„Lehrstück“ für die Demokratie – Rostocker Zahnheilkunde
Die Integration der Zahnmedizin in die Medizin sowie intensive Forschung und Lehre bei knappen öffentlichen Mitteln haben die Geschichte der Rostocker Zahnklinik geprägt. Mit viel Liebe zum Detail und nach umfassender Auswertung historischer Quellen geben die Autoren – der emeritierte Zahnmediziner und ehemalige Direktor der Klinik und Polikliniken für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität Rostock, Prof. Dr. Armin Andrä, und der emeritierte Geschäftsführende Direktor der Klinik und Polikliniken für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Prof. Dr. Heinrich von Schwanewede – in ihrem Buch „Vom Barnieramt zur modernen Zahnklinik“ einen 430-seitigen Überblick über die Rostocker Zahnmedizin von den 1950er-Jahren bis zum Jahr 2009.
Im Jahr 1960 zählte man 176 Studierende, zehn Jahre später bereits 277 Studenten. 1989 studierten 255 Frauen und Männer Zahnheilkunde in Rostock – für die kleine Universität eine stolze Anzahl. Im „Spaltzentrum Nord“ wurden im Zeitraum von 1956 bis 1990 insgesamt 1 893 Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, isolierten Gaumen- oder Velumspalten versorgt und betreut.
Die Geschichte der Zahnheilkunde in Rostock ist eng mit den Direktoren Oskar Herfert (1955 bis 1960), Eva-Maria Sobkowiak (1970 bis 1983), Armin Andrä (1983 bis 1991) und Heinrich von Schwanewede (1991 bis 2008) verbunden. Galt es in vielen Jahrzehnten mit Materialmangel zu kämpfen und kreative Lösungen zu erdenken, stand die Zeit nach 1989 erst im personellen Umbruch und dann im Zeichen des Kampfes um den Erhalt.
Obwohl die infrastrukturellen Gegebenheiten, die fachliche Repräsentanz und die Akzeptanz bei Studienbewerbern von externen Gutachtern als hervorragend eingeschätzt wurden, schloss die Landesregierung aus Kapazitätsgründen im Jahr 1997 den Studiengang Zahnmedizin. Massive Proteste der Bevölkerung und das gemeinsame Handeln von Medizinischer Fakultät, Universität, Zahnärzte- und Ärztekammer sowie Landtag bewirkten 2002 die Rücknahme dieser Entscheidung.
Demonstrierten im Jahr 1995 rund 4 000 Rostocker, waren es zwei Jahre später 10 000 Demonstranten. Die erste Volksinitiative zählte 40 000 Unterschriften. Da diese aus formalen Gründen abgelehnt, schloss sich eine zweite Volksinitiative an, die 30 000 Unterschriften vorweisen konnte.
Das Buch skizziert den politischen Kampf um die Wiedereröffnung des Studiengangs Zahnmedizin und ist damit ein Lehrstück für die Demokratie. Es zeigt den Lohn für die Mühen, wenn viele an einem Strang ziehen. Das Hochschulranking des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) gibt der Entscheidung recht: Bei einem Vergleich von 38 in- und ausländischen Hochschulen im deutschsprachigen Raum nahm die Rostocker Zahnmedizin gemeinsam mit der Universität Gießen die Spitzenposition ein. Und dies angesichts der schwierigen Bedingungen in Rostock. Ausführlich werden die damaligen und die aktuellen Forschungsleistungen sowie die ehemaligen und die aktuellen Mitarbeiter gewürdigt. So konnte im Jahr 1993 mit dem „ORATEL-Projekt“ ein erstes internationales Forschungsprojekt starten. Dieses Projekt stand unter der Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und war als einziges zahnmedizinisches Vorhaben in das Programm „Advanced Information in Medicine“ (AIM) der Europäischen Union integriert. Im Jahr 2005 wurden Rostocker Zahnmediziner für die Langzeitstudien der Gebissentwicklung auf dem sechsten Weltkongress für Kieferorthopädie in Paris ausgezeichnet.
Auch anekdotische Details kommen nicht zu kurz: Prof. Eberhart Reumuth brachte einige Studenten damit in Verlegenheit, dass er bei den Testaten in der Vorklinik auch Fragen zu Komponisten und Virtuosen sowie zu Werken aus dem Bereich der Musik stellte. Studierende wurden von Prof. Eva-Maria Sobkowiak mit einer Vorlesung um sieben Uhr morgens gequält. In den 1970er-Jahren betätigten sich die Zahnmediziner Prof. Armin Andrä, Dr. Volker Bienengräber, Dr. Wolfgang Birke und Dr. Michael Sonnenburg als Hilfsarbeiter und machten unter Anleitung eines Fachkundigen an einem Sonntagvormittag einen Durchbruch zwischen zwei Zimmern. So entstand ein modernes Wachzimmer auf Station. Neben launigen Erinnerungen und Würdigungen der Leistungen vieler Mitarbeiter finden sich durchaus kritische Reflexionen.
Das Buch ist ein wertvolles Zeitdokument, mit dem man den Alltag zahnärztlicher Praxis, wissenschaftlicher Forschung und studentischer Ausbildung nachvollziehen kann.
Renate Heusch-Lahl, Rostock