Barmer GEK Arzneimittelreport

Viel hilft nicht immer viel

Heftarchiv Gesellschaft
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Viele Menschen in Deutschland nehmen zu viele Medikamente. Das zeigt der aktuelle Arzneimittelreport von Deutschlands größter Krankenkasse, der Barmer GEK. Die Polypharmazie kann für die Patienten ungewollte und sogar gefährliche Auswirkungen haben. Besonders Kinder und Senioren sind gefährdet.

Von „bedenklichen, teilweise beklemmenden Verordnungstrends“ sprach der stellvertretende Barmer-GEK-Vorsitzende Dr. Rolf-Ulrich Schlenker bei der Vorstellung des Reports in Berlin. Kinder erhalten vor allem zu viele Psychopharmaka, demente Senioren zu viele Beruhigungsmittel und ältere Menschen nehmen zu viele Wirkstoffe auf einmal – so lassen sich die Ergebnisse des Reports zusammenfassen, für den die Autoren um den Bremer Versorgungsforscher Prof. Gerd Glaeske die Daten von knapp 9,1 Millionen Versicherten aus dem Jahr 2012 analysiert haben.

Fünf Wirkstoffe täglich

„Auf dem Boden der alternden Gesellschaft gedeiht die Polypharmazie“, sagte Schlenker. Die Zahlen der Untersuchung geben ihm Recht: Ein Drittel der Menschen über 65 Jahre ist von Polypharmazie betroffen, nimmt also mehr als fünf Arzneimittelwirkstoffe täglich ein. Bei den Hochbetagten zwischen 80 und 94 Jahren ist es sogar fast jeder Zweite.

Für Glaeske ist die Polypharmazie eine Folge der Multimorbidität, die in einer älter werdenden Gesellschaft automatisch zunehme. Bei rund der Hälfte der über 65-Jährigen werden gleichzeitig drei und mehr Krankheiten diagnostiziert und behandelt. Im Durchschnitt nehmen Männer über 65 7,3 Wirkstoffe pro Tag ein, bei Frauen sind es 7,2. „Darunter leidet vor allem die Therapietreue“, erklärte Glaeske. Jede zehnte  Krankenhauseinweisung älterer Menschen sei arzneimittelbedingt.

Bedenklich sei vor allem der Einsatz von Benzodiazepinen bei Menschen mit einer Demenzerkrankung. Diese Schlaf- und Beruhigungsmittel (Tranquilizer) werden nach den Zahlen der Krankenkasse zu 70 Prozent an Frauen verschrieben. „Das Risiko, Benzodiazepine verordnet zu bekommen, ist bei Menschen mit Demenz um das 1,5-Fache erhöht“, sagte der Bremer Versorgungsforscher. Er sieht das Problem vor allem im Mangel an Pflegekräften begründet: Pflegerische Leistungen würden durch billige Arzneimittel ausgetauscht. Von den über 85-jährigen Frauen mit Demenz erhalten fast 17 Prozent Benzodiazepine.

Mit dem Wirkstoff verbunden sei der (weitere) Verlust kognitiver Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Erinnerung oder Lernen, berichtete Glaeske. Werden diese plötzlich abgesetzt, bestehe die Gefahr eines Deliriums. „Ohne Zweifel sind viele ältere Menschen von Benzodiazepin-haltigen Arzneimitteln abhängig. Sie bekommen sie vermutlich oft nur, um quälende Entzugssymptome zu vermeiden.“ Denkbar sei, dass sich nach langen Jahren der Abhängigkeit eher eine Demenz entwickle als bei Menschen, die deutlich seltener solche Mittel eingenommen haben.

Psychopillen für Kinder

Besorgniserregend hoch stufen die Forscher auch die Verordnungszahlen von Antipsychotika für Kinder und Jugendliche ein.

Von 2005 bis 2012 sind die Verschreibungen um 41 Prozent gestiegen. Verursacht werden die Zuwächse vor allem durch neuere Präparate, während die Verschreibungen älterer Medikamente leicht rückläufig sind.

Ein differenziertes Bild zeigt der Blick auf einzelne Altersgruppen. Bei Kleinkindern bis vier Jahre verschreiben Ärzte kaum noch Antipsychotika (auch als Neuroleptika bekannt). Bei allen anderen steigen die Verordnungszahlen. In der Altersgruppe von zehn bis 19 Jahren hat sich der Anteil der Personen mit Neuroleptika-Verordnungen zwischen 2006 und 2012 fast verdoppelt. „Eine medizinische Erklärung dafür lässt sich nicht direkt herleiten“, betonte Glaeske. Die Prävalenz für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen steige nicht an, auch beim Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) scheine ein Plateau erreicht worden zu sein.

Glaeske berichtete von den Nebenwirkungen, unter denen viele Kinder leiden, die mit Antipsychotika behandelt werden: Neben Kopfschmerzen, Somnolenz und Benommenheit kann es auch zu Gewichtszunahme, Hypertonie, Schlaflosigkeit und Dyskinesien (Störungen des Bewegungsablaufs, vor allem Zitterbewegungen und Krämpfe) kommen. Letztere verschwinden oft nicht, auch wenn das Medikament abgesetzt wurde.

Mehr Ausgaben im Osten

Insgesamt sind 2012 sowohl die Zahl der verordneten Medikamente (minus 2,2 Prozent) als auch die Arzneimittelausgaben (minus 1,1 Prozent) im Vergleich zum Vorjahr gesunken. Die durchschnittlichen Ausgaben für 100 Versicherte lagen bei rund 42 750 Euro. Sie sind aber regional sehr unterschiedlich verteilt. Die Spanne liegt zwischen 31 900 und 47 500 Euro – ein Unterschied von knapp 50 Prozent.

Am meisten wird in den neuen Bundesländern für Arzneimittel ausgegeben, vergleichweise wenig dagegen in den südlichen Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg. Hier spielen laut Report Aspekte des Altersdurchschnitts und der damit zusammenhängenden Morbidität, aber auch Stadt-Land-Unterschiede, soziale Strukturen und die Arbeitslosigkeit eine Rolle.

Nach Aussagen Glaeskes werden neue Arzneimittel von 40 Prozent aller Ärzte gerne verordnet, besonders jedoch in den neuen Bundesländern. Dies könne eine Erklärung für die höheren Ausgaben dort sein. In den alten Bundesländern gebe es möglicherweise eine höhere „Gewöhnung“ an den Einfluss von Pharmareferenten, der sich im Osten erst noch ausprägen müsse.

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