mehrheit der Zähne fest.
Besonders betroffen sind die Zahninnenflächen. Die Frage der Zahnärztin nach häufigem Verzehr säurehaltiger Nahrungsmittel wird von der Patientin verneint. In GB keimt der Verdacht, dass die Patientin an Bulimie leidet und sie konfrontiert diese nach einigen erfolglosen sprachlichen „Annäherungsversuchen“ letztlich direkt mit ihrer Verdachtsdiagnose. KW reagiert bestürzt und verunsichert, besteht aber schließlich darauf, sich „noch nie freiwillig erbrochen“ zu haben. Sie sei „keinesfalls essgestört“. GB fühlt sich durch die heftige Reaktion der Patientin bestätigt und entscheidet sich, vorsichtig über den Zusammenhang von Bulimie und Erosionen aufzuklären. Noch bevor GB mögliche therapeutische Maßnahmen ansprechen kann, wird sie von KW unterbrochen („Das betrifft mich doch alles gar nicht!“). KM bittet die Zahnärztin, ihr „lediglich etwas Lack“ auf die schmerzhaften Zähne zu machen. Außerdem sei sie unter Zeitdruck, da die Schwester, die sie begleitet habe, noch einen Anschlusstermin wahrnehmen müsse. GB lenkt ein, touchiert die schmerzhaftesten Zähne nach vorsichtiger Reinigung mit einem Fluoridlack, vereinbart mit der Patientin einen erneuten Termin und bittet sie eindringlich, sich zum nächsten Termin von ihrer Mutter begleiten zu lassen. Tatsächlich lässt KW den Termin verstreichen, stellt sich aber drei Wochen später kurzfristig – ohne Termin – mit „stark schmerzhaften Zahnhälsen“ vor. Begleitet wird sie zur Enttäuschung von GB erneut von ihrer großen Schwester.
GB macht sich nicht nur Sorgen um die Zahngesundheit, sondern auch um den Allgemeinzustand und insbesondere um die psychische Gesundheit von KM. Wie können Therapieerfolge erzielt werden, wenn die Patientin die Bulimie standhaft leugnet? Die Zahnärztin zweifelt insgeheim an der Entscheidungsfähigkeit der Patientin. Deshalb hatte sie am Ende der letzten Behandlungssitzung den Vorsatz gefasst, die Mutter beim Folgetermin über ihre Verdachtsdiagnose zu informieren und in die weitere Entscheidungsfindung einzubeziehen.
Die Zahnärztin ist unschlüssig: Soll Sie nun die Mutter anrufen und das weitere Vorgehen telefonisch mit ihr beraten – wenn ja: im Beisein der Tochter oder unter vier Augen? Oder soll Sie die Patientin nach Hause schicken und einen weiteren Termin vereinbaren mit der Auflage, dass die Mutter sie diesmal zwingend begleitet? Soll sie vielleicht alternativ die große Schwester als Begleitperson ins Vertrauen ziehen, zumal diese sich ja offensichtlich auf Weisung der Mutter sehr um die Patientin kümmert? Oder soll sie erneut versuchen, bei der Patientin eine Krankheitseinsicht zu erzeugen und – im Falle eines Erfolgs – das weitere Vorgehen mit der Tochter allein verabreden?
Dominik Groß und Karin Groß
Um im vorliegenden Fall zu einer verantwortungsvollen Entscheidung zu gelangen, wie Zahnärztin Dr. GB vorgehen soll, sind meines Erachtens vorrangig folgende zwei Fragen zu beantworten:
Gilt für die 15-jährige Patientin die Schweigepflicht? Wenn ja, kann es Gründe geben, die es rechtfertigen, die Schweigepflicht zu verletzen?
Grundsätzlich gilt die Schweigepflicht des Zahnarztes auch gegenüber Minderjährigen. Liegt eine adäquate Einsichtsfähigkeit vor, ist bei 15-Jährigen die Wahrung des Patientengeheimnisses zu achten (1).
Je reifer die Minderjährige und je ausgeprägter ihre Fähigkeit, selbstbestimmt und verantwortlich zu handeln, desto mehr ist die Schweigepflicht zu beachten (2).
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßDr. med. dent. Karin Groß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
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Bernd Oppermann
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Medizinische Hochschule Hannover Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin
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