Parteiisch
Herr Bertelsen ist sich nicht zu schade, vor „Kollegoiden“ zu warnen. Diese Argumentation ist ein Beleg für die Gräben zwischen der naturwissenschaftlichen und der ganzheitlichen Medizin und Ausdruck des Bemühens, sie zu vertiefen. Die gesundheitlichen Herausforderungen der Gegenwart verlangen jedoch eine Synthese und ein sich gegenseitig befruchtendes Verhältnis beider Auffassungen von Wissenschaft.
Hinsichtlich der Therapieoptionen wissenschaftlicher Medizin sieht Prof. Bernard Lown (der Kardiologe, der den Defibrillator erfunden hat) das Problem, dass „nur etwa 25 Prozent aller Patienten“ erfolgreich behandelt würden, jedoch 75 Prozent mit Problemen kämen, „die für die medizinische Wissenschaft nur schwer lösbar“ seien [Lown, B., 2003: Die verlorene Kunst des Heilens – Anleitung zum Umdenken, Suhrkamp TB 3574, Stuttgart, S. 35, S. 157f.]. Mag auch Fortbildung unterschiedlichster Art der Kollegenschaft zu Recht ans Herz gelegt werden, mehr Kompetenz in Explantation und Totalprothetik löst die von Lown benannte Krise in der Medizin keineswegs.
Auch aus erkenntnistheoretischer Sicht ist die dichotomische Zuschreibung des Unseriösen an die Adresse der „Alternativmedizin“ und die Proklamation der Seriösität für die „Evidenzbasierte Medizin“ eher Beleg eines szientistischen quasireligiösen Fanatismus als eine praktisch brauchbare Scheidelinie.
Bertelsens Artikel ist ein Beipiel für eine Wissenschaft, die aufgrund ihrer Spezialisierung in den Fehler verfällt, ihre Wahrnehmung zu generalisieren, eine Tendenz, die schon Victor Frankl als kritikwürdig hervorgehoben hat:
„Heute leben wir in einem Zeitalter der Spezialisten. […] Die terribles généralisateurs aber bleiben nicht einmal bei ihrem Leisten, sondern verallgemeinern ihre Forschungsergebnisse“ [Frankl, Victor E., 2007: Ärztliche Seelsorge, 11. Auflage, dtv München, S. 46].
Demgegenüber möchte ich ein Wissenschaftsverständnis entwickelt sehen, das Albert Einstein definierte: „Wissenschaft [...] ist eine Tätigkeit von Menschen, die in der Lage sind, logische Rationalität mit Intuition zu kombinieren (im Gegensatz zur Spengler’schen Annahme ihrer Unvereinbarkeit)“ [Holton, G., 2000: Das Antiwissenschafts-Phänomen; In: G. Holton (Hrsg.): Wissenschaft und Anti-Wissenschaft, Springer Wien/New York, S. 159], eine Sicht, die über den positivistischen Reduktionismus hinausgeht, der sich seit Virchow im 19. Jahrhundert vor allem in den Naturwissenschaften etabliert hat.
Karen Gloy verweist darauf, dass „ein neues Paradigma, basierend auf dem Gedanken der Selbstorganisation, der Chaosforschung und fraktalen Geometrie im Begriffe [sei], das alte [reduktionistische Modell] definitiv zu verdrängen,“ [Gloy, Karen, 1996: Das Verständnis der Natur, Band 1: Die Geschichte des naturwissenschaftlichen Denkens; Band 2: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens, C. H. Beck, München, Band 2, S. 155].
Eine konstruktive Auseinandersetzung mit diesem neuen Paradigma wäre anders zu führen, als Herr Bertelsen es vorgibt. Es stände der zm als Zeitschrift aller deutschen Zahnärzte gut zu Gesicht, die Diskussion darüber zu fördern, statt durch parteiische Veröffentlichungsbeschränkungen wie in der Vergangenheit zu verhindern.
Dr. med. dent. Norbert Guggenbichler
Louisenstr. 19
61348 Bad Homburg