Diabetes mellitus und Parodontitis

Konsensuspapier: Wechselbeziehung und klinische Implikationen

219498-flexible-1900
Heftarchiv Zahnmedizin
Diabetes und Parodontitis sind weit verbreitete chronische Erkrankungen mit zunehmender Prävalenz in der deutschen Bevölkerung. Zwischen beiden Erkrankungen besteht eine bidirektionale Beziehung. Angesichts der vorliegenden Evidenz, die in der Ärzteschaft noch nicht hinreichend kommuniziert worden ist, hat ein Expertengremium aus vier Diabetologen sowie vier Parodontologen dieses Konsensusdokument erstellt. Die Erstveröffentlichung erfolgte in „Der Internist“, 2011, Band 52, Nr. 4, Seite 466 bis 477.

Jede Behandlung eines Diabetes hat zum Ziel, langfristig eine optimale glykämische Einstellung zu erreichen und somit den gefürchteten Langzeitfolgen der Hyperglykämie vorzubeugen. Zu den schon lange bekannten Spätschäden des Diabetes gehören vor allem Makroangiopathien, Neuro-, Nephro- und Retinopathien und deren Folgen (Tabelle). In dieser Tabelle sind auch orale Manifestationen des Diabetes aufgeführt, von denen Parodontal-Erkrankungen (Gingivitis und Parodontitis) die häufigsten sind.

Deshalb wird heute auch von der Parodontitis als einer weiteren wichtigen Diabetesfolgekrankheit gesprochen [Löe, 1993] und zahlreiche Studien widmen sich dem wechselseitigen Verhältnis zwischen Diabetes und Parodontitis [Hampton, 2008; Perrino, 2007; Nagasawa et al., 2010]. Der Zusammenhang zwischen Parodontitis und Diabetes mellitus ist bidirektional, das heißt, die Parodontitis nimmt auch Einfluss auf die glykämische Einstellung. Parodontitis ist eine entzündliche Krankheit des Parodonts, das heißt der zahnhaltenden Gewebe, die durch Plaquebakterien ausgelöst wird [Pihlström et al., 2005]. Die einsetzende Entzündungsreaktion (Gingivitis) führt zu Taschenbildung und im weiteren Verlauf zu Gewebsabbau einschließlich des Verlusts von Alveolarknochen, was schließlich zum Verlust der Zähne führen kann (Abbildung 1). Man rechnet in industrialisierten Ländern mit einer Prävalenz von mindestens 30 Prozent der Erwachsenen (davon fünf bis 15 Prozent mit schweren Formen) [Holtfreter et al., 2010]. Nun ist aber die Infektion mit den parodontopathogenen Mikroorganismen eine notwendige, aber keineswegs ausreichende Bedingung für das Entstehen einer Parodontitis beziehungsweise ihrer Schwere oder ihres Ausmaßes. Zahlreiche Risikofaktoren und auch die Prädisposition des betroffenen Individuums tragen zur Manifestation der Krankheit bei. Dies sind vor allem Alter und Geschlecht, Rauchen, sozioökonomische Faktoren, genetische Faktoren, aber eben auch Diabetes. Sowohl Parodontitis als auch Typ-2-Diabetes sind mit Übergewicht beziehungsweise Adipositas assoziiert, was auf gemeinsame Pathomechanismen hinweisen könnte [Pischon et al., 2007].

Einfluss des Diabetes auf Parodontitis

Assoziations- und Follow-up-Studien

Prävalenz, Schweregrad und Progression der Parodontitis sind mit Diabetes mellitus assoziiert, wie Studien an Pima-Indianern, bei denen Typ-2-Diabetes besonders häufig vorkommt, aber auch Studien in anderen Bevölkerungsgruppen gezeigt haben [Salvi et al., 2008; Mealey & Ocampo, 2007]. So war zum Beispiel in einer Studie, an der 325 Typ-1-Diabetiker, 25 Typ-2-Diabetiker und 350 Nichtdiabetiker im Alter zwischen sechs und 18 Jahren teilnahmen, Diabetes mellitus mit gingivaler Entzündung und parodontalem Attachmentverlust assoziiert [Lalla et al., 2007]. In einer Meta-Analyse, die 23 Studien aus den Jahren 1972 bis 2001 und insgesamt 19 245 Personen einschloss, wurden unter anderem der Gingiva-Index sowie der Schweregrad und das Ausmaß der parodontalen Erkrankungen von Diabetikern und Nichtdiabetikern verglichen [Khader et al., 2006].

Die Meta-Analyse offenbarte, dass die durchschnittliche Sondierungstiefe und der durchschnittliche klinische Attachmentverlust bei Diabetes mellitus, unabhängig vom Diabetes-Typ, signifikant erhöht waren. Eine weitere Meta-Analyse der Jahre 1980 bis 2007 bestätigte, dass Typ-2-Diabetes ein Risikofaktor für Parodontitis ist [Chavarry et al., 2009] (Abbildung 2). Parodontitis ist nicht nur mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes, sondern wohl auch mit weiteren Diabetesformen (wie Gestationsdiabetes [Xiong et al., 2009]) assoziiert.

Das erhöhte Risiko für Parodontitis bei Vorliegen eines Diabetes mellitus hängt von der glykämischen Einstellung ab. Die Beobachtung, dass der Parodontalzustand von Diabetikern mit besserer glykämischer Einstellung dem von Nichtdiabetikern ähnelt, wohingegen mit schwindender glykämischer Kontrolle das Risiko für eine parodontale Destruktion erhöht ist, wird durch zahlreiche weitere Studien gestützt [Tsai et al., 2002; Lim et al., 2007; Taylor et al., 1998]. Longitudinale Studien haben offenbart, dass die Progression von Parodontitiden bei Diabetes mellitus beschleunigt ist. Demnach haben Diabetiker ein höheres Risiko für das Fortschreiten des Alveolarknochenabbbaus im Vergleich zu Nichtdiabetikern [Taylor et al., 1998]. Das manifestiert sich auch in höherem Zahnverlust, wie in einer großen populationsbasierten Studie gezeigt wurde [Kaur et al., 2009]. Weiterhin belegen zahlreiche Querschnittsstudien, dass Parodontitis nicht nur mit Diabetes, sondern auch mit dessen Komplikationen assoziiert ist [Karjalainen et al., 1994].

Aus zahlreichen Kurz- und Langzeituntersuchungen kann ferner gefolgert werden, dass metabolisch gut eingestellte Diabetiker ähnlich gut auf eine Parodontitistherapie ansprechen wie Nichtdiabetiker und dass die Ergebnisse nach einer parodontalen Behandlung gleichermaßen erfolgreich aufrechterhalten werden können [Christgau et al., 1998; Westfelt et al., 1996; LLambes et al., 2005]. Diabetiker mit schlechter glykämischer Einstellung und/oder vielen Diabetesassoziierten Komplikationen weisen dagegen im Vergleich mit gut eingestellten Diabetikern und Nichtdiabetikern schlechtere Ergebnisse nach parodontaler Therapie auf.

Einfluss von Diabetes mellitus auf die Implantattherapie

Enossale Implantate haben sich in den vergangenen Jahren zu einem integralen Bestandteil der modernen zahnärztlichen Behandlung entwickelt. Systembedingte technische Komplikationen durch Materialoder Fertigungsfehler konnten durch kontinuierliche Verbesserungen weitgehend eliminiert werden, dagegen sind periimplantäre Entzündungen ein bedeutender Risikofaktor für einen späteren Implantatverlust und werden bei über 50 Prozent der Patienten beobachtet [Lindhe & Meyle, 2008].

Ähnlich wie beim natürlichen Zahn bildet sich auf dem Implantatmaterial ein bakterieller Biofilm, der zunächst im umgebenden Weichgewebe eine Entzündungsreaktion auslöst. Diese „periimplantäre Mukositis“ kann bei bis zu 80 Prozent der Implantatträger beobachtet werden. Daraus entwickelt sich bei längerer Präsenz individuell verschieden schnell eine Periimplantitis, die zum Abbau des knöchernen Implantatlagers führt und durch die der Biofilm Abschnitte der Implantatoberfläche bedecken kann, die unterhalb der Schleimhautoberfläche liegen und daher der individuellen Mundhygiene nicht beziehungsweise nicht mehr zugänglich sind. Unbehandelt schreitet dieser Prozess weiter voran und führt letztendlich zum Implantatverlust.

Bis heute wird Diabetes mellitus, in Abhängigkeit von seiner glykämischen Kontrolle, als eine relative Kontraindikation für die Versorgung mit enossalen Dentalimplantaten betrachtet [Beikler & Flemmig, 2003]. Eine insuffiziente glykämische Kontrolle und Hyperglykämie stehen in direktem Zusammenhang mit einer schlechten/verzögerten Wundheilung und einer eingeschränkten Immunabwehr. In Übereinstimmung damit wurde in Tierexperimenten nachgewiesen, dass eine Hyperglykämie negative Auswirkungen auf die Knochenneubildung und die Implantateinheilung hat.

Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Studien über die Auswirkungen von Diabetes auf die Ergebnisse einer Implantatbehandlung. Über Implantatüberlebensraten bei Patienten mit Diabetes (1 140 Studienteilnehmer) wurde in einer retrospektiven Kohortenstudie berichtet. Die Patienten wurden über einen Zeitraum von 21 Jahren von demselben Chirurgen behandelt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Implantate der meisten in die Studie eingeschlossenen 48 diabetischen Probanden trotz mittelmäßiger bis guter Blutzuckereinstellung statistisch eindeutig geringere Überlebensraten aufwiesen als die der nicht diabetischen Probanden.

Es wurde berichtet, dass es bei diabetischen Probanden einige Monate nach Einsetzen des Implantats zum Implantatverlust kam und dass sich Verluste über zehn Jahre fortsetzten, so dass sich eine Implantatüberlebensrate von 68,75 Prozent mit einem relativen Risiko von 2,75 im Vergleich zu gesunden Probanden ergab [Moy et al., 2005]. In einer weiteren Studie wurde nachgewiesen, dass bei Patienten mit einem HbA1c > 8 Prozent die Implantateinheilung in den ersten zwei bis sechs Wochen eindeutig verzögert war. Je höher der HbA1c, desto länger dauerte diese Phase [Oates et al., 2009]. Dies erklärt zumindest teilweise, weshalb bei Diabetespatienten Implantat-Frühverluste beobachtet werden. Unter der Voraussetzung einer guten Blutzuckereinstellung stellt der Diabetes mellitus keine absolute Kontraindikation für eine Implantatversorgung dar [Kotsovilis et al., 2006].

Auch erbrachte der Vergleich von Patienten mit kontrolliertem Typ-2-Diabetes und nicht diabetischen Probanden im Hinblick auf einen vorzeitigen Implantatverlust keine Unterschiede [Alsaadi et al., 2007]. Allerdings war das Risiko für Periimplantitis bei Patienten mit Diabetes eindeutig erhöht [Ferreira et al., 2006].

Pathomechanismen

Eine Vielzahl von Pathomechanismen, über die Diabetes mellitus zum erhöhten Risiko für Parodontitis beitragen könnte, sind beschrieben worden [Graves et al., 2007; Mealey & Ocampo, 2007; Nishimura et al., 2007; Preshaw et al., 2007]. Da die Unterschiede bezüglich der mikrobiellen Zusammensetzung des subgingivalen Biofilms zwischen Diabetikern und Nichtdiabetikern eher gering sind, werden vor allem Besonderheiten in der Wirtsabwehr oder im Metabolismus der parodontalen Gewebe für die verstärkte parodontale Destruktion bei Diabetes mellitus angenommen. Die wesentlichen Mechanismen, die heute unter dem Aspekt der schädlichen Hyperglykämie diskutiert werden, sind im Folgenden dargestellt. Bei Diabetes mellitus werden vermehrt Endprodukte der fortgeschrittenen Glykierung (Advanced Glycation End Products, AGE) gebildet. AGE entstehen durch nichtenzymatische Bindung von Glukose an freie Amino-Gruppen von Proteinen (Abbildung 3, a). Binden AGE an ihren Rezeptor auf Entzündungszellen, wird die Freisetzung von reaktiven Sauerstoffspezies, Zytokinen und anderen Entzündungsmediatoren aus diesen Zellen verstärkt (Abbildung 3, b). Weiterhin können AGE die Chemotaxis und die Adhäsion von Entzündungszellen und somit die Rekrutierung dieser Zellen ins parodontale Gewebe fördern. AGE begünstigen auch die Apoptose, das heißt den programmierten Zelltod, von Fibroblasten und Osteoblasten, woraus eine verringerte Kollagenund Knochenneubildung resultiert [Graves et al., 2007]. Außerdem wird Kollagen über AGE zusätzlich vernetzt, so dass der Ab- und Umbau sowie die Erneuerung des parodontalen Bindegewebes erschwert sind (Abbildung 3, c). Die pathogenetische Bedeutung der AGE besteht also zum Teil darin, dass sie Entzündungsprozesse im Parodont fördern und die Homöostase der parodontalen Gewebe hemmen können.

Eine Hyperglykämie kann auch direkt zur Freisetzung von schädigenden Entzündungsmediatoren führen. So steigt zum Beispiel die Produktion von Entzündungsmolekülen in Monozyten nach Stimulation mit Glukose an. Erhöhte Konzentrationen von Entzündungsmarkern im systemischen Kreislauf findet man sowohl bei Diabetes als auch bei Parodontitis [Pickup, 2004]. Ein weiterer Pathomechanismus für die Assoziation zwischen Parodontitis und Diabetes mellitus könnte in der vermehrten Freisetzung von Adipokinen bei Diabetes mellitus bestehen. Adipokine sind Moleküle, die im Fettgewebe produziert werden, wie zum Beispiel Leptin, Visfatin, Resistin und Adiponektin. Adipokine regulieren nicht nur die Insulinresistenz und den Energieumsatz, sondern auch Entzündungs- und Wundheilungsprozesse. Veränderte Adipokinspiegel, insbesondere bei adipösen Diabetikern, könnten daher die parodontalen Entzündungsprozesse verstärken [Kardesler et al., 2010].

Einfluss von Parodontitis auf Diabetes mellitus

Assoziations- und Follow-up-Studien Wie auch bei anderen chronischen Entzündungen weisen Diabetiker mit einer Parodontitis im Durchschnitt eine schlechtere glykämische Einstellung als parodontalgesunde Diabetiker auf [Jansson et al., 2006]. Mit Zunahme der Sondierungstiefe oder des entzündeten parodontalen Gewebes [PISA] steigt auch der HbA1c-Wert bei Diabetikern an [Chen et al., 2010; Nesse et al., 2009]. Aber auch bei Individuen, die nicht an einem Diabetes mellitus erkrankt sind, ist der Blutglukosespiegel mit Parodontitis beziehungsweise deren Schweregrad assoziiert [Hayashida et al., 2009; Wolff et al., 2009; Nibali et al., 2007; Saito et al., 2006]. Die Annahme, dass Parodontitis zu einer Erhöhung des Blutglukosespiegels führt, wird insbesondere durch longitudinale Untersuchungen gestützt [Demmer et al., 2008, 2010; Saito et al., 2004; Taylor et al., 1996]. So war das Ausmaß der parodontalen Erkrankungen in einer bevölkerungsbasierten Studie in Vorpommern (SHIP) an 2 793 Individuen ohne Diabetes mellitus zu Studienbeginn mit der Verschlechterung des HbA1c-Werts, beurteilt nach fünf Jahren, positiv assoziiert [Demmer et al., 2010].

In einer japanischen Studie wurden die Daten einer Subgruppe, die zu Beginn der Untersuchung eine normale Glukosetoleranz aufwiesen, ausgewertet. Nach zehn Jahren hatten 81 von den 415 Japanern entweder eine gestörte Glukosetoleranz oder einen Diabetes mellitus. Das Risiko für die gestörte Glukosetoleranz beziehungsweise den Diabetes mellitus erhöhte sich mit Zunahme der bei Studienbeginn gemessenen mittleren Sondierungstiefe [Saito et al., 2004].

Weiterhin ergab eine große amerikanische Studie, dass parodontal-erkrankte Patienten im Vergleich mit parodontal-gesunden Individuen häufiger in den nachfolgenden Jahren einen Diabetes mellitus entwickelten [Demmer et al., 2008].

Insgesamt legen diese Untersuchungen nahe, dass Parodontitis bei Diabetikern die Stoffwechselkontrolle verschlechtert. Darüber hinaus wird durch Parodontitis bei Individuen ohne Diabetes mellitus das Risiko für die Entstehung einer gestörten Glukosetoleranz beziehungsweise eines Diabetes mellitus erhöht. Weitere Longitudinalstudien zeigen außerdem, dass parodontale Erkrankungen auch das Risiko für Diabetesassoziierte Komplikationen steigern [Shultis et al., 2007; Saremi et al., 2005; Taylor et al., 1996; Thorstensson et al., 1996]: So wurde beispielsweise in einer prospektiven Studie an 628 Pima-Indianern (Alter > 35) mit Typ- 2-Diabetes der Einfluss von Parodontitis auf die Sterberate untersucht.

Während der durchschnittlichen Laufzeit von elf Jahren verstarben 204 Personen. Bei Diabetikern mit schwerer Parodontitis war die Sterblichkeit aufgrund einer ischämischen Herzkrankheit 2,3-fach (Abbildung 4, a) und einer diabetischen Nephropathie 8,5-fach (Abbildung 4, b) gegenüber parodontal-gesunden oder weniger schwer erkrankten Diabetikern erhöht [Saremi et al., 2005].

In einer weiteren longitudinalen Studie an 529 Pima-Indianern (Alter > 25) war die Inzidenz von Makroalbuminurie 2,1-fach und die Inzidenz von terminaler Niereninsuffizienz 3,5-fach bei parodontal schwer erkrankten Typ-2-Diabetikern im Vergleich mit parodontal-gesunden oder nur leicht erkrankten Diabetikern erhöht [Shultis et al., 2007]. Dass bei Diabetikern mit schwerer Parodontitis Diabetes-assoziierte Komplikationen häufiger auftreten, wurde in einer schwedischen Verlaufsstudie ebenfalls festgestellt [Thorstensson et al., 1996].

Wenn eine Parodontitis die glykämische Einstellung negativ beeinflusst, dann sollte durch eine effektive Parodontitistherapie die glykämische Einstellung verbessert werden können. Obwohl dieser Nachweis in einigen Studien aus unterschiedlichen Gründen nicht gelungen ist, so deuten doch zahlreiche Untersuchungen daraufhin, dass durch eine effektive parodontale Behandlung der HbA1c-Wert, insbesondere bei Typ-2-Diabetes, reduziert werden kann [Navarro-Sanchez et al., 2007; Singh et al., 2008; O`Connell et al., 2008; Correa et al., 2010; Koromantzos et al., 2011]. In einer Reihe von Meta-Analysen wurde der positive Effekt einer nicht-chirurgischen Parodontitistherapie auf die metabolische Einstellung bei Typ-2-Diabetikern nachgewiesen [Janket et al., 2005; Darré et al., 2008; Teeuw et al., 2010; Simpson et al. 2010] (Abbildung 5). Die HbA1c-Senkung lag je nach Meta-Analyse zwischen 0,4 und 0,8 Prozent (bei HbA1c-Ausgangswerten von sieben bis zehn Prozent). Obwohl weitere multizentrische, randomisierte, kontrollierte Interventionsstudien mit hohen Patientenzahlen und längerem Verlauf notwendig sind, legen die bisherigen Untersuchungen dennoch nahe, dass durch eine effektive Parodontitistherapie die glykämische Einstellung bei parodontal-erkrankten Diabetikern verbessert werden kann. Vergleichbare Daten liegen für Typ-1-Diabetes bisher nicht vor.

Untersuchungen über den Einfluss häuslicher Mundhygienemaßnahmen auf Diabetes mellitus liegen bis dato nicht vor. Der oben angesprochene Effekt einer mechanischen Parodontaltherapie auf die glykämische Einstellung, wie auch klinische Erfahrungen über Auswirkungen häuslicher Mundhygiene auf gingivale und parodontale Entzündungen bei Nichtdiabetikern, lassen jedoch den Schluss zu, dass für die Prävention parodontaler Erkrankungen und den Erhalt parodontaler Gesundheit nach erfolgter zahnärztlicher Intervention auch bei Diabetikern eine gute Compliance der Patienten in Form einer regelmäßigen und sehr guten häuslichen Mundhygiene erforderlich ist.

Pathomechanismen

Die Pathomechanismen, über die parodontale Erkrankungen die glykämische Einstellung und damit auch Diabetes-assoziierte Komplikationen beeinflussen können, sind erst teilweise erforscht. So wird angenommen, dass Parodontitis durch die Erhöhung der systemischen Entzündungsbelastung eines Individuums zur Verschlechterung der glykämischen Einstellung beiträgt: Parodontalpathogene Mikroorganismen, ihre Bestandteile und Produkte können über das ulzerierte Taschenepithel in die systemische Zirkulation gelangen, wo sie die Synthese von Entzündungsmolekülen induzieren. Dabei ist die Bakteriämie umso stärker, desto schwerer die Parodontitis ausgeprägt ist [Geerts et al., 2002].

Ebenso wie Bakterien können auch Entzündungsmoleküle aus dem entzündeten Parodont in die systemische Zirkulation gelangen. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die Spiegel verschiedener Entzündungsmediatoren in der Sulkusflüssigkeit, in der Gingiva und in der systemischen Zirkulation bei einer Parodontitis erhöht sind [Paraskevas et al., 2008; Loos et al., 2000; Bretz et al., 2005; Preiss und Meyle, 1994]. Nach einer erfolgreichen Parodontitistherapie fallen diese Serumspiegel wieder ab [Paraskevas et al., 2008; D’Aiuto et al., 2004; Iwamoto et al., 2001].

Entzündungsmoleküle können die Wirkung des Insulins verringern, das heißt die Insulinresistenz erhöhen, indem sie unter anderem die Aktivierung/Phosphorylierung des Insulinrezeptors und weiterer Moleküle der intrazellulären Insulin-Signalkaskade hemmen [Youngren, 2007; Gual et al., 2005]. Die Parodontitis-bedingte Erhöhung der Serumspiegel von Entzündungsmediatoren könnte zumindest teilweise den negativen Effekt der Parodontitis auf den Blutglukosespiegel erklären.

Präventions- und Therapieempfehlungen

Für das ärztliche Team

Diabetes mellitus ist eine Systemerkrankung, die über Organ-, Sektor- und Fachgrenzen hinausgeht. Die optimale Behandlung der Patienten erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der auch die Mundgesundheit mit einbezieht. Die Kontrolle des Zahnstatus sollte daher grundsätzlich in die Anamnese bei der routinemäßigen Untersuchung von Patienten mit Diabetes mellitus aufgenommen werden. Sofern der Patient einen schlechten Mundgesundheitszustand in Form von Zahnfleischbluten, Zahnlockerung und gegebenenfalls eine CRP-Erhöhung aufweist, ist eine zeitnahe Überweisung zum Zahnmediziner indiziert.

Die Abfrage des Zahnstatus sollte mithilfe eines standardisierten Fragebogens durchgeführt werden, der an den behandelnden Zahnarzt übermittelt und von ihm vervollständigt wird (Anhang). In diesem Zusammenhang sollte außerdem eine Aufklärung des Patienten im Hinblick auf sein erhöhtes Parodontitis-Risiko und die Bedeutung der Mundpflege stattfinden.

Der zeitliche Abstand für die zahnmedizinische Untersuchung von Diabetes-mellitus-Patienten sollte ein Jahr betragen. Wichtig ist, dass hierbei eine Messung der Taschentiefen durchgeführt wird, bei der der Parodontal Screening Index (PSI) erste Informationen über den Schweregrad der Erkrankung und den Behandlungsbedarf liefert.

Für das zahnärztliche Team

Für die parodontale Behandlung und Nachbetreuung von Diabetikern müssen einige Besonderheiten Beachtung finden [Kidambi et al., 2008; Rees et al., 2000]. Regelmäßige zahnärztliche Kontrolluntersuchungen, professionelle Zahnreinigungen und ein effektives subgingivales Debridement sind für parodontal-erkrankte Diabetiker besonders wichtig. Zusätzlich muss von Patienten mit einem erhöhten parodontalen Risiko eine sehr gute häusliche Mundhygiene erwartet werden. Neben der regelmäßigen täglichen Entfernung des Plaquebiofilms mithilfe einer Zahnbürste gehören hierzu auch die regelmäßige eingeübte Verwendung von Zahnseide und Zahnzwischenraumbürsten. [Staehle et al., 2007; Kressin et al., 2006]. Die mechanische Plaquekontrolle kann bei chronischen parodontalen Entzündungen durch die Verwendung von Mundhygieneprodukten (Zahnpasten und Mundspülungen) unterstützt werden, die eine klinisch relevante Antiplaque-Wirkung sowie sinnvollerweise auch einen entzündungshemmenden Effekt aufweisen [Gaffar et al., 1995; Rosling et al., 1997; Ellwood et al., 1998; Cullinan et al., 2003].

Im Rahmen der Anamneseerhebung (Anhang) sollte erfragt werden, an welchem Diabetestyp der Patient leidet, seit wann der Diabetes mellitus besteht, ob und welche Diabetes-assoziierten Komplikationen vorliegen, wie der Diabetes augenblicklich therapiert wird und wie der Diabetes eingestellt ist (HbA1c-Wert).

Interdisziplinäre Therapie

Für die interdisziplinäre Behandlung ist der Kontakt zwischen behandelndem Hausarzt beziehungsweise Diabetologen und dem Parodontologen erforderlich (Abbildung 6). Der Patient sollte über den bidirektionalen Zusammenhang zwischen Diabetes mellitus und Parodontitis aufgeklärt werden [Santacroce et al., 2010; Preshaw et al., 2007].

Die erfolgreiche Therapie sowohl der Parodontitis als auch des Diabetes mellitus setzt eine sehr gute Patientencompliance voraus. Für den Langzeiterfolg der parodontalen Therapie sind die Sicherstellung einer adäquaten glykämischen Einstellung und die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Patient, Zahnarzt und Arzt entscheidend. Auf der anderen Seite ist bekannt, dass sich eine optimale parodontologische und dentalhygienische Behandlung günstig auf die Blutzuckerkontrolle von Diabetikern auswirkt, ja sogar langfristig zur Senkung des HbA1c-Werts beitragen kann.

Die Behandlung einer Parodontitis muss daher integraler Bestandteil des Diabetesmanagements sein. Daher ist die Frage wichtig, welche zeitliche Abfolge es zwischen dem Beginn oder der Exazerbation einer Parodontal-Erkrankung und dem Beginn extra-oraler Diabetes-bedingter Komplikationen gibt.

Eine praktische Empfehlung kann heute nur lauten: Jeder Diabetiker sollte zum Zahnarzt (besser Parodontologen) überwiesen werden, wie auch umgekehrt. Damit könnte die Zahnarztpraxis ein Screening-Ort für Diabetes mellitus sein [Strauss et al., 2010].

Zusammenfassung

Diabetes und Parodontitis sind weit verbreitete chronische Erkrankungen mit einer zunehmenden Prävalenz in der deutschen Bevölkerung. Zwischen beiden Erkrankungen besteht eine bidirektionale Beziehung. Der Diabetes begünstigt die Entstehung, die Progression und den Schweregrad einer Parodontitis. Die Parodontitis erschwert die glykämische Kontrolle des Diabetes, erhöht das Risiko Diabetes-assoziierter Komplikationen und möglicherweise sogar für dessen Entstehung. Angesichts der vorliegenden Evidenz, die gerade in der Ärzteschaft noch nicht hinreichend kommuniziert worden ist, hat ein Expertengremium, bestehend aus vier Diabetologen und vier Parodontologen im vorliegenden Konsensusdokument die folgenden Fragen adressiert:

1. Welchen Einfluss hat Diabetes mellitus auf Parodontitis und die parodontale Therapie?

2. Welchen Einfluss hat Parodontitis auf Diabetes mellitus?

3. Was sind die praktischen Konsequenzen, die sich daraus für interdisziplinäre Behandlungsstrategien ableiten?

Fazit: Die Behandlung parodontaler Infektionen sollte integraler Bestandteil des Diabetesmanagements werden, wohingegen die Sicherstellung einer adäquaten glykämischen Einstellung wesentlicher Bestandteil einer erfolgreichen Parodontaltherapie ist.

Prof. Dr. James DeschnerPoliklinik für Parodontologie, Zahnerhaltungund Präventive ZahnheilkundeUniversitätsklinikum BonnWelschnonnenstr. 1753111 Bonn

Prof. Dr. Thomas HaakDiabeteszentrum MergentheimTheodor-Klotzbücher-Str. 1297980 Bad Mergentheim

Prof. Dr. Dr. Søren JepsenPoliklinik für Parodontologie, Zahnerhaltungund Präventive ZahnheilkundeUniversitätsklinikum BonnWelschnonnenstr. 1753111 Bonn

Prof. Dr. Thomas KocherAbteilung für Parodontologie, Zentrum fürZMK-Heilkunde, Universität GreifswaldRotgerberstr. 817475 Greifswald

Prof. Dr. Hellmut MehnertInstitut für DiabetesforschungKrankenhaus München-SchwabingKölner Platz 180804 München

Prof. Dr. Jörg MeylePoliklinik für ParodontologieUniversitätsklinikum GießenSchlangenzahl 1435392 Gießen

Prof. Dr. Petra-Maria Schumm-DraegerKlinik für Endokrinologie, Diabetologie undAngiologieStädtisches Klinikum GmbH MünchenKlinikum Bogenhausen81925 München

Prof. Dr. Diethelm TschöpeHerz- und Diabeteszentrum NRWUniversitätsklinik der Ruhr-UniversitätGeorgstr. 1132545 Bad Oeynhausen

Korrespondenzadresse:Prof. Dr. Dr. Søren Jepsen, M.S.Poliklinik für Parodontologie,Zahnerhaltung und Präventive ZHKUniversitätsklinikum BonnWelschnonnenstr. 1753111 Bonnjepsen@uni-bonn.de

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Bedeutende Komplikationen und Folgeerkrankungen des Diabetes mellitus [nach: Skamagas et al., 2008]  

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