„Bridging“ könnte bald passé sein
Christine Vetter
Antikoagulantien sind für viele Menschen eine lebensrettende Medikation. Denn sie beugen bei Risikopatienten durch die Hemmung der Blutgerinnung potenziell lebensbedrohlichen Komplikationen wie der Thrombose und der Lungenembolie vor und mindern das beim Vorhofflimmern massiv erhöhte Schlaganfallrisiko.
Doch die Antikoagulation ist ein zweischneidiges Schwert: Wann immer die Blutgerinnung verhindert wird, steigt automatisch das Blutungsrisiko – ein Aspekt, der in jeder Zahnarztpraxis von Relevanz ist.
Das gilt für die herkömmlichen wie für die neuen Antikoagulantien, allerdings ist das Behandlungsmanagement in puncto Blutungsrisiko bei den modernen Wirk-stoffen deutlich einfacher. „Noch sehen wir aber nur vereinzelt Patienten, die bereits mit den neuen Arzneistoffen behandelt werden“, berichtet Dr. Tasso von Haussen, Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichts- chirurgie des Universitätsklinikums Mainz. „Doch es ist davon auszugehen, dass die Wirkstoffe zunehmend breiter verordnet werden. Darauf sollten wir Zahnärzte und Kieferchirurgen vorbereitet sein.“
Zwei unterschiedliche Wirkungsansätze
Es gibt bisher zwei neue Wirkstoffe, die zur Antikoagulation zugelassen sind, weitere Substanzen sind in der klinischen Entwicklung. Dabei werden zwei unterschiedliche Wirkungsansätze verfolgt: Bei Rivaroxaban handelt es sich um einen Gerinnungshemmer, der seine Wirkung über die direkte Inhibition des Gerinnungsfaktors Xa vermittelt. Die Substanz ist oral verfügbar, die Wirkung setzt rasch ein und ist gut steuerbar.
Ein routinemäßiges Gerinnungsmonitoring ist anders als bei den bisher üblicherweise verabreichten Vitamin-K-Antagonisten wie dem Phenprocoumon – bekannter als Marcumar®– nicht erforderlich. Das Management der Antikoagulation ist dadurch einfacher geworden, zumal anders als bei Vitamin-K-Antagonisten nicht vielfältige Interaktionen mit Arznei- und auch Nahrungsmitteln zu beachten sind.
Rivaroxaban hat seine klinische Wirksamkeit und seine therapeutische Sicherheit in umfassenden Studien mit jeweils vielen Tausenden Patienten zunächst bei der Thromboseprophylaxe bei orthopädischen Eingriffen und ebenso bei der Thrombosetherapie und der Sekundärprophylaxe sowie bei der Schlaganfallprophylaxe beim Vorhofflimmern und der Behandlung und Sekundärprophylaxe der Lungenembolie unter Beweis gestellt. Der Wirkstoff ist in diesen Indikationen bereits zugelassen und besitzt damit das derzeit breiteste Indikationsspektrum der modernen Antikoagulantien. Es gibt außerdem Hinweise aus kontrollierten Studien auf eine gute klinische Wirksamkeit auch in anderen Indikationsbereichen wie der Behandlung des akuten Koronarsyndroms, ein entsprechender Zulassungsantrag läuft derzeit.
Beim Wirkstoff Dabigatran, der oral verfügbar ist, handelt es sich um einen direkten Thrombininhibitor, für den ebenfalls eine überzeugende klinische Wirksamkeit und Sicherheit in groß angelegten Studien demonstriert wurde. Auch bei Dabigatran sind keine Routinekontrollen der Gerinnung notwendig, der Wirkstoff ist aufgrund der Daten zugelassen zur Thromboseprophylaxe bei orthopädischen Operationen und zur Schlaganfallprophylaxe beim Vorhofflimmern.
Bridging vor operativen Eingriffen wird überflüssig
Müssen Patienten, die regelmäßig mit einen Vitamin-K-Antagonisten behandelt werden, operiert werden, so war es bislang üblich, zunächst eine sehr strenge INR-Kontrolle (International Normalized Ratio) vorzunehmen oder sogar den normalerweise ver- abreichten Vitamin-K-Antagonisten abzusetzen und zur Überbrückung mit einem niedermolekularen Heparin zu behandeln. Diese Überbrückungstherapie, das „Bridging“, ist notwendig, weil mit dem Absetzen des Gerinnungshemmers die Gefahr einer Thrombose, einer Lungenembolie oder eines Schlaganfalls bei Vorhofflimmern ansteigt. „Man muss deshalb sehr sorgfältig das mögliche Blutungsrisiko gegenüber dem Thromboserisiko und dem Risiko für eine potenziell letale Lungenembolie oder einen Schlaganfall abwägen“, so Dr. Friedhelm Späh vom HELIOS Klinikum Krefeld.
„Das Bridging bedeutet für uns Zahnmediziner und Kieferchirurgen, dass wir Kontakt mit dem Internisten oder dem Kardiologen des Patienten aufnehmen und in enger Zusammenarbeit mit ihm die Behandlung auf das niedermolekulare Heparin umstellen, so dass wir den Eingriff vornehmen können“, erklärt von Haussen. Ob ein Bridging notwendig ist oder nicht, ist allerdings nicht immer einfach zu entscheiden. „Ist bekannt, dass der Patient einen Vitamin-K-Antagonisten einnimmt, sollte man sich den Marcumar-Pass zeigen lassen und prüfen, ob die Gerinnungskontrollen regelmäßig erfolgt sind und wie hoch der INR-Wert liegt“, rät der Zahnmediziner.
Eventuell muss eine aktuelle Gerinnungskontrolle veranlasst werden. Stellt man dabei fest, dass der INR offenbar „völlig aus dem Ruder gelaufen ist, was gelegentlich unter einem Vitamin-K-Antagonisten vorkommen kann, darf aktuell nicht operiert werden und es muss zunächst wieder für eine adäquate Einstellung gesorgt werden“, sagt von Haussen.
Quick-Wert ist keine Richtschnur
Auf den früher gebräuchlichen Quick-Wert darf man sich laut Späh nicht verlassen. „Es gibt rund 25 verschiedene Verfahren zur Bestimmung des Quick-Wertes, was zwangsläufig eine gewisse Variabilität und damit auch Unsicherheiten mit sich bringt.“ Das war mit ein Grund, den INR, also die „International Normalized Ratio“ einzuführen, wobei eine adäquate Antikoagulation bei einem INR zwischen zwei und drei gegeben ist. Der Wert ist einfach zu interpretieren: Bei einem INR von eins liegt eine normale Gerinnungszeit vor. Bei einem INR von zwei ist die Gerinnungszeit verdoppelt und bei einem Wert von drei sogar verdreifacht. Anhand des INR-Wertes lässt sich somit das Blutungsrisiko unter einem Vitamin-K-Antagonisten grob abschätzen.
Das Problem dabei: Je nach dem, warum die Antikoagulation notwendig ist, wird eine unterschiedliche INR-Einstellung angestrebt. Bei Patienten mit Vorhofflimmern sollte der Wert beispielsweise zwischen zwei und drei liegen, um das Schlaganfallrisiko nachhaltig zu senken. Bei Patienten mit künstlicher Herzklappe wird dagegen eine Einstellung zwischen 2,5 und 3,5 gefordert und bei Patienten mit Mitralklappen- ersatz sogar zwischen drei und vier.
„In den zahnärztlichen Leitlinien wird für operative Eingriffe jedoch empfohlen, einen INR zwischen 1,6 und 2,5 anzusteuern“, so Späh.
Wird ein zahnmedizinischer Eingriff mit relevantem Blutungsrisiko notwendig, kann jedoch der Gerinnungshemmer in aller Regel nicht einfach abgesetzt werden. Späh: „Dann würde das Risiko einer Thrombose, einer Lungenembolie und auch eines Schlaganfalls bei Vorhofflimmern überproportional ansteigen.“ Deshalb wird bei den herkömmlichen Antikoagulantien zum Bridging geraten. Konkret wird dabei der Vitamin-K-Antagonist abgesetzt und stattdessen mit einem niedermolekularen Heparin behandelt, mit dem die Gerinnungshemmung besser steuerbar ist. Das bedeutet nicht nur, dass statt der oralen Medikation eine Injektionsbehandlung notwendig wird. Problematisch ist nach Späh auch, dass die nieder-molekularen Heparine für diese Indikation offiziell nicht zugelassen sind.
„Man darf zudem nicht vergessen, dass man dem Patienten letztlich in dieser Situation das Medikament vorenthält, das ihn vor Komplikationen bis dato bewahrt hat und dass man nicht sicher sagen kann, was in der Folge passieren wird“, erläutert von Haussen. Greift man in den Prozess der Blutgerinnung ein und nimmt dem Patienten das gewohnte Medikament weg, so kann ein überproportional akut ansteigendes Thrombose- oder Schlaganfallrisiko die Folge sein – und das auch, wenn stattdessen ein niedermolekulares Heparin gegeben wird.
Das alles zeigt laut Späh, dass das Management von Patienten unter einer Antikoagulation in der Zahnarztpraxis eine Heraus- forderung darstellt, wenn ein Eingriff mit Blutungsrisiko ansteht: „Der Zahnarzt muss genau wissen, welches Präparat der Patient einnimmt und warum, er muss den INR kennen und er muss vor allem sorgfältig abwägen, ob das Blutungsrisiko das Absetzen der protektiven Medikation rechtfertigt und wie hoch das dadurch bedingte Komplikationsrisiko ist.“
Die INR-Senkung muss beim Bridging daher dem Blutungsrisiko beim geplanten zahnmedizinischen Eingriff angepasst werden. „Den INR herunterzufahren, wie es bei größeren Eingriffen notwendig ist, das ist immer ein erhebliches Risiko“, so Späh. Riskant kann es aus seiner Sicht schon werden, wenn ein Patient mit vorangegangener Thrombose aufgrund einer Gebisssanierung für eine längere Zeitspanne immobil im Zahnarztstuhl liegt: „Das kann durchaus eine Rethrombose auslösen, wenn zuvor die Antikoagulantien vorsorglich abgesetzt wurden, um die Blutungsgefahr gering zu halten.“ Denn mit dem Absetzen des Vitamin-K-Antagonisten kommt es praktisch immer zu einer überschießenden Koagulopathie.
Probleme aber gibt es nicht selten auch, wenn der INR nach dem Eingriff wieder „hochgefahren“ wird. „Es ist individuell nicht vorhersagbar, wie der Patient in dieser Situation hinsichtlich der Gerinnungszeiten aktuell reagiert“, so Späh.
Vereinfachtes Management dank neuer Wirkstoffe
Mit den neuen Antikoagulantien wird dieses Problem nach Angaben des Internisten entschärft. Wissen sollte man dabei, dass die Wirkung der modernen Substanzen auf das Gerinnungssystem nicht anhand eines einfach zu kontrollierenden Parameters zu erfassen und der INR-Wert nicht aussagekräftig ist. Gerinnungskontrollen aber sind nach Späh gar nicht notwendig. Denn sowohl Rivaroxaban als auch Dabigatran sind gut steuerbar und sorgen für eine zuverlässige Gerinnungshemmung. Die Patienten nehmen ihre Medikamente üblicherweise zu festen Tageszeiten ein, einmal täglich beim Rivaroxaban und zweimal täglich beim Dabigatran und das in aller Regel morgens.
Ist ein zahnmedizinischer Eingriff geplant, sollte der Patient am Morgen vor dem Eingriff die Antikoagulantien nicht einnehmen. Der Eingriff sollte auf den frühen Vormittag terminiert werden, so dass der Patient noch durch die Einnahme des Gerinnungshemmers am Vortag vor Komplikationen geschützt ist, das Blutungsrisiko aber bereits erniedrigt ist. „Dann kann problemlos praktisch jeder zahnmedizinische Eingriff durchgeführt werden“, erläutert Späh. Direkt danach werden die Tabletten wie gewohnt wieder eingenommen und entfalten innerhalb von zwei Stunden ihre volle Schutzwirkung. „Die neuen Wirkstoffe sind vor allem für die Zahnmedizin ein sehr relevanter Fortschritt“, meint Späh. „Sie erleichtern das Management von Patienten, die einer Antikoagulation bedürfen, erheblich und das bei zugleich geringerer Komplikationsgefahr als beim herkömmlichen Bridging.“
Das bedeute nach Späh ein Plus an Therapiesicherheit – für den Patienten und auch für den Zahnmediziner.
Blutungsrisiko besonders konsequent gering halten
Selbstverständlich sollten davon abgesehen laut von Haussen bei allen Patienten, die unter einer Antikoagulation operiert werden, Vorkehrungen getroffen werden, um das Blutungsrisiko gering zu halten. Denn ebenso wie unter den „alten Antikoagulantien“ besteht auch unter den neuen, modernen Wirkstoffen infolge der Gerinnungshemmung per se eine etwas erhöhte Blutungsgefahr. Deshalb sollte, betont der Zahnmediziner, konsequent jeder Patient, bei dem ein Eingriff mit Blutungsrisiko geplant ist, eingehend befragt werden, ob er ein Medikament zur Blutverdünnung einnimmt. Von Haussen: „Sicher ist sicher, am besten lässt man sich von den Patienten einen konkreten Medikamentenplan zeigen.“ Man muss dann aber auch wissen, was sich hinter den Wirkstoffen Rivaroxaban und Dabigatran verbirgt und die entsprechenden Markenbezeichnungen (Xarelto®und Pradaxa®) kennen und das zwangsläufig bei jeder Antikoagulation erhöhte Blutungsrisiko beachten.
Das bedeutet zum Beispiel, dass bei Patienten, bei denen ein erhöhtes Blutungsrisiko besteht, vorsorglich eine Verbandplatte angefertigt werden sollte. Auch muss der Patient entsprechend aufgeklärt werden, dass es zu Nachblutungen kommen kann und Instruktionen erhalten, wie er sich in einem solchen Fall zu verhalten hat.
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INFO
Vorhofflimmern
Das Vorhofflimmern (VHF) stellt die häufigste anhaltende Herzrhythmusstörung dar. Betroffen sind hierzulande rund 800 000 Menschen. Die Herzrhythmusstörung geht mit einem erheblich erhöhten Schlaganfallrisiko einher und zeichnet für rund 40 000 Schlaganfälle jährlich in Deutschland verantwortlich. Schlaganfälle verlaufen bei Patienten mit Vorhofflimmern zudem meist besonders schwer, sie führen überproportional häufig zu relevanten bleibenden Behinderungen oder sogar zum Tod des Patienten. Das Krankheitsrisiko steigt mit dem Lebensalter, so dass infolge der demografischen Entwicklung mit einer zunehmenden Zahl von Menschen mit VHF zu rechnen ist. Die Behandlung besteht unter anderem in einer dauerhaften Antikoagulation, um das hohe Schlaganfallrisiko zu senken.
Info
INR und Quick
Bei der Bestimmung der Blutgerinnung hat die INR (International Normalized Ratio) den Quick-Wert (Thromboplastinzeit) abgelöst, weil der Quick-Wert stark von der jeweiligen Messmethode abhängig ist und selbst bei korrekter Messung aufgrund chargenabhängiger Aktivitätsunterschiede der Prothrombinase zum Teil unterschiedliche Werte resultieren (Referenzbereich 80 – 120 Prozent).
Bei der INR wird die Gerinnungszeit in Beziehung zu der eines Normalplasmas gesetzt. Der Wert dient der Standardisierung der Antikoagulantientherapie. Normal ist eine INR von 1,0. Der Wert verhält sich umgekehrt proportional zum Quick-Wert:
Die Zielwerte bei Einnahme von gerinnungshemmenden Medikamenten sind 20 bis 30 Prozent für den Quick-Wert und 2,5 bis 4,5 für die INR.
Der INR wurde speziell für die Behandlungsgruppe der Patienten unter Vitamin-K-Antagonisten definiert ist. Er hat ebenso wie der Quick-Wert keine Aussagekraft bei Patienten unter den modernen oralen Antikoagulantien.