Der besondere Fall

Neurotmesis nach versuchter Zahnextraktion im Unterkiefer

224903-flexible-1900
Heftarchiv Zahnmedizin
Dentoalveoläre Eingriffe sind ein wesentlicher Bestandteil in der täglichen Routine der zahnärztlichen Praxis. Sowohl aus ärztlicher, aber auch aus rechtlicher Sicht gilt es, die Komplikationsmöglichkeiten zu kennen und den Patienten über diese aufzuklären. Aller Vorsichtsmaßnahmen, einer umfassenden Planung und systematischer Durchführung der Eingriffe zum Trotz, können Schwierigkeiten auftreten, die es zunächst zu erkennen, diagnostizieren und zu behandeln gilt. Die Einleitung der weiteren diagnostischen und therapeutischen Schritte fällt in den Aufgabenbereich des ursprünglichen Behandlers. Im Folgenden wird eine Komplikationsmöglichkeit dargestellt, die ein Zahnarzt in freier Praxis beobachten könnte. Deren Management ist für den Heilerfolg des Patienten von erheblicher Bedeutung.

Ein 60-jähriger Patient wurde zur Weiterbehandlung einer frustranen Zahnextraktion überwiesen. Der Patient wurde zunächst durch seinen Hauszahnarzt behandelt, der eine Brückenkonstruktion mit den Zähnen 34 und 37 als Brückenpfeiler plante. Der Zahn 36 zeigte sich kariös zerstört, zusätzlich wies der Zahn eine insuffiziente Wurzelkanalbehandlung auf, so dass der Hauszahnarzt die Extraktion des Zahnes plante.

Bei dem Extraktionsversuch des Zahnes konnte dieser nicht luxiert werden, so dass der Zahnarzt nach Lösung der parodontalen Fasern die Luxation mit dem Bein´schen Hebel versuchte. Hierbei sei es allerdings zu einer apikalen Luxation des Zahnes gekommen, der Zahn konnte aber nicht entfernt werden. Daraufhin wurde der Patient an einen Oralchirurgen überwiesen. Als der Patient sich am Folgetag bei diesem vorstellte, wies er weiterhin eine komplette Anästhesie im Bereich der linken Unterlippe, bis zur Mittellinie, also im Versorgungsgebiet des Nervus alveolaris inferior sinister auf. Nach klinischer Verifizierung dieser Patientenangaben durch den Oralchirurgen wurde der Patient in unsere Klinik mit der Bitte um Weiterbehandlung überwiesen.

Bei der klinischen Untersuchung zeigten sich bei dem Zahn 36 Zeichen der versuchten Extraktion sowie eine komplette Anästhesie des linken N. alveolaris inferior. Dieser Befund wurde zusätzlich durch die Ableitung somatosensibler Potentiale gestützt. Nachdem der Befund mit dem Patienten besprochen wurde, erfolgte die Planung zur Osteotomie des Zahnes 36 sowie die Exploration des N. alveolaris inferior und gegebenenfalls die Rekonstruktion desselben mittels mikrochirurgischer Nervenkoaptation.

In Intubationsnarkose wurde der Befund am fünften Tag nach der versuchten Zahnextraktion von intraoral dargestellt und der Zahn 36 osteotomiert und entfernt. Die Extraktionsalveole wurde anschließend vorsichtig erweitert und der N. alveolaris inferior lokalisiert (Abbildung 1). Der Nervenkanal und der N. alveolaris inferior wurden dargestellt und weiter freigelegt (Abbildung 2). Auf Grund der vollständigen Durchtrennung des Nervens sowie der traumatischen Schädigung wurde die Nervenrekonstruktion mit Hilfe eines autologen Nerveninterponates, entnommen vom N. suralis, durchgeführt (Abbildung 3). Nach sorgfältiger Präparation der Nervenendigungen und deren mikrochirurgischer Anfrischung im Canalis mandibulae wurde das Interponat spannungsfrei mit 10-0 Naht epineural koaptiert.

Der Patient zeigte postoperativ weiterhin eine Anästhesie, entwickelte jedoch in den zunächst alle zwei Wochen vereinbarten Nachsorgen nach vier Wochen ein kribbelndes Gefühl im Bereich der linken Unterlippe. Nach drei Monaten zeigte sich bei dem Patienten in der Testung der Ableitung somatosensibler Potentiale eine deutliche Besserung, zusätzlich wies der Patient nun klinisch eine Hypästhesie und keine Anästhesie mehr auf. Nach sechs Monaten zeigte sich weiterhin eine deutliche Besserung des Befundes, nach zwölf Monaten weist der Patient nun lediglich eine leichte Hypästhesie im Seitenvergleich auf, die den Patienten jedoch kaum mehr beeinträchtigt, da die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme nicht beeinträchtigt ist.

Diskussion

Nervenschädigungen im Rahmen dentoalveolärer oder endodontischer Eingriffe sind prinzipiell selten, bedürfen jedoch einer besonderen Aufmerksamkeit und präoperativen Aufklärung des Patienten durch den Behandler. Der N. alveolaris inferior ist nach dem N. lingualis der zweithäufigst geschädigte Nerv im Kopf-Hals-Bereich [Hillerup, 2007; Cornelius et al., 1997]. Er kann insbesondere bedingt durch seinen intraossären Verlauf bei der operativen Entfernung tief verlagerter Weisheitszähne oder dentoalveolärer Eingriffe wie auch im vorliegenden Fall durch Zahnextraktionen der Molaren geschädigt werden [Hillerup, 2007; Cornelius et al., 1997; Pogrel et al., 2000; Schmelzle, 1987]. Während Schädigungen des N. alveolaris inferior meist im Rahmen von elektiven Einriffen erfolgen und somit prinzipiell vermeidbar sind, da sie von der Indikationsstellung abhängen, sollte diese insbesondere auch bei Weisheitszahnentfernung mit tiefer Verlagerung, fehlender Pathologien und ohne bestehenden Leidensdruck des Patienten streng geprüft und nicht leichtfertig gestellt werden [Kunkel et al., 2006]. Zusätzliche Möglichkeiten zur genauen Lokalisation des Nervens bei medizinisch notwendigen Eingriffen bieten dreidimensionale radiologische Bildgebungen wie die digitale Volumentomographie, die Computertomographie oder Magnetresonanztomographie, um eine Schädigung des Nerven durch eine dezidierte chirurgische Planung zu vermeiden [Rood et al., 1990; Rugani et al., 2009; White, 2008]. Als weitere, relativ häufige Ursache einer Nervenschädigung des N. alveolaris inferior ist die Überstopfung mit toxischem Wurzelfüllmaterial in den Nervenkanal oder den Nerven selbst möglich. Zunehmend an Bedeutung gewinnt auch die Insertion von Implantaten bei der Schädigung des Nerven, welche jedoch durch eine obligatorische dreidimensionale Planung häufig als vermeidbar gilt [Hillerup, 2007]. Möglich sind auch Druckschädigungen des Nervens, partielle oder totale Durchtrennungen.

Bei der klinischen Diagnostik spielt die Einteilung der Nervenschädigung eine große Rolle. Die Nervenverletzungen können je nach Ausprägungsgrad in eine Neuropraxie, Axonotmesis und, wie in vorliegenden Fall, in eine Neurotmesis eingeteilt werden. Während es bei der Neuropraxie zu einer vorübergehenden Schädigung der Funktion des Nervens bei erhaltenen Strukturen kommt (zum Beispiel bei einer Drucklähmung durch ein Hämatom oder einer Entzündung), kommt es bei der Axonotmesis zu einer Kontinuitätsunterbrechung der Axone, die nervenumgebenden Strukturen sind jedoch weiter erhalten (zum Beispiel bei einer Quetschverletzung). Bei der Neurotmesis sind sowohl die Axone, als auch unterschiedlich viele Anteile der umgebenden Hüllen bis zur totalen Durchtrennung vorhanden (zum Beispiel durch Zerreißung oder ein scharfes Trauma) [Seddon, 1943]. Während es bei der Neuropraxie meist innerhalb von Stunden bis Wochen zu einer Regeneration des Nervens kommt, dauert dies bei der Axonotmesis häufig Wochen bis Monate, bei der Neurotmesis hängt dies insbesondere von den anschließenden Therapiemaßnahmen und vom Schädigungsmechanismus des Nervens ab. Die Regeneration des betroffenen Nervens erfolgt nach mikrochirurgischer Revision über Monate bis Jahre.

Die Indikationen zu sofortigen mikrochirurgischen Revisionen am N. alveolaris inferior sind das frische Trauma mit Anästhesie des Nervens sowie überstopftes Wurzelfüllmaterial. Die Revision des Nerves sollte relativ früh erfolgen, da eine spätere Rekonstruktion des N. alveolaris inferior mit deutlich schlechteren Ergebnissen verbunden ist als die frühe [Cornelius et al., 1997]. Auch bei geringeren Schädigungen können eine Revision der Nerven sowie eine externe Neurolyse indiziert sein, wenn bei geringeren Traumata der Verdacht auf eine fortbestehende Schädigung des Nervens, wie überpresstes endodontisches Füllmaterial oder Knochenfragmente, besteht. Die Revision des Nervens sollte möglichst schonend, unter ständiger Kühlung bei der Anwendung rotierender Instrumente zur Freilegung des Nervens und unter Einsatz eines Operationsmikroskopes erfolgen. Ist der Nerv komplett oder teilweise durchtrennt, so sollte die mikrochirurgische epineurale oder perineurale Nervennaht erfolgen. Hierbei ist es wichtig, dass diese spannungsfrei erfolgt und beim Auftreten von Spannungen oder bei stärkeren Schädigungen längerstreckiger Areale durch das Trauma über eine autologe Nerventransplantation nachgedacht wird. Das Interponat wird analog der direkten Nervennaht koaptiert, so dass, abhängig vom Ausmaß des Traumas, entweder ein einzelner Faszikel oder der komplette Nerv rekonstruiert wird. Der vorliegende Fall soll deutlich machen, dass bei dentoalveolären Eingriffen im Unterkiefer eine Gefährdung für eine Nervenverletzung des N. alveolaris inferior sowie des N. lingualis und N. mentalis besteht, über die der Patient präoperativ entsprechend aufzuklären ist. Insbesondere durch eine Atrophie des Alveolarkammes kann es zu einer Veränderung des Nervenverlaufes kommen [Hölzle et al., 2001]. Bei erfolgter Verletzung eines Nervens sind die Aufklärung des Patienten und die rasche Einleitung einer entsprechenden Behandlung zur Ergreifung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen notwendig.

Tipp für die Praxis

Die präoperative Aufklärung über mögliche Nervenschädigungen im Rahmen von dentoalveolären Eingriffen sollte durch den Behandler unbedingt erfolgen. Auch bei Standardeingriffen ist eine Schädigung von Nerven trotz dezidierter Planung zwar mit einem geringeren Risiko assoziiert, jedoch nicht sicher auszuschließen.

Die klinische Nachkontrolle der Patienten und bei Sensibilitätsstörung die klinisch objektive Verifizierung durch die Ableitung von somato-sensorisch evozierten Trigeminuspotentialen sind wichtige Kriterien bei möglichen Begutachtungen, aber auch Instrumente zur Indikationsstellung mikrochirurgischer Revisionen. Intraoperativ werden Nervenverletzungen in den meisten Fällen nicht bemerkt.

Die Neurotmesis zeigt in der Regel ohne die Einleitung und Durchführung mikrochirurgischer Therapiemaßnahmen keine spontane Besserung und sollte entsprechend therapiert werden.

Dr. Thomas MückeProf. Dr. Dr. Klaus-Dietrich WolffPD Dr. Dr. Frank HölzleKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieKlinikum Rechts der IsarTechnische Universität MünchenIsmaninger Str. 22, 81675 Münchenth.mucke@gmx.de

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