Mitten in der Revolution
„Wir haben es momentan mit einem unkontrollierten Anstieg von öffentlichen und privaten Medical Schools und grenzübergreifenden Franchise-Modellen von medizinischen Fakultäten in Europa zu tun“, erläuterte Prof. Dr. Peter Dieter, Präsident der AMSE, den Anlass für das Symposium in Berlin. Zu der Gemeinschaftsveranstaltung des MFT und des AMSE reisten Vertreter der verschiedenen Stakeholder im Gesundheitswesen und der medizinischen Lehre aus 18 verschiedenen Ländern an.
Ein internationaler Austausch über die Qualität der medizinischen Ausbildung in Europa sei überfällig, sagte Dieter in seinem Grußwort. Einerseits würden immer mehr und immer unterschiedlichere Curricula für Medizinstudiengänge existieren, andererseits seien aber keine standardisierten Maßnahmen zur Qualitätssicherung vorhanden. Zudem sei auch die Praxis der automatischen Anerkennung von Arztlizenzen in ganz Europa durch entsprechende EU-Direktiven fragwürdig. Er bedauere es darum sehr, dass keiner der eingeladenen politischen Vertreter an der Veranstaltung teilnahm. Die EU-Politik sei schließlich eine wichtige Stellgröße bei der Ausgestaltung der medizinischen Ausbildung, wichtig sei, dort noch intensiver für die Interessen der AMSE zu werben.
Auch die Präsidentin der Association of Medical Education in Europe (AMEE), Trudie Roberts, betonte die Relevanz politischer Lösungen. Sie gab zu bedenken, dass Politiker allerdings in erster Linie ihren Wählern zuhören, weshalb es einmal mehr wichtig sei, den Patienten in den Fokus der Bemühungen zu nehmen. „Wir sind mitten in einer Revolution“, lautete Roberts Analyse über den Gesamtzustand der medizinischen Ausbildung in Europa. Am revolutionärsten sei die ständig steigende Zahl an Frauen, die europaweit in den Arztberuf streben. Aber auch die ubiquitäre Verfügbarkeit von Informationen über das Internet sei eine tief greifende Änderung. Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind laut Roberts vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks.
Durch diese Veränderungen müsse man künftig neue Anforderungen an die Ausbildung von Medizinern anlegen. Hierin liege allerdings auch die Chance, die vorhandenen Potenziale besser zu nutzen. In England beobachtete die in Leeds arbeitende Ärztin, dass es zwar immer mehr Absolventen gibt, aber nicht genügend Plätze für die Facharztausbildung bereitgestellt werden. Allgemein sei die Zahl der privaten Universitäten in England aber gering. Auch sehe sie diese nicht zwingend als problematisch an, da sie durch das General Medical Council (die englische Ärztekammer) kontrolliert werden – wie die gesamte medizinische Ausbildung in England. Sie fordere vielmehr eine Liberalisierung der öffentlichen Schulen, da bei diesen – anders als bei den Privaten – die Anzahl an Medizinstudenten gedeckelt sei.
Ein ganz anderes Szenario beschrieb Iskender Sayek, ehemaliger Studiengangsleiter für Medizin an der Hacettepe Universität in Ankara. In seinem Land sei die Zahl an Private Medical Schools in den vergangenen beiden Dekaden explodiert. Lag die Zahl in den 90er-Jahren noch bei 44, sind mittlerweile 88 dieser Schulen registriert. Hauptverantwortlich dafür sei eine Liberalisierung des Zulassungsgesetztes.
Wenig überrascht vom Interesse an privaten Angeboten zeigte sich Prof. Dr. Jürgen Westermann, Leiter des Instituts für Anatomie an der Universität Lübeck. „Es ist kein Wunder, dass Studenten sich für Private Medical Schools entscheiden, denn das Auswahlverfahren in Deutschland ist ein Skandal.“ Wenn nur nach Abschlussnoten gefiltert wird, würden sich die anderen Bewerber natürlich Alternativen suchen.
Seit dem Wintersemester 2005/06 haben Universitäten die Möglichkeit, 60 Prozent ihrer Studienplätze selbst zu vergeben. Die Universität Lübeck führt Interviews zur Auswahl von Medizinstudierenden durch. Dies ist laut Westermann zwar zeitaufwendiger, was auch der Grund dafür sein dürfte, das nur neun Universitäten deutschlandweit solche Auswahlverfahren durchführen, lasse aber eine wesentliche höhere Prognosekraft über die Motivation der Studierenden zu als der Vergleich von Abiturnoten.
Kontroverse über die deutsche Ausbildung
„Die medizinische Ausbildung in Deutschland ist immer noch sehr hierarchisch organisiert“, kritisierte Prof. Dr. Hans-Jochen Heinze, Mitglied des Wissenschaftsrates, in seinem Vortrag über die Qualität der medizinischen Ausbildung in Deutschland. Die wesentliche Herausforderung sei auch hier der demografische Wandel. Die Evaluation der medizinischen Studiengänge in Deutschland durch den Wissenschaftsrat habe ergeben, dass es an einheitlichen Kriterien mangelt. Heinze riet dazu, sich an den Qualitätsstandards für medizinische Ausbildung der World Federation for Medical Education (WFME) zu orientieren. „Der Fokus der deutschen Ausbildung liegt noch zu sehr auf Theorie und Disziplin“, konstatierte er und forderte „einen Wechsel zu mehr medizinischen Aufgaben und Befugnissen innerhalb der Ausbildung“.
Wissenschaftliche Forschung hingegen sei unbedingt notwendig. Als mögliches Instrument hierfür sei eine obligatorische wissenschaftliche Arbeit am Ende des Grundstudiums, wie es sie in anderen Fächern gebe, denkbar. Heinze bezeichnete einen solchen Weg als Paradigmenwechsel in der medizinischen Ausbildung. Weiter fordert der Wissenschaftsrat, Kursinhalte (nicht die Ausbildungsdauer) zu kürzen und den inhaltlichen Schwerpunkt auf die medizinische Versorgung zu legen. Laut Heinze gebe es keinen Anlass, für eine identische medizinische Ausbildung in der EU, allerdings müssten Kontrollinstrumente, insbesondere für die privaten Franchise-Modelle, eingeführt werden.
Im Anschluss an Heinzes Vortrag entwickelte sich eine lebhafte Diskussion. Besonders viel Widerspruch an seinen Reformplänen kam von Prof. Dr. Josef Pfeilschifter, Mitglied des Medizinischen Fakultätentages. Pfeilschifter zeigte sich einer Öffnung des medizinischen Curriculums gegenüber skeptisch. Er betonte, dass man mittels der neun Modellstudiengänge bereits Änderungen am Curriculum erprobe. Kürzungen oder Aufweichungen des theoretischen Ausbildungsteils halte er jedoch für riskant. Und hinsichtlich der Qualitätskontrolle an Private Medical Schools und FranchiseModellen sagte Pfeilschifter: „Wir haben Standards, wir müssen nur auch dafür sorgen, dass diese angewendet werden.“
In Europa wird es ohne einheitliche Verfahren nicht gehen: Die AMSE-Mitglieder einigten sich darauf, sich für europaweite Qualitätsstandards in den verschiedenen medizinischen Ausbildungsformen stark zu machen. Zudem wollen sie in Zukunft mehr und besser mit den einzelnen Stakeholdern und der EU-Politik kommunizieren.