Wenn die Muskulatur nicht mehr richtig mitmachen kann
Bei der amyotrophen Lateralsklerose handelt es sich um eine Erkrankung des Nervensystems, bei der es infolge der Degeneration von Nervenzellen, die die Muskelbewegung steuern (Motoneurone), zu einer zunehmenden Muskelschwäche, zum Muskelschwund und zu Lähmungen kommt.
Die Erkrankung entwickelt sich oft langsam schleichend mit zunächst unspezifischen Symptomen wie Schwäche, rascher Ermüdbarkeit und Krämpfen. Sie kann jedoch auch rasch progredient verlaufen und innerhalb weniger Jahre zum Tod führen. Der Düsseldorfer Maler Jörg Immendorff ist neben Hawking ein weiteres prominentes Opfer der ALS. Er erkrankte 1997 und verstarb bereits zehn Jahre später an der Nervenlähmung.
Verbreitung der ALS
Die ALS gilt als seltene Erkrankung, ist dabei aber weltweit verbreitet: Die Inzidenz liegt offiziellen Angaben zufolge bei 1 bis 3:100 000, die Prävalenz wird mit 3 bis 8:100 000 angeben. Männer sind insgesamt deutlich häufiger betroffen als Frauen, das Verhältnis liegt bei etwa 5:1, die Krankheitshäufigkeit nimmt den Beobachtungen zufolge weltweit langsam zu. Neue Befunde des ALS-Registers Schwaben deuten jedoch an, dass die Erkrankung möglicherweise häufiger ist, als bislang angenommen wurde.
Die Erkrankung tritt meist zwischen dem fünften und dem siebten Lebensjahrzehnt auf, nur selten manifestiert sie sich in jungen Jahren. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 57 Jahren. Allerdings gibt es auch früh auftretende Krankheitsformen wie die chronisch juvenile ALS, an der Hawking erkrankte. Die juvenile Krankheitsform weist einen extrem langsamen Verlauf auf. Das demonstriert auch das Beispiel des Physikers, bei dem die ALS bereits 1963, kurz nach seinem 21. Geburtstag, diagnostiziert wurde.
Wie sich das Krankheitsbild im Einzelfall entwickelt und wie rasch massive Beeinträchtigungen und Behinderungen drohen, ist individuell sehr unterschiedlich und nicht vorhersehbar. Doch auch bei sehr langsamem Verlauf ist die Lebenserwartung der Betroffenen im statistischen Mittel gegenüber der Normalbevölkerung verkürzt.
Das Krankheitsbild ist sehr unterschiedlich
Das Beispiel der chronisch juvenilen ALS zeigt bereits, dass es sich bei der amyotrophen Lateralsklerose nicht um ein einheitliches Krankheitsbild handelt. Es gibt vielmehr unterschiedliche Krankheitsformen, die regional auch unterschiedlich auftreten können.
Zum Beispiel manifestiert sich im pazifischen Raum und insbesondere in Japan und West-Neuguinea häufiger als in anderen Regionen eine ALS, die mit Symptomen eines Morbus Parkinson assoziiert ist und bei der es oft ferner zur Entwicklung einer Demenz kommt. Dieses sogenannte ALS-Parkinson-Demenz-Syndrom wird durch eine entsprechende genetische Disposition erklärt.
Es gibt weitere Hinweise auf genetische Faktoren, die ursächlich wirksam sein können. So sind vor allem bei Patienten mit familiärer Häufung der ALS Assoziationen zu bestimmten Genmutationen bekannt. Diese können wahrscheinlich ähnlich wie bei der Alzheimer-Erkrankung falsche Proteinfaltungen bedingen, was zur Akkumulation der fehlerhaften Proteine und zur Neurodegeneration führen kann. Konkret scheint TDP-43 eine Rolle zu spielen. Das Protein wird offenbar über die Axone von Neuron zu Neuron weitergegeben und verursacht so Schädigungen im Nervensystem. Die Genetik ist aber wohl nicht die alleinige Ursache der ALS, da sich diese auch sporadisch, also ohne familiäre Häufung, manifestieren kann.
Neue Befunde zur Pathogenese
Wissenschaftler des ALS-Forschungszentrums der Universität Ulm konnten zudem im Mausmodell zeigen, dass der Stoffwechselfaktor PGC-1-
α
, der den Zellstoffwechsel reguliert, den Krankheitsbeginn und auch den Verlauf der ALS determiniert. Basis hierfür scheinen Varianten des PGC-1-
α
- Gens zu sein, die Zusammenhänge waren jedoch nur bei männlichen Patienten nachzuweisen. Der Befund kam nicht überraschend, denn PGC-1-
α
spielt wahrscheinlich auch bei der Pathogenese anderer neuro-degenerativer Erkrankungen wie dem Morbus Huntington und dem Morbus Parkinson eine Rolle.
Die neuen Erkenntnisse bringen, so hieß es beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Dresden, das bisherige Krankheitsverständnis der ALS ins Wanken. Sie könnten zudem die Tür aufstoßen zur Entwicklung innovativer Behandlungsmöglichkeiten, mit denen sich die Krankheitsprogression aufhalten lässt. Dabei könnte es durchaus sein, dass die Behandlung geschlechtsspezifisch erfolgen muss, dass also bei Männern und Frauen unterschiedliche Therapieansätze zum Einsatz kommen sollten.
Symptome und Beeinträchtigungen
Kennzeichen der ALS ist eine Degeneration und dadurch bedingte Funktionsstörung des ersten und des zweiten Motoneurons, was Ausfallerscheinungen der Muskulatur nach sich zieht. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Muskelkrankheiten (DGM) sind Berührungsempfindungen sowie Empfindungen wie Schmerz oder auch die Sinneswahrnehmungen Sehen, Hören, Riechen und Schmecken nicht beeinträchtigt. Auch die Funktionen von Blase und Darm sind im Normalfall nicht gestört und in aller Regel kommt es nicht oder kaum zu Störungen der kognitiven Funktionen.
Im Zentrum der Symptomatik stehen vielmehr eine Muskelschwäche und ein Muskelschwund mit spastischen und atrophischen Lähmungen der Muskulatur. Die Symptomatik beginnt oft in der Hand- und Unterarmmuskulatur einer Körperseite und dehnt sich im weiteren Verlauf auf die gegenüberliegende Seite sowie die untere Extremität aus. Nur selten beginnt die Schwäche nach Angaben der DGM in der Unterschenkel- und Fußmuskulatur oder in der Oberarm- und Schultermuskulatur. Auffallend sind anfangs oft ein spastisches und verlangsamtes Gangbild und eine eingeschränkte Geschicklichkeit der Hände. Allerdings ist bei einigen Patienten auch ein Beginn der Erkrankung im Bereich der Sprech-, Kau- und Schluckmuskulatur als sogenannte Bulbärparalyse möglich mit Schwierigkeiten, den Mund zu öffnen bis hin zum Trimus. Möglich ist außerdem eine spastische Sprechstörung, die primär durch eine angestrengte und verlangsamte Sprache auffällt.
Während solche spastischen Störungen vor allem durch eine Degeneration des ersten Motoneurons bedingt sind, kommt es bei Degeneration des zweiten Motoneurons vor allem zu atrophischen Veränderungen. Es treten unwillkürliche Muskelzuckungen (Faszikulationen) und schmerzhafte Muskelkrämpfe auf und gegebenenfalls ebenfalls Sprech- und Schluckstörungen sowie Fibrillationen der Zunge.
Diagnostik
Die Diagnostik der ALS fußt auf der klinischen, der neurologischen sowie der neurophysiologischen Untersuchung, wobei auch nach charakteristischen Zeichen wie Fibrillationen beim Herausstrecken der Zunge zu suchen ist.
Von entscheidender Bedeutung für die Diagnosestellung ist die Durchführung einer elektromyografischen sowie einer elektroneurografischen Untersuchung. Blut-, Urin- und Liquoruntersuchungen sowie bildgebende Verfahren sind differenzialdiagnostisch zum Ausschluss anderer Ursachen der Symptomatik angezeigt.
Behandlungsmöglichkeiten
Da die Ursache der ALS bislang nicht bekannt ist, existiert keine kausale Therapiemöglichkeit. Die Behandlung erfolgt interdisziplinär. Neben der medikamentösen Therapie sind insbesondere ergothera- peutische, physiotherapeutische und logotherapeutische Maßnahmen wichtig, um Funktionsverlusten entgegenzuwirken. Je nach Krankheitsverlauf kann außerdem das Hinzuziehen verschiedener Fachdisziplinen wie etwa eines Orthopäden oder eines Pneumologen notwendig werden.
Medikamentös wird mit dem Wirkstoff Riluzol behandelt, einem Glutamat-Antagonisten, dem neuroprotektive Effekte zugeschrieben werden. In Studien belegt wurde, dass der Wirkstoff eine Verlängerung der Überlebenszeit erwirkt, die allerdings im Mittel bei nur drei Monaten liegt. Riluzol kann den Studien zufolge die Krankheitsprogression nicht verhindern, möglicherweise aber verlangsamen. Weitere Medikamente befinden sich laut DGM derzeit in klinischer Prüfung.
Symptomatische Therapie
Mangels kausal in die Pathogenese eingreifender Therapieoptionen erfolgt die Behandlung der ALS symptomatisch. Ziel dabei ist die Erhaltung und Aktivierung der funktionsfähigen Muskulatur und das Aufhalten von Funktionsverlusten, um die Auswirkungen und Folgen der neuromuskulären Erkrankung möglichst zu lindern, Symptome zu bessern und die Lebensqualität der Patienten sowie ihre Selbstständigkeit im Alltag so lange wie möglich zu erhalten.
Die Therapie richtet sich dabei nach den im individuellen Fall vorherrschenden Krankheitssymptomen. So kann beispielsweise durch physiotherapeutische Maßnahmen wie Krankengymnastik und Massagen, durch körperliches Training und auch medikamentös mit Magnesium, Chininsulfat und Carbamazepin versucht werden, den zum Teil sehr belastenden Muskelkrämpfen der Patienten, die vor allem im Frühstadium der Erkrankung auftreten, vorzubeugen.
Kommt es zu Schluckstörungen als Folge einer Schwächung der Schlundmuskulatur, so besteht ein erhöhtes Risiko für eine Aspirationspneumonie und es drohen bei reduzierter Nahrungsaufnahme und eingeschränktem Trinken eine Mangelernährung und eventuell auch eine Dehydratation. Den Patienten wird eine Umstellung der Ernährung auf pürierte Nahrung und angedickte Flüssigkeiten empfohlen und eventuell auch zu Nahrungsergänzungsmitteln zur Deckung des Kalorienbedarfs geraten. Dies geschieht nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass dem BMI prognostische Bedeutung zukommt mit Überlebensvorteilen bei hohem Body-Mass-Index. Schreitet die Erkrankung fort, so kann eine parenterale Ernährung notwendig werden.
Leiden Patienten unter erhöhtem Speichelfluss infolge einer Schluckstörung bei Schwächung der Mund- und Nackenmuskulatur, so können Medikamente, die die Speichelproduktion hemmen, hilfreich sein.
Bei fortschreitender Beeinträchtigung der Zungen-, Mund und Gaumenmuskulatur kann eine Dysartherie resultieren. Dem ist durch eine gezielte logopädische Behandlung entgegenzuwirken. Schreitet jedoch die Sprechstörung fort, so ist eine Versorgung mit Kommunikationshilfen wie etwa Alphabet- und Bildtafeln wichtig. Die Kommunikation kann computergestützt erfolgen, wobei die Systeme bei Lähmungen der Hand und der Finger auch mittels Augenbewegungen gesteuert werden können. Gegebenenfalls ist auch der Einsatz von speziellen Brain-Computer-Interfaces möglich.
Etwa jeder zweite Patient leider außerdem unter einem unkontrolliert auftretenden Lachen und/oder Weinen. Da die Reaktionen oft in völlig unangemessenen Situationen auftreten, können sie sehr belastend sein. Hilfreich sind häufig Behandlungsversuche mit Antidepressiva.
Potenzielle Komplikationen
Als Komplikation gefürchtet ist bei der ALS eine Schwäche der Atemmuskulatur. Sie entwickelt sich bei fast allen Patienten früher oder später, allerdings ist der Verlauf individuell sehr unterschiedlich. Es kann zum Befall von drei Muskelgruppen kommen, der Einatemmuskulatur, der Ausatemmuskulatur und der Muskulatur des Rachen- und Kehlkopfbereichs (bulbäre Muskulatur). Folge des Befalls der Einatemmuskulatur, dessen Hauptmuskel das Zwerchfell darstellt, ist nach Informationen der DGM eine alveoläre Hypoventilation. Und es resultiert eine eingeschränkte Ausatmung von Kohlendioxid. Dagegen bewirkt eine Schwäche der Ausatemmuskulatur, also vor allem der Bauchmuskulatur, eine Abschwächung des Hustenstoßes. Die Folge kann laut DGM eine Ansammlung von Sekret in den Atemwegen sein mit teilweiser Verlegung der Luftwege, was wiederum Infektionen begünstigt.
Die Störungen können im Fall von Komplikationen wie etwa einer Infektion bei einer rasch progedienten Erkrankung laut DGM schon innerhalb weniger Monate zur Beatmungspflicht führen. Es kann andererseits sein, dass sich die Erkrankung nur langsam progredient entwickelt.
Auch dann aber kommt es in aller Regel langsam stetig zu einer Einschränkung der Lungenfunktion, zur Hypoxie und zur Hyperkapnie. Der verminderte Sauerstoffgehalt im Blut bei erhöhtem Kohlendioxidgehalt hat seinerseits Folgen wie Schlaf- störungen und Müdigkeit, morgendliche Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Unruhezustände und bei Krankheitsprogredienz auch eine zunehmende Dyspnoe.
Die Behandlung richtet sich nach der vorherrschenden Problematik: Sie besteht in der antibiotischen Therapie bei bakteriellen Infekten, der Gabe von Sauerstoff bei Dyspnoe sowie analog der Situation beim Asthma und der Mukoviszidose in allgemeinen physiotherapeutischen Maßnahmen zur Sekretlockerung und Sekretentfernung und gegebenenfalls auch zur Sekretabsaugung.
Die resultierende respiratorische Insuffizienz kann außerdem eine maschinelle Beatmung in Form der Heimbeatmung notwendig machen, entweder stundenweise über eine Atemmaske oder bei weiter fortschreitender Atemlähmung als maschinelle Beatmung über ein Tracheostoma.
Krankheitsverlauf
Der Krankheitsverlauf ist insgesamt variabel, die klinische Situation kann sich laut DGM über wenige Monate hinweg massiv verschlechtern oder nur langsam im Verlauf von Jahren fortschreiten. Je nachdem, welche motorischen Nervenzellen geschädigt sind, können nach Angaben der Gesellschaft spastische Bewegungskomponenten vorliegen. Es kann aber auch das Bild einer schlaffen Lähmung vorherrschen.
Die Symptome können in einzelnen Körperregionen unterschiedlich ausgeprägt sein: Es kann sogar vorkommen, dass ein Patient noch gehfähig ist, die Schulter- und Oberarmmuskulatur jedoch eine fast vollständige Lähmung zeigt (Flügelarm-Syndrom).
Andere Formen sind laut DGM mit aufsteigenden Lähmungen der Muskulatur beginnend an den unteren Extremitäten bis hin zum Rumpf, an den oberen Extremitäten sowie am Hals und am Kopf gekennzeichnet. Die bulbäre Form der ALS beginnt hingegen mit Schluck- und Sprechstörungen. Die sensorischen und vegetativen Funktionen bleiben in der Regel aufrecht und intakt. „Die Komplexität und Vielschichtigkeit des individuellen Krankheitsverlaufs erfordert von den Therapeuten ein breites Spektrum an Fachwissen sowie eine fundierte Auseinandersetzung mit den Mechanismen der ALS“, betont die Gesellschaft.