Neues Wissenschaftsmodell: Choosing Wisely

Die Krux der klugen Entscheidung

Welche medizinischen Leistungen sind überflüssig? Welche werden zu selten durchgeführt? Auf diese Fragen versuchen deutsche Medizinwissenschaftler derzeit Antworten zu finden. Die amerikanische Initiative des Choosing Wisely mit dem Fokus auf der Identifizierung unnötiger Maßnahmen greift den Wissenschaftlern zu kurz. Ihnen geht es um den Abbau von Über- und von Unterversorgung sowie darum, einen Prozess zu finden, Maßnahmen – falls nötig – zu unterlassen. Auch in der Zahnmedizin machen Diskussionen um das Thema Sinn.

Wie so oft haben es die Amerikaner vorgemacht: Bereits im Jahr 2011 gründete sich in den Vereinigten Staaten die sogenannte „Choosing Wisely“-Initiative, eine Initiative bestehend aus Fachgesellschaften und Spezialisten aller Gebiete der Medizin. Sie alle erstellten Listen mit fünf Vorschlägen für ihr jeweiliges Fachgebiet, von denen sie die stärksten Effekte im Sinne einer Reduktion unnötiger Maßnahmen (Don’t Do’s) erwarten.

Im Jahr 2015 schwappt(e) die Choosing- Wisely-Initiative auch auf Deutschland über – wenngleich unter etwas abgewandeltem Namen. Und während die USA den Fokus ihrer Kampagne-artigen Bewegung klar auf den Abbau von Überversorgung verbunden mit Einsparungen legten, geht es der deutschen Wissenschaft um den Abbau von Über- und von Unterversorgung. So hat sich die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) vorgenommen, sowohl Handlungen zu identifizieren, die nicht sinnvoll sind, als auch Handlungen herauszuarbeiten, die in der Praxis zu wenig getan werden.

Hilfestellung für Fachgesellschaften

„Wir wollen kluge Entscheidungen treffen, dabei aber nicht ins Ökonomische abdriften“, fasst es der neue Vorsitzende der DGIM, Prof. Dr. Gerd Hasenfuß, zusammen. In Amerika sei die Sorge vor Kunstfehlern stark ausgeprägt. Die Herangehensweise sei daher eine andere.

Eine speziell für das Thema abgestellte „task force klug entscheiden“ unter der Leitung von Hasenfuß hat bereits begonnen, Motive für kluge Entscheidungen zu definieren. Es müsse letztlich klare Evidenzen dafür geben, dass bestimmte Maßnahmen nicht sinnvoll sind. Auch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hat in diesem Jahr angefangen, sich professionell dem Thema „Gemeinsam Klug Entscheiden“ zu nähern.

Bereits heute gibt es in Deutschland zahlreiche evidenzbasierte Leitlinien, die Fachgesellschaften gemeinsam mit Patienten und anderen Berufsgruppen erarbeitet haben. Jetzt geht es der AWMF aber darum zu erkennen, wo Leitlinien nicht ausreichend umgesetzt werden oder fehlen. Sie hat eine Ad-hoc-Kommission eingesetzt, die zunächst methodische Grundlagen und Hilfen für die Fachgesellschaften erarbeiten wird, die Empfehlungen zu „Gemeinsam Klug Entscheiden“ erstellen.

Nach Angaben der Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement der AWMF, Prof. Dr. Ina Kopp, sollen am Ende klug ausgewählte Empfehlungen als Grundlage für wissenschaftlich und ethisch begründete Entscheidungen stehen. Es soll ein wissenschaftlicher Mehrwert für Patienten und für Ärzte entstehen. „Uns ist es wichtig, Ärzte dazu anzuregen, Dinge auch einmal nicht zu tun“, sagt Kopp. Gleichzeitig habe die Einführung der Fallpauschalen im stationären Bereich dazu geführt, dass es auch Unterversorgung gebe – so bei Arzt-Patienten-Gesprächen. Im Oktober will die AWMF im Rahmen ihres Berliner Forums erste Ergebnisse präsentieren.

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Überflüssiges in der Zahnmedizin

Grundsätzlich müsse man auch in der Zahnmedizin immer wieder hinterfragen, ob Zahnärzte hier zu viel oder da zu wenig tun, sagt Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der BZÄK. Konkret gebe es dabei aber ein Problem: Die Schwierigkeit in diesem Fachbereich sei, dass sich die Effekte bestimmter Handlungen erst nach vielen Jahren einstellen – sei es im Bereich der Kieferorthopädie oder bei Füllungen. „Bei anderen medizinischen Erkrankungen fallen Empfehlungen leichter, weil die Ergebnisse der Behandlung viel früher festgestellt werden können. Oesterreich zufolge fehlen gerade in der Zahnmedizin häufig  wissenschaftliche Studien zu den Langzeiteffekten von Maßnahmen.

Beispiel Parodontitis: Das Wissen über diese Erkrankung sei noch nicht ausreichend, es fehlten Empfehlungen, wann und wie genau Zahnärzte vorgehen müssen. Beispiel Füllungen: Hier sollte diskutiert werden, ob nicht ältere Füllungen auch repariert werden können und nicht gleich vollständig ausgetauscht werden müssen. Der amerikanischen, effektgetriebenen Herangehensweise an Choosing Wisely steht Oesterreich positiv gegenüber, weil sie eins leistet: „Manchmal ist es sinnvoll, ein Thema an Begrifflichkeiten festzumachen, schließlich schärft das die Wahrnehmung“, glaubt der BZÄK-Vizepräsident.

Klare Aussagen zu überholten Leistungen

Der Geschäftsführer des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung (ZI), Dr. Dominik Graf von Stillfried, das sich seit vielen Jahren mit Über-, Unter- und Fehlversorgung im Gesundheitswesen beschäftigt, ist von der Notwendigkeit der deutschen Choosing-Wisely-Bewegung überzeugt. Er sieht sie als fokussiertes Statement für oder gegen bestimmte Leistungen – eine Art verkürzte Leitlinie, die noch auf den Weg zu bringen ist. „Die Medizin entwickelt sich stetig weiter. Klare Aussagen zu mittlerweile überholten Leistungen können geeignet sein, die Variationsbreite bei solchen Leistungen zu reduzieren.“ Ein erster, wünschenswerter Schritt sei, dass sich die Fachgesellschaften auf entsprechende Leistungen einigen.

Martina MertenFachjournalistin für Gesundheitspolitikinfo@martina-merten.de

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