So wertvoll ist Sozialkapital
„In der Vergangenheit war der ideelle Wert einer Praxis so etwas wie eine Blackbox“, sagt Dr. David Klingenberger. Darum erarbeitete der stellvertretende wissenschaftliche Leiter des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) gemeinsam mit Co-Autor Prof. Thomas Sander von der Medizinischen Hochschule Hannover die vorliegende Studie, um in eben dieses Dunkel „mehr Licht zu werfen“.
Dazu rekonstruiert die 43-seitige Arbeit den Prozess der Kaufpreisfindung zwischen Verkäufer und Käufer empirisch. Um der natürlichen Perspektivendifferenz beider Parteien Sorge zu tragen, führten die Wissenschaftler qualitative schriftliche Befragungen von 27 Zahnärzten durch, die zwischen Januar 2010 und September 2012 ihre Praxis veräußert hatten, sowie von sechs Praxisgründern, die im selben Zeitraum eine Zahnarztpraxis erworben hatten.
Das Ergebnis sei zwar nicht repräsentativ, räumt Klingenberger ein, könne jedoch „wertvolle Fingerzeige“ geben, welchen Stellenwert das Sozialkapital – also alle Ressourcen, die mit der Teilhabe am Netz sozialer Beziehungen verbunden sind – bei der Kaufpreisfindung hat und wo den heute gängigen Praxisbewertungsverfahren Grenzen gesetzt seien. Viele lieferten nur einen theoretischen Wert, sagt Klingenberger, der am Markt nicht darstellbar sei.
Praxismarkt ist im Umbruch
Denn dieser befindet sich nach Angaben des IDZ aktuell in einer Umbruchphase. Binnen sechs Jahren sei die Anzahl der Praxisinhaber um mehr als 2 000 gesunken und die Anzahl der angestellten Zahnärzte parallel um mehr als 6 000 gestiegen. „Für die Veräußerung von Zahnarztpraxen bedeutet dies, dass aus dem bis zum Jahr 2006 erkennbaren Nachfrageüberhang mittlerweile ein Angebotsüberhang geworden ist“, informiert die Studie. Diese veränderten Rahmenbedingungen wirkten sich insbesondere auf den ideellen Wert der Zahnarztpraxen aus, der im Wesentlichen durch die persönlichen Beziehungen und das langjährige Betreuungsverhältnis zwischen Zahnarzt und Patienten sowie durch die Praxislage und die -organisation beeinflusst wird.
Da noch nicht „empirisch zufriedenstellend“ geklärt sei, welche zusätzlichen Faktoren neben der Marktmacht von Anbieter und Nachfrager und dem üblicherweise starkgewichteten, durchschnittlichen Einnahmenüberschuss für die Höhe des ideellen Wertes eine Rolle spielen, widmet sich die Studie dieser Frage. Dazu fragten die Autoren ab, welche Relevanz Käufer und Verkäufer in ihrem konkreten Fall 42 verschiedenen Parametern bei der Aushandlung des Goodwill der abzugebenden beziehungsweise der zu erwerbenden Praxis beimaßen. Diese berücksichtigten betriebswirtschaftliche Einnahmen, Kosten und Rahmenbedingungen ebenso wie Aspekte zur Positionierung, zur Praxisorganisation, zum Patientenstamm, zu den Kauf-/Verkaufsverhandlungen selbst und zum Sozialkapital.
Letzteres beschreiben die Studienautoren anhand von neun Parametern. Nach Auskunft der Mehrheit aller befragten Verkäufer hatten vier davon „großen Einfluss“: Für die „langjährige Bindung der Patienten an Praxis und Praxisteam“ galt dies nach Ansicht von 18 der 27 Befragten, gefolgt von dem „Ansehen der Praxis im räumlichen Umfeld“ (15 Nennungen), „Persönlicher Kontakt und Vertrauensbasis zum Patienten“ (13 Nennungen) und der „Arbeitsatmosphäre im Team“ (10 Nennungen). „Keinen Einfluss“ hatten nach Ansicht der Befragten die bisherige Zusammenarbeit mit einem „örtlichem Dentaldepot“ (20 Nennungen) oder „externen zahntechnischen Labor“ (16 Nennungen). Das gilt auch für die „Mitarbeiterfluktuation“ (17 Nennungen), das „Alter der Praxis“ (15 Nennungen) und die „Dauer der Betriebszugehörigkeit der Mitarbeiter“ (15 Nennungen).
Studie zeigt weiteren Forschungsbedarf
Die widersprüchlichen Angaben bezüglich des Praxisteam-Wertes verwunderten die Studienautoren. „Es ist zu vermuten, dass die Patientenbindung zumindest teilweise auch über die Praxismitarbeiter aufgebaut und erhalten wird“, heißt es in der Interpretation der Ergebnisse. „Insofern ist dieser Befund erstaunlich und bedarf weiterer Aufklärung durch entsprechende Forschungsansätze.“ Die Studie verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass ein Zahnarzt nicht immer als rational motivierter homo oeconomicus agiert, sondern dass das Bestreben, einen guten Preis für das in der Praxis enthaltene Sozialkapital zu erhalten, durchaus nachrangig sein kann. Dies gelte zum Beispiel dann, wenn es darum geht, das Sozialkapital der eigenen Praxis auch nach dem eigenen Weggang „aus idealistischen Motiven heraus zu bewahren“.
Festzustellen sei außerdem, dass die Kauf- beziehungsweise Verkaufsverhandlungen selbst keine entscheidende Rolle spielen, erklärt Klingenberger. Ganz konkret maßen die Befragten den Parametern „Mitbewerbersituation“ (23 von 27 Nennungen), den „steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten“ (21 Nennungen) und der „Vorlage eines Praxiswertgutachtens“ (15 Nennungen) mehrheitlich „keinen Einfluss“ auf die Höhe der Goodwill-Bewertung bei.
Anders ist das bei den Aspekten der betriebswirtschaftlichen Einnahmen. Sowohl die Gesamteinnahmen als auch der Honorarumsatz, der Einnahmenüberschuss vor Steuern und die Scheinanzahl hatten mehrheitlich „großen Einfluss“. Bei der einzigen zukunftsorientierten Extrapolation von Vergangenheitswerten, dem „nachhaltig erzielbaren Gewinn“ ist die Meinung der Befragten uneindeutig. Für zehn von ihnen hatte diese Kennzahl „großen Einfluss“, für sechs „gewissen Einfluss“ – für die verbleibenden elf jedoch „keinen Einfluss“.
Auch andere direkt oder indirekt zukunftsorientierte Parameter bewerten die Praxisverkäufer laut Klingerberger als überraschend wenig relevant. So haben die „Fremdlaborkosten der letzten Jahre“ nach Einschätzung von 16 der 27 Befragten „keinen Einfluss“, obwohl sie möglicherweise Rückschlüsse auf den Sanierungsgrad des Patientenstamms zulassen. Ähnliches gelte für die „Abschreibungen der letzten Jahre“. Nur vier Befragte messen dieser Kennzahl „großen“ oder einen „gewissen Einfluss“ auf den Goodwill zu. Und dass, obwohl jahrelange geringe Abschreibungen die Vermutung zuließen, dass sich im Zug der Abgabe ein Investi- tionsstau aufgebaut haben könnte, sagt Klingenberger. Überraschend sei auch die geringe Wertschätzung der Altersstruktur der Patienten – 17 von 27 Befragten geben an, dass diese keinen Einfluss hatte.
Käufer und Verkäufer bewerten unterschiedlich
In ihrem Fazit kommen die Studienautoren zu dem Schluss, dass bei der Plausibilisierung des ideellen Wertes das Sozialkapital eine „unverzichtbare gedankliche Stütze“ darstellt, da ohne dessen Kenntnis die zukünftigen Erträge einer Zahnarztpraxis nicht verlässlich prognostizierbar seien. Darum plädieren sie für eine Ausdifferenzierung der gängigen Praxisbewertungsverfahren mit Blick auf diese Größe und betonen, dass diese Forderung nicht banal sei angesichts des weit verbreiteten Brauches, den Wert einer Praxis vergröbernd als Substanzwert plus einem betragsmäßig diffusen Aufschlag zu deklarieren. Stattdessen ist der ideelle Wert einer Zahnarztpraxis aus Sicht des IDZ keine undefinierbare, rational nicht erklärbare Restgröße, „sondern ein anhand konkreter Aspekte plausibel darstellbarer Wert“.