Erhebliche Konsequenzen für Körper und Geist
Stress gehört für viele Menschen zu ihrem Lebensalltag. So geben in aktuellen Befragungen rund 80 Prozent der Bevölkerung an, stressgeplagt zu sein. Jeder Dritte erklärt, unter Dauerstress zu stehen und häufig stressbedingte Symptome zu entwickeln. Das reicht von Schwitzen über Herzklopfen bis hin zu Nervosität, Gereiztheit und dem Gefühl starker Anspannung. Hält die Situa-tion an, drohen weitere Symptome wie das ständige Gefühl der Überlastung, der Überforderung und des Ausgebranntseins. Es kommt zu Veränderungen des Denkens, zu Ängsten, zu Erschöpfung und möglicherweise auch zu Rückenbeschwerden, zu Herzerkrankungen und zu weiteren massiven Gesundheitsgefahren.
Kampf oder Flucht
Doch was genau verbirgt sich hinter Stress? Eingehend beschrieben wurde das Phänomen erstmals 1914 von Walter B. Cannon. Entsprechend seiner Stresstheorie entscheidet unser Gehirn in Gefahrensituationen blitzartig zwischen zwei Reaktionsmustern: fliehen oder kämpfen. Ebenso rasch muss der Körper in die Situation versetzt werden, dem Befehl des Gehirns zu folgen, den Kampf oder aber die Flucht anzutreten.
Viel zitiert ist ein Beispiel aus der Urzeit, das unsere Altvorderen beim Anblick des plötzlich auftauchenden Büffels genau in diese Situation versetzte. Durch eine rasche Aktivierung des Sympathikus mit Ausschüttung der „Stresshormone“ Adrenalin, Noradrenalin und auch Kortisol, mit Konstriktion der peripheren Gefäße, Steigerung der kardialen Durchblutung und der Herztätigkeit sowie vermehrter Durchblutung der Muskulatur wird bei entsprechender „Befehlsgebung“ durch das Gehirn der gesamte Organismus in höchste Reaktionsbereitschaft versetzt. Mit anderen Worten: Energie flutet an, der Puls rast, der Blutdruck steigt und der ganze Körper ist in Sekundenschnelle bereit zu einer reflexartigen Angriffs- oder Fluchtreaktion.
Termindruck statt Großwild
Was für unsere Vorfahren oft lebensrettend war, hat sich in der Moderne längst ins Gegenteil verkehrt. Die Büffel der Urzeit haben die Gestalt von Termindruck, Telefonklingeln und übervollen E-Mail-Accounts angenommen. Die Reaktionen unseres Körpers aber sind die gleichen geblieben. Oft blitzschnell muss das Gehirn Entscheidungen treffen, der Sympathikus wird aktiviert, der Körper in Alarmbereitschaft versetzt.
Was ausbleibt, ist die Flucht oder der Kampf, wir bleiben beherrscht, reagieren Adrenalin und Noradrenalin anders als unsere Vor- fahren nicht durch Bewegung und Muskelarbeit ab. Wir behalten vielmehr die Spannung im Körper und reagieren mit Ärger, Nervosität und Herzrasen.
Die Phasen: Alarm – Widerstand – Erschöpfung
Allgemein bekannt wurde der Begriff Stress allerdings nicht durch den Erst-Beschreiber Cannon, sondern vor allem durch den Stressforscher Hans Seyle (1907 – 1982), einen Mediziner ungarischer Abstammung, der in Wien und später im kanadischen Montreal lebte. Seyle beschäftigte sich zunächst mit dem „Syndrom des Krankseins“ und dem „generalisierten Anpassungssyndrom“ und prägte schließlich den Begriff „Stress“ als „unspezifische Reaktionen des Körpers auf jegliche Anforderung“. Das Wort Stress kommt dabei aus dem Englischen, es handelt sich um einen Begriff aus der Materialprüfung, der Spannungen und Verzerrungen in Metallen oder Glas beschreibt.
Seyle differenzierte drei Stressphasen, wie Tobias Stächele und Hans-Peter Volz in ihrem Buch „Taschenatlas Stress“ darlegen. Es sind dies die Alarmreaktion, die Widerstandsphase und die Erschöpfungsphase. Jede dieser Phasen zeigt Charakteristika:
Alarmphase:
So kommt es in der Alarmphase zum Einwirken von Stressoren auf den Menschen. Es kann sich um äußere Faktoren wie Hitze, Kälte oder Hunger handeln, aber auch um psychische Belastungen.
Widerstandsphase:
In der nachfolgenden Widerstandsphase reagiert der Körper auf die Stressoren mit vermehrter Kortisolausschüttung, der Aktivierung des Kohlenhydratmetabolismus wie auch der Lipolyse und somit mit der Bereitstellung von rasch abrufbarer Energie und mit einer gesteigerten Empfindlichkeit der Gefäßmuskulatur, während die Schilddrüsen- und die Sexualfunktion gehemmt werden. Der Körper passt sich, so die Theorie Seyles, der Anforderung an.
Erschöpfungsphase:
Es folgt die Erschöpfungsphase, in der der Parasympathikus die Sympathikus-Reaktion abschwächt und wieder das Ruder übernimmt. Ist die Adaptation gestört oder hält die Einwirkung der Stressoren an, droht als Reaktion eine gegenregulatorische Aktivierung des Parasympathikus, die bekannte Erschöpfung nach großen Belastungen. Sind die von außen einwirkenden Anforderungen durch die Stressoren nicht abzubauen, können sich langfristig negative Konsequenzen auf die Gesundheit ergeben.
Stress ist individuell
Mit der Interaktion zwischen den Anforderungen und der Reaktion des Individuums und somit mit den potenziellen gesundheitlichen Auswirkungen von Stress hat sich insbesondere der amerikanische Psychologe Richard S. Lazarus (1922 – 2002) beschäftigt und das „Lazarus kognitive Modell“ entwickelt. Demnach ist zu differenzieren, ob die unter dem Einfluss von Stressoren stehende Person davon überzeugt ist, die Situation kontrollieren zu können, oder ob sie davon ausgeht, ihr weitgehend ausgeliefert und in Gefahr zu sein.
Unsere Reaktionen auf Stress – und damit auch die sich daraus ableitenden Gesundheitsgefahren – sind somit stark von der individuellen Wahrnehmung der jeweiligen Belastungssituation abhängig. So können verschiedene Personen bei gleichen Stressoren sehr unterschiedlich reagieren. Ob Stress gesundheitsgefährdend ist oder nicht, hängt damit wesentlich auch vom Erleben des Einzelnen ab.
Eustress – Distress
Die Aktivierung des Körpers in der Anforderungssituation kann dabei durchaus positiv sein und sogar regelrechte Glücksmomente auslösen. Sie ist eine Triebfeder und Ansporn für Höchstleistungen, die mit entsprechender Befriedigung und damit mit Wohlbefinden belohnt werden. Stress ist nicht primär negativ, sondern lediglich ein Reiz, den der Körper mit einer Reaktion beantwortet.
Der potenziell positiven Aktivierung – auch „Eustress“ genannt – steht jedoch der „Distress“ entgegen, der negative Stress, der inzwischen weitgehend den Stressbegriff in der öffentlichen Wahrnehmung dominiert. Er ist bedingt durch anhaltende Stress- belastungen und eine nicht adäquate Stressverarbeitung.
Das sind die Folgen
Charakteristische Folgen des Einwirkens von Stress sind zunächst akute Reaktionen, die durch die Ausschüttung von Kortisol und der Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin bedingt sind. Es kommt zur Muskelanspannung und zur Gefäßkonstriktion, zum Anstieg des Blutdrucks und zur vermehrten Herztätigkeit und zu raschem Pulsschlag. Die Bronchien weiten sich, die Atmung beschleunigt sich, es wird vermehrt Sauerstoff aufgenommen. Die Pupillen weiten sich, um Gefahren besser wahrnehmen zu können, das Denken fokussiert sich auf die zu bewältigende Aufgabe, die Schmerzempfindlichkeit nimmt ab und auch der Magen-Darm-Trakt sowie die Harnwege werden auf Sparflamme gesetzt. Die Blutungsneigung nimmt ab, die Blutgerinnung entsprechend zu. Typische Reaktionen auf eine akute Stresssituation können zudem Schwitzen und Erröten sein, Durchfall, Übelkeit oder sogar Erbrechen, ein Kloßgefühl im Hals oder ein Engegefühl in der Brust, Herzstiche und weiche Knie.
Hält die Stresssituation an, kommt es zu Anpassungsreaktionen. Die Produktion von Geschlechtshormonen wird gedrosselt, die natürlichen Abwehrkräfte erlahmen, die Infektanfälligkeit steigt, und damit eröffnet sich eine weitere Quelle für Stress.
Unter der Dauerspannung lässt zudem die Elastizität der Blutgefäße nach, die als Energie bereitgestellten Nährstoffe – Zucker und Fette – zirkulieren im Blut, treiben den Blutzucker und den Cholesterinwert in die Höhe und leisten der Arteriosklerose und damit dem Herzinfarkt und dem Schlaganfall Vorschub.
Die chronische Belastung schwächt die Erholungsfähigkeit des Organismus, der Körper bleibt anhaltend aktiviert, es drohen Schlafstörungen, Libidoverlust, Angstreaktionen und Depressivität. Denkblockaden stellen sich ein, die Gedanken kreisen, das Gehirn reagiert mit Konzentrationsstörungen und Gedächtnisproblemen.
Nervosität, Gereiztheit, innere Unruhe und Anspannung, Frustrationen, Ärger und Ängste sind Zeichen der mit der anhaltenden Stresssituation einhergehenden psychischen Belastung und ihrerseits Stressoren, die die Situation wie in einem Teufelskreis vorantreiben. Fatal endet es oft, wenn zur „Stresskompensation“ Genussgifte „genutzt“ werden, wenn also Alkohol und Nikotin die Belastbarkeit steigern und der Stressbewältigung dienen sollen oder auch, wenn der Griff zu Schlafmitteln und Psychopharmaka unausweichlich erscheint, um den Belastungen standzuhalten.
Als durch Stress bedingte oder mitbedingte Erkrankungen gelten neben dem Burn-out-Syndrom unter anderem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erkrankungen des Verdauungstrakts, wie die Gastritis oder das Ulkus, Erkrankungen des Bewegungsapparats mit Rückenproblemen bis hin zum Bandscheibenvorfall, Spannungskopfschmerzen und ebenso die Migräne, Stoffwechselerkrankungen bis hin zum metabolischen Syndrom, eine verminderte Immunkompetenz, Allergien und Ekzeme sowie Depressionen und Suchterkrankungen. Auch davon unabhängig können sich Symptome bestehender Erkrankungen unter Stressbelastungen verstärken.
Häufige Stressoren
Die Reize, die als negativer Stress empfunden werden, können sehr vielgestaltig sein. Es kann sich um physische, also um physikalische, biologische oder chemische Stressoren handeln, wie im Buch „Taschenatlas Stress“ dargelegt wird. Als Beispiele werden dort Lärm, Hitze, Kälte, Hunger, Durst, Infektionen, Verletzungen und schwere körperliche Arbeit genannt, aber auch Veränderungen des Luftdrucks, langes Autofahren und Schadstoffbelastungen.
Eine weitere Quelle für Stress sind psychische Stressoren. Hierunter sind emotionale und kognitive Belastungen zu verstehen wie Versagensängste, Über- und ebenso Unterforderung, Fremdbestimmung, Zeitmangel, Reizüberflutung, Kontrollverlust und beispielsweise Prüfungssituationen. Auch soziale Situationen können als Stressoren wirken. Bekannt ist dies bei Konflikten, bei Isolation, beim Verlust nahestehender Menschen oder beim Mobbing.
Besonders starke Stressoren sind verständlicherweise katastrophale Situationen wie Krieg und Naturkatastrophen sowie tief greifende Lebensereignisse wie etwa eine Scheidung, der Tod des Lebenspartners oder eines Familienangehörigen, aber auch der Verlust des Arbeitsplatzes, schwere eigene Erkrankungen oder Krankheitsfälle in der Familie, der Übergang in den Ruhestand und ähnliche Ereignisse. Auch Situationen, die allgemein als eher positiv betrachtet werden wie eine Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes, ein Arbeitsplatzwechsel oder auch der anstehende Urlaub und das geplante Familienfest können Stressoren für den Körper sein.
Darüber hinaus gibt es „Hintergrund-Stressoren“, die sich nicht an bestimmten Ereignissen festmachen, sondern unserltägliches Leben prägen. Hierzu gehören laut Stächele und Volz soziale Spannungen, Arbeitsplatz- und Schulprobleme, Verkehrsbeeinträchtigungen und vieles mehr. So sind selbstverständlich Hektik und Zeitnot gut bekannte Stressoren, aber auch finanzielle Engpässe, sexuelle Schwierigkeiten, Streitigkeiten, Ärger und Überlastungen.
Richtiger Umgang mit dem Problem
Es ist somit praktisch unmöglich, sich Stress zu entziehen. Die allgemeinen Anforderungen, die Menschen an sich selbst stellen und die von außen an sie herangetragen werden, dürften allerdings auch künftig nicht weniger werden. Der Mensch wird noch mobiler werden, Straßen, Bahnhöfe und Flughäfen noch voller, Hektik und Unrast werden eher zu als abnehmen, Telefon und E-Mails sind aus unserem modernen Leben nicht mehr wegzudenken. Vor diesem Hintergrund gewinnen Strategien der Stress-bewältigung zunehmend an Bedeutung. Es geht darum, ein gesundes Gleichgewicht zu finden zwischen den Belastungen des Alltags und Entspannungsphasen, zwischen Aktivität und Ruhe, Stress und Erholung. Und es geht auch darum, dem „Stress“ – und zum Beispiel den beruflichen Aufgaben – positiv gegenüberzustehen und die körpereigenen Ressourcen als Kraftquelle wahrzunehmen. Wird die bei Stresssituationen automatisch freigesetzte Stressenergie richtig genutzt, lässt sich im Idealfall „Eustress“ leben und bei einer vernünftigen Balance zwischen An- und Entspannung dem „Distress“ und seinen gesundheitlichen Gefahren zumindest partiell entgehen.
Erster Schritt: Stressoren entlarven
Voraussetzung für eine adäquate Stress- bewältigung ist, dass die einwirkenden Stressoren erkannt werden. Liegen die Stressoren im beruflichen Umfeld oder in der Familie oder im Anspruch der eigenen Person auf unbedingten Perfektionismus? Die eingehende Analyse der individuellen Situation macht unter Umständen bereits Lösungsansätze sichtbar und bietet damit die Möglichkeit, ein individuelles Antistressprogramm zu starten.
Dieses sollte mehrere Ebenen umfassen, vom Abbau von Stressoren, soweit dies möglich ist, bis hin zur Änderung der persönlichen Einstellung zu den Stressoren und der Erarbeitung von Copingstrategien. Wichtige Möglichkeiten des Stressabbaus oder genauer, der Bewältigung der negativen Konsequenzen von Stress, bietet die Lebensführung. Wenn Umweltbelastungen, Hunger und Durst, aber auch Übergewicht und Krankheiten als Stressoren fungieren, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass sich durch eine gesunde Ernährung und durch den Verzicht auf das Rauchen und exzessiven Alkoholkonsum der „Hintergrund-Stresspegel“ für den Körper senken lässt.
Von besonderer Bedeutung ist neben einem adäquaten Zeitmanagement und regel- mäßigen Erholungsphasen nach starken Belastungen vor allem körperliche Aktivität. Denn die Stressreaktionen zielen primär darauf ab, den Körper in Alarmbereitschaft zu versetzen, sie machen ihn durch die Ausschüttung der Stresshormone bereit für die Flucht oder den Kampf mit dem nahenden Büffel. Diesen Kampf auszutragen – sei es beim Tennismatch oder im Fitnessstudio – ist eine gute Möglichkeit, Stressreaktionen zu verarbeiten.