Dentogene Impotenz
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
alle Jahre wieder: das verflixte Sommerloch! Es ist eine nachrichtenarme Zeit, selbst kalter Kaffee wird nimmermüde wieder aufgebrüht – und sei es von Tchibo selbst. Wir hatten das ja erst unlängst.Auch wer meint, dass die Saure-Gurken-Zeit für Journalisten durch den Wahlkampf in diesem Jahr aufgemischt wird, sieht sich getäuscht. Dieser Wahlk(r)ampf hat bisher die Dynamik einer Bernsteinschnecke. Natürlich haben auch die Journalisten der zm die Bundestagswahl im Auge und deren gesundheitspolitische Relevanz im Fokus. Aber mittlerweile sollte jede Kollegin, sollte jeder Kollege wissen, wie wichtig es ist, von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen; sollte einschätzen können, welche Konsequenzen zum Beispiel eine Bürgerversicherung für die eigene Praxis haben kann.
„Was Impotenz mit den Schneidezähnen zu tun hat“, titelte die Bild-Zeitung dieser Tage und wärmte die altbekannte Herdtheorie der ganzheitlichen (Zahn-)Medizin wieder auf. Statt Themen im Fokus nun fachlichen Fokuspokus. Als Kompetenz-Referenz diente eine sicherlich selbstlose Essener „Fachklinik“, die neben der Esoterik- auch die Ästhetik-Komponente im Programm hat. BILD war nicht am Puls der Zeit, dafür aber am Herd: „Die Weisheitszähne liegen uns am Herzen. Wenn sie Probleme haben durchzubrechen ... kann das auf Defizite unseres Herzen hinweisen“. Und das Blatt weiß: „Manchmal schlägt uns etwas derart auf den Magen ... In sehr extremen Fällen kann das auch zur Erkrankung der Backenzähne – sogenannte Magenzähne – führen. Wenn diese Zähne erkrankt sind, können darüber hinaus wichtige energetische Ströme gestört werden, die sich auf soziale Beziehungen auswirken können.“ Und dann die Top-Botschaft – eine krude Mischung von Sex und Sommerloch. Heiß auf dem Herd gekocht. Aber: Sex sells. BILD: „Es verwundert nicht, dass gerade die Frontzähne für Sexualität und Hormonhaushalt stehen. Sie fallen sofort ins Auge ... Folgen von kaputten Frontzähnen können Impotenz, Unfruchtbarkeit und Hormonschwankungen sein“.
In einem liegt die Zeitung sicher richtig: die erotische Wirkung kaputter Frontzähne tendiert gegen null. Aber sonst? Im Ernst: Nun könnte es uns Zahnärzte im Prinzip freuen, wenn unsere Botschaften gehört und auf allgemein verständliche Weise von der Presse aufbereitet werden. Schon lange verweisen wir auf ärztliche Aspekte unseres Berufs, fordern den Blick über den Tellerrand hin zur Allgemeinmedizin und die Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Zahnärzten. Wir verändern uns mehr und mehr zu Fachärzten für die Mundhöhle. Wir entdecken für unser Fachgebiet die Immunologie und die Mikrobiologie. Wir werden zunehmend eingebunden in fachübergreifende Versorgungskonzepte für eine immer älter werdende, zunehmend multimorbide Gesellschaft.
Da ist es bedauerlich, wenn aus den eigenen Reihen die fachlichen Stichworte von gestern gegeben werden, statt auf die Themen von morgen hinzuweisen. Das wissen natürlich auch die Journalisten der Bild-Zeitung (und es sollte fairerweise vermerkt werden: Fünf Zeilen in diesem Artikel haben sie für die Stichworte Diabetes und Herzinfarkt übrig.). Sie sind unbestritten in der Lage, auch diese Themen reißerisch aufzumachen. Doch im journalistischen Sommerloch bleibt einmal mehr die Seriosität auf der Strecke. Die Auflage zählt. Und aus dem Berufsstand wird dumme, unnötige Beihilfe geleistet. Hat man hier einen weiteren zusätzlichen Versorgungsansatz, besser: Geschäftszweig, im Auge: neben der professionellen (sic!) Raucherentwöhnung jetzt noch die Therapie der dentogenen Impotenz? Wir dürfen gespannt sein, ob nach der Lektüre der Bild-Zeitung jetzt Tausende Männer mittleren Alters in die Zahnarztpraxen strömen, um sich die Zähne untersuchen zu lassen.
Wie es gemacht werden kann, ein fachliches Anliegen, verpackt in reißerischer Schlagzeile, unters Volk zu bringen, hat schon vor Jahren einmal die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie gezeigt. Sie titelte in einer Pressemeldung: „Ist Küssen ansteckend?“ Und gab eine seriöse (beruhigende) Antwort. Allen ward geholfen – den Parodontologen, die ein Thema hatten; den sich fortbildenden Zahnärzten, die eine berechtigte Patientenfrage nun noch besser beantworten konnten und den Patienten selbst. Merke: Küssen im Sommerloch – das geht! Mit freundlichen Grüßen
Dr. Jürgen FedderwitzVorsitzender der KZBV