Ein lukratives Geschäft
In diesem Jahr jährt sich zum 200. Mal die Völkerschlacht bei Leipzig. Die Kämpfe gegen Napoleon, der Russlandfeldzug 1812 und nicht zuletzt das Ende Napoleons bei Waterloo 1815 waren Massengemetzel, die Tausende von Soldaten das Leben kosteten. Die finale Bataille gegen den Franzosen- kaiser gab aber auch einer ethisch frag- würdigen Praxis ihren Namen: gefallenen Soldaten die Zähne herauszureißen, diese zu verkaufen und zur Herstellung von Prothetik zu verwenden oder gar tote Zähne anderen Patienten einzusetzen.
Das Sammeln dieser sogenannten „Waterloo-Zähne“ gab es aber schon nach der Völkerschlacht von Leipzig vom 16. bis zum 19. Oktober 1813. Dort, wo sich rund 600 000 Soldaten aus mehreren europäischen Staaten gegenüberstanden, verloren über 90 000 von ihnen das Leben. Nachdem der Schlachtenlärm abgeklungen war, wurden die Kampfplätze in der Peripherie von Leipzig von einer Schar Plünderer heimgesucht, die versuchten, alles was Wert besaß, „zu ergattern. Eisenteile, Leder, Kleidungsstücke, Patronenhülsen“ [Lorenzen, Jan N.: Die großen Schlachten, Mythen, Menschenschicksale, S. 133]. Aber am schlimmsten waren die Fledderer, „welche den Toten die Kinnladen aufbrachen und die schönsten und weißesten Zähne herausrissen, um sie zum Einsetzen in der Folge zu verkaufen“. Diese Aussage stammt vom Leipziger Stadtreferenten, der auch zu berichten wusste, „dass solche Zähne, die nur selten zu haben sind und statt deren man sich immer mit Kälberzähnen behelfen muss, sehr teuer bezahlt werden“ [Lorenzen, S. 133]
Tote Prothetik
Aufgrund der hohen Zahl an Opfern in der Leipziger Völkerschlacht war das Geschäft der Leichenfledderer finanziell sehr lohnend. In der Regel wurden aus den Zähnen dann Prothesen gefertigt. Meist wurden die Zähne dazu in einem Elfenbeinbett mit Metallstiften befestigt. Diese „Human-Prothetik“ war sehr teuer und nur für die wohlhabenden Schichten erschwinglich. Ein berühmter Träger einer solchen Prothetik war der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, George Washington (1732–1799), der sie von seinem Zahnarzt Dr. John Greenwood (1760–1819) erhielt [Vgl. die ZahnarztWoche, 46/2007, S.40 und BZB, April 2012, S.71 – siehe auch Rheinisches Zahnärzteblatt, 6/2009, S. 341].
Das Militärhistorische Museum in Dresden ist im Besitz eines oberen Teils einer Humanprothese und das Deutsche Historische Museum in Berlin verfügt über eine untere Humanprothese aus „Waterloo-Zähnen“. Die Praxis, Prothesen mit menschlichen Zähnen herzustellen, blieb während des 19. Jahrhunderts eine ganze Zeit lang bestehen, denn Porzellanzähnen, die ab den 1840er-Jahren verfügbar waren, fehlte (noch) die Bruchbeständigkeit.
Porzellan statt Walrossbein
Die ersten Versuche mit praxistauglichen Porzellanprothesen, bei denen auch die Basis aus Porzellan bestand, machte Ende des 18. Jahrhunderts der Pariser Zahnarzt Nicholas Dubois de Chemant (1753–1824). Der eigentliche Urheber dieser Idee soll der französische Apotheker Alexis Duchâteau (1714–1792) gewesen sein. Der Vorteil von Porzellanzähnen zu Prothesen aus Bein war, dass sie säurebeständig waren und keine unerwünschten Nebenerscheinungen hatten.
So berichtet der Präsident der Société Royale de Médecine, Geoffroy, über den Vorteil der Chemant-Prothesen: „Ich erkläre, daß der Erfolg meine Erwartungen übersteigt. Ich bestätige weiterhin, daß ich mit den Zähnen aus Walroßbein, die ich nur ein Jahr trug, äußerst unzufrieden war, da sie meinen Atem verpesteten und alle Speisen mit einem unangenehmen Beigeschmack versahen, so daß ich mich nicht nur von aller Gesellschaft zurückzog, sondern auch die Zähne zum Essen herausnahm“ [zitiert nach: Woodforde, John: Die merkwürdige Geschichte der falschen Zähne, München 1968, S. 53]. Dubois de Chemant immigrierte 1792 nach Großbritannien, wo er noch Jahre ein Monopol auf seine Zahnprothesen besaß.
Mit der Zeit gerieten diese ersten Vollprothesen aus Porzellan außer Gebrauch. Die große Phase der Human-Prothesen setzte ein. Erst ab circa 1845 kamen wieder stärker Porzellan-Vollprothesen, wie sie der amerikanische Zahnarzt Mahlon Loomis (1826–1886) produzierte, oder auch einzelne Porzellanzähne in einer Basis in Mode. Trotz der zunehmenden Verwendung von Porzellan als Material für Zahnprothesen nahm die Verarbeitung von „Waterloo- Zähnen“ nicht völlig ab. Auch in der zweiten Jahrhunderthälfte gab es zunächst noch einen regen Markt für die Zähne von den Schlachtfeldern.
Der Krieg garantiert den Nachschub
In der Lebensgeschichte des britischen Arztes Sir Astley Cooper (1768–1841), der Sergeant-Surgeon von George IV. und William IV. von Großbritannien und Irland war, kommen die Waterloo-Zähne in humoristischer Form zur Sprache. Ein sich in Zahnnöten befindender Butler tut den Hilferuf: „Oh, Sir, only let there be a battle, and there’ll be no want of teeth. I’ll draw them as fast as the men are knocked down” [Cooper, Bransby Blake: The Life of Sir Astley Cooper, 1. Bd., London 1843, S. 401].
Die Londoner Abendzeitung brachte in ihrem Gründungsjahr 1865 einen Aufsehen erregenden Artikel über die weiterhin gängige Praxis, Zähne toter Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg zu sammeln.
Der britische Dichter Alfred Lord Tennyson (1809–1892) beschrieb die Leichenfledderei so: „Hordes of ghoulish tooth-drawers (as the Pall Mall Gazette reported in a shocking article in 1865) following the battles, from Waterloo to the American Civil War, collected the teeth of the slain soldiers, packed them in boxes, and posted them to London, where they com-manded high prices. It is a transcendental conceit, but one cannot resist surmising that the Laureate’s substitute teeth might have been extracted from the ’jaws of Death’ and the ’mouth of Hell’!” [The letters of Alfred Lord Tennyson I., 1821–1850, 1981, S. 33].
Diese Zähne müssen damals in großen Mengen nach Großbritannien gelangt sein. Somit haben sich viele wohlhabende Briten mit den Zähnen toter Amerikaner „geschmückt“. In den 1860er-Jahren fanden sich „Waterloo-Zähne“ in Katalogen für Zahnärztebedarf.
Es lässt sich vermuten, dass der Nachschub an Zähnen nicht nur von den „battlefields“ des Amerikanischen Bürgerkrieges kam, sondern dass auch die Toten aus den europäischen Kriegen, wie der Schlacht von Solferino 1859 oder dem Krimkrieg von 1853 bis 1856, ihre Zähne lassen mussten.
Den florierenden Handel mit Zähnen von Schlachtfeldern gibt auch der Würzburger Arzt Karl Joseph Ringelmann (1776–1854) in seinem Werk „Der Organismus des Mundes, besonders der Zähne“ aus den 1820er-Jahren wieder. Ringelmann, der sich selbst auch Mund- und Zahnarzt nennt, hatte im Jahre 1815 von der Universität Würzburg die Erlaubnis erhalten, Vorlesungen in „Zahnarzneykunst“ zu halten und gilt als Pionier der wissenschaftlichen Zahnheilkunde an der Universität Würzburg.
Die Grenze zur Barbarei
Der Beitrag Ringelmanns zeigt, dass sich die Thematik der Waterloo-Zähne nicht nur auf die Verarbeitung in Prothetik beschränkte, sondern die Medizin der Zeit sich bereits mit dem Thema der allogenen Zahntransplan-tation auseinandersetzte: „Nur muss man dazu Zähne von jungen, gesunden und gewaltsam umgekommenen, nicht aber an irgend einer Krankheit verstorbenen Sub-jekten verwenden“ [Ringelmann, K. J.: Der Organismus des Mundes, besonders der Zähne, deren Krankheiten und Ersetzungen für Jedermann insbesondere für Aeltern, Erzieher- und Lehrer, Nürnberg 1824, S. 527]. Das Entnehmen von gesunden Zähnen bei lebenden Menschen aus niederen sozialen Schichten für die Reichen hält er für ethisch verwerflich, denn dies sei ein barbarisches Verfahren, „wodurch sich die Heilkunst als eine entweihte Dienerin des höchsten Grades menschlicher Verworfenheit bekundet“ [Ringelmann, S. 513].
Diese unmoralische Praxis verewigte Victor Hugo (1802–1885) literarisch in seinem Roman „Les Misérables“. Dort hat die arbeitslos gewordene Fantine ihre Schneidezähne verkauft, um mit dem Geld ihrer angeblich kranken Tochter Cosette zu helfen (siehe Kasten).
Grundsätzlich hält Ringelmann das Versetzen von Schneidezähnen eines Toten in ein Zahnfach eines Lebenden unter bestimmten Bedingungen für möglich. „Die großen Backenzähne können nie versetzt werden, weil sie zuviele und verschieden gestaltete Wurzeln haben, und es beinahe physisch unmöglich ist, passende Zähne in ihre Fächer zu finden“ [Ringelmann, S. 521]. Das Versetzen eines Zahnes muss Ringelmann zufolge direkt nach dem Ziehen des kranken Zahnes erfolgen, damit das Zahnfach den fremden Zahn noch aufnehmen kann. Das Zahnfleisch des Empfängers müsse gesund sein, nicht „von den Zähnen getrennt und los, oder schwammicht, oder skorbutisch“ [Ringelmann, S. 523]. Zudem müsse der Zahnempfänger über 20 Jahre und nicht älter als 35 bis 40 sein.
Wenn alle Voraussetzungen laut Ringelmann erfüllt sind, „so kann man dann den ausgesuchten und einige Stunden in lauem Wasser gelegenen Zahn, der immer etwas kleiner, als der ausgezogene, und ihm besonders an den Wurzeln so ähnlich als möglich, ich möchte sagen, ganz gleich seyn muß, nach vorheriger behutsamen Reinigung des Zahn-Fachs vom Blute ganz langsam in dasselbe schieben und an seine Nachbarn befestigen, daß er nicht so leicht bewegt werden könne. […] Bei einer genauen Behandlung befestigt sich der neue Zahn durch die natürliche Wirkung des Zahnfachs, welches sich an dem Umfange desselben fest anschließt, zuweilen sehr bald, zuweilen später“ [Ringelmann, S. 525]. Als Zeitraum nennt Ringelmann acht bis zehn Tage. Er verschweigt aber nicht, dass eine Reihe von Komplikationen zum Nichtgelingen der Transplantation führen können.
Nein zur Transplantation
Über den Erfolg einer allogenen Transplantation äußerte sich auch der Arzt Dr. med. Moritz Mombert in den 1830er-Jahren. Mombert (1799–1859) hatte 1824 in Marburg an der Lahn promoviert und sich in Wanfried an der Werra in Hessen als Arzt niedergelassen. „Setzt man nun statt der lebendigen Zähne todte Zähne ein, d. h. solche, die auf Schlachtfeldern gesammelt, schon lange Zeit in Spiritus oder auch trocken aufbewahrt worden, so kann man zwar einen aussuchen, dessen Wurzel mit der des eben ausgezogenen Zahnes die meiste Aehnlichkeit hat, und die Handlung verliert viel von ihrem Schauerlichen, indem keine blutige Operation bei einem Unschuldigen vorherzugehen braucht, aber dem ungeachtet ist sie auch hier zu widerrathen, indem die Verpflanzung der todten Zähne noch seltener gelingt als die der Lebendigen. Es sollte daher die Transplantation der Zähne ganz untersagt, am wenigsten aber herumreisenden Zahnoperateuers gestattet seyn, die, nachdem sie die Operation verrichtet, wegreisen, und sich um den Erfolg weiter nicht bekümmern“ [Mombert, M.: Memorabilien für Aerzte über einige Zahnkrankheiten, nebst Würdigung einiger Zahnoperationen, in: Journal der practischen Heilkunde, Hrsg. C. W. Hufeland, Band LXXX, 1835, III., S. 42].
Momberts Rat, die allogene Transplantation von toten oder lebendigen Zähnen zu unterlassen, deckt sich mit der Meinung der modernen Medizin. Denn anders als bei der autogenen Transplantation, die heute ein fester Bestandteil der Zahnmedizin ist, hat die allogene Transplantation keinen andauernden Erfolg.
Mehr Würde für die Toten
Nach den Meldungen über die Zähne suchenden Leichenfledderer aus dem amerikanischen Bürgerkrieg finden sich keine Berichte mehr über diese Praktiken. Dafür lassen sich zwei mögliche Gründe finden. Zum einen wurden die Porzellanzähne in ihrer Haltbarkeit immer besser. Der andere Grund dürfte der veränderte Umgang mit Kriegsgefangenen und Gefallenen nach der Unterzeichnung der ersten Genfer Konvention vom 22. August 1864 gewesen sein. Auf der international besetzten Konferenz gingen zwölf europäische Staaten einen revolutionären Schritt hin zu mehr Humanität.
Zu den ersten Unterzeichnerstaaten gehörten das Kaiserreich Frankreich, die Königreiche Preußen, Spanien, Italien, Portugal, Dänemark, die Niederlande, Belgien und Württemberg, das Großherzogtum Baden und Hessen sowie die Schweiz. Die Haager Landkriegsordnung von 1907 wurde auch im Reichs-Gesetzblatt veröffentlicht. Dort steht unter Kapitel I. Verwunderte und Kranke, Artikel 3 (Pflicht des Siegers): „Nach jedem Kampf soll die das Schlachtfeld behauptende Partei Maßnahmen treffen, um die Verwundeten aufzusuchen und sie, ebenso wie die Gefallenen, gegen Beraubung und schlechte Behandlung zu schützen. Sie sollen darüber wachen, daß der Beerdigung und Verbrennung der Gefallenen eine sorgfältige Leichenschau vorangeht“ [Reich-Gesetzblatt, Nr. 25, 8. August 1907, S. 279ff.]. Die hier zitierte Vereinbarung setzt der Praxis der Leichenfledderei ein offizielles Ende.
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