Der besondere Fall

Hypoplastische Unterkieferanteile

Bei einem aus einem anderen Grund angeordneten Orthopantomogramm ergab sich ein interessanter und seltener Zufallsbefund. Das lässt den Auftrag an jeden Zahnarzt zu, bei einer Übersichtsaufnahme den Fokus nicht nur auf die zu untersuchenden Zähne zu richten, sondern auch andere, in der Aufnahme sichtbare Strukturen genauer zu betrachten.

Philipp A. Kley, Berthold H. Hell

Der Patient stellte sich mit einer Überweisung seines Hauszahnarztes bezüglich einer im Orthopantomogramm eindrucksvollen Aufhellung in der Unterkieferfront in der Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgischen Ambulanz vor (Abbildung 1).

Der allgemeinanamnestisch gesunde 49-jährige Patient gab keine Schmerzen an. Eine kieferorthopädische Behandlung verneinte er, ebenso wie ein stattgefundenes Trauma im Gesichtsbereich.

Bei der klinischen Untersuchung zeigte sich von extraoral eine seitengleiche Sensibilität und Motorik, eine uneingeschränkte Mundöffnung, die anatomischen Strukturen des Mittelgesichts waren regelgerecht durchtastbar.

Intraoral fand sich bei einem konservierend und prothetisch anversorgtem Erwachsenengebiss eine reizlose Schleimhaut der Mundhöhle. Auffallend war eine apikal der Zähne 33 bis 43 imponierende Einziehung des Alveolarfortsatzes (Abbildungen 2 und 3).

Die Zähne waren nicht perkussionsempfindlich. Lockerungsgrade gab es nicht. Ein durchgeführter Sensibilitätstest ergab vitalitätspositive Zähne 34 bis 45.

Bei den früher erfolgten zahnärztlichen Behandlungen waren lediglich Zahnfilme angefertigt worden. Das aber nun aktuell beim Hauszahnarzt angefertigte Orthopanthomogramm (OPG) ergab folgenden Befund:

• symmetrische Aufhellung in der Unterkieferfront regio 34 bis 44

• eindeutig verfolgbarer Canalis manibulae beidseits, jeweils ohne klar abgrenzbares Foramen mentale

• Die Zähne 12, 21, 22, 35, 36, 46, 47 sind wurzelgefüllt,

• eine deutliche apikale Aufhellung zeigte sich nur an Zahn 36.

• Auch konnte eine interradikuläre Aufhellung an den Zähnen 36 und 46 beobachtet werden (Abbildung 1).

Anhand der klinischen Untersuchung und des radiologischen Befunds entschlossen wir uns nach Ablehnung eines DVT seitens des Patienten zur Durchführung einer Computertomografie.

Dort stellte sich der Alveolarfortsatz im Unterkiefer regio 35 bis 45 sanduhrförmig dar (Abbildungen 4 bis 6), stellenweise nur zwei Millimeter stark und mit offensichtlich lediglich kortikalen Strukturen. Im Bereich der Muskelansätze verbreiterte sich die Mandibula entsprechend der anliegenden Belastung, korrespondierend dazu an den Alveolarfächern ebenfalls.

Diskussion

Die im vorliegenden Fall imponierende Aufhellung erwies sich als partielle Unterkiefer-Anomalie. Dennoch sollen die naheliegendsten Differenzialdiagnosen kurz diskutiert werden.

Zystische Prozesse können als Pseudozysten oder als echte Zysten auftreten.

Die Knochenzyste, als Pseudozyste, wird in der Literatur unterschiedlich bezeichnet und hat Synonyme wie Juvenile Knochenzyste, solitäre Knochenzyste, einfache Knochenzyste und Traumatische Knochenzyste. Sie ist im Kieferbereich fast ausschließlich im Unterkiefer lokalisiert [Jundt et al., 2000]. Meist werden die flüssigkeitsgefüllten Knochenzysten unklarer Ätiologie als radiologischer Zufallsbefund im jugendlichen Alter entdeckt. Ein verdrängendes Wachstum mit Schwellung, Frakturen oder auch Avitalität von Zähnen wird sehr selten beobachtet. Vom radiologischen Aspekt fallen meist rundlich konfigurierte Osteolysen auf, die allerdings in der nativen Röntgendiagnostik häufiger unscharf begrenzt erscheinen und nur etwa in der Hälfte der Fälle einen sklerosierten Randsaum aufweisen [Perdigão et al., 2003; Horch et al., 2007].

Die radikuläre Zyste, als odontogene Zyste, entsteht aus Epithelinseln (Malassez-Reste), die aufgrund eines (entzündlichen) Reizes proliferieren. Sie erreichen die höchste Inzidenz in der dritten bis sechsten Dekade, wachsen langsam sowie verdrängend und sind nur bei sekundärer Infektion durch Schmerzen klinisch überhaupt auffallend.

Die negative Sensibilitätsprüfung der Zähne, eventuelle Lockerungsgrade, Sondierungstiefen und Perkussionsempfindlichkeiten sind richtungsweisend [Schwenzer et al., 2009].

Ein Keratozystisch-odontogener Tumor (KOT) ist ein benigner, bevorzugt im Unterkiefer auftretender odontogener Tumor [Myoung et al., 2001]. Er tritt vermehrt bei Männern und im dritten bis fünften Lebensjahrzehnt auf [Schwenzer et al., 2009]. Radiologisch stellt er sich als osteolytische, ein- oder mehrkammerige Veränderung dar [Chirapathomsakul et al., 2006], in der Regel begrenzt die KOT ein scharfer sklerosierter Randsaum, dieser kann wellenartig, girlandenförmig oder glatt verlaufen. Der Rand weist meist eine periphere Knochenverdichtung auf, die auch bei großen gekammerten Läsionen erhalten bleibt [Spitzer et al., 1985].

Das Ameloblastom ist mit 18 Prozent der häufigste odontogene Tumor [Dayley et al., 1994]. Die nicht geschlechtsspezifisch auftretende Neoplasie betrifft überwiegend den Unterkiefer distal der Eckzähne (75 Prozent), selten aber vor dem 18. Lebensjahr.

Ätiologisch wird ein Ausgang von Resten der Zahnleiste, vom Schmelzorgan oder auch von Malassez’schen Epithelresten vermutet. Meist wird ein lokal aggressives (semimalignes) Wachstum beschrieben, mit hoher Rezidivneigung bei sehr seltener Metastasierung. Radiologisch zeigt sich eine mehrkammerige, scharf begrenzte Osteolyse, die aufgrund der Lokalisation im Markraum schwer abgegrenzt und nicht gegen andere osteolytische Prozesse differenziert werden kann. Klinisch fallen Zahnfehlstellungen und -lockerungen, Schwellungen oder Nasenatmungsbehinderungen im Oberkiefer auf [Horch et al., 2007; Schwenzer er al., 2009].

Fazit

Im klinischen Alltag stellen schwierige Befunde tägliche Herausforderungen dar, die stets einer kritischen Betrachtung unterliegen müssen, insbesondere in Hinblick darauf, dass sich hinter auf den ersten Blick pathologisch erscheinenden Strukturen auch anatomische Varianten verbergen können. Dieser Fall zeigt deutlich, wie wichtig in der Zahnheilkunde das Zusammenspiel von Anamnese, klinischer Untersuchung und radiologischer Diagnostik ist, bei entsprechender Indikation unterstützt durch moderne dreidimensionale Methoden wie die Digitale Volumentomografie (DVT) oder die Computertomografie (CT).

Dr. Philipp A. KleyProf. Dr. Dr. Dr. h.c. Berthold H. HellKlinik für Mund- Kiefer- und GesichtschirurgieZentrum für plastisch-ästhetische und plastisch-rekonstruktive ChirurgieZentrum für SchädelbasischirurgieDiakonie Klinikum Jung-StillingWichernstr. 4057074 Siegenphilipp.kley@diakonie-sw.de

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