Candystorm in der Praxis
„Falls Sie nicht mehr benutzte Kinderwagen, Schuhe, Socken, Spielzeuge, Koffer, Shampoo et cetera haben und dies nicht mehr benötigen, dann bringen Sie es bitte zu uns und wir sorgen dafür, dass es zu den Bedürftigen weitergeleitet wird.“
Mit diesem Aufruf wandte sich der Zahnarzt digital an seine Patienten – und bekam ein riesiges Echo: Über 47.000 Leute haben den Beitrag gesehen, über 130-mal wurde er geteilt. Patienten, die er bis dato gar nicht kannte, schrieben ihm plötzlich E-Mails. Alte Damen brachten spontan selbst gebackene Kuchen in die Praxis. Kleider, Hosen, Jacken und Mäntel, Spielzeug und Kinderwagen – haufenweise Sachspenden in kürzester Zeit.
Guter Rat von der KZV
Ehrenamtliche Ärzte aus dem Bereich der Aufnahmestelle für Flüchtlinge hatten Rassaf Hilfe suchend kontaktiert. Er hat sich dann bei seiner zuständigen KZV erkundigt, ob er Patienten ohne Sozialstatus überhaupt behandeln darf. „Wenn die Flüchtlinge hier in der Erstaufnahme in Gießen aufgenommen und dann in die einzelnen Städte verteilt werden, dann kriegen sie eine Nummer und einen grauen Schein“, schildert Rassaf. Die KZV informierte ihn, dass er bei der Patientengruppe eine Schmerzbehandlung gemäß den Vorgaben des Asylgesetzes machen dürfe.
Zusätzlich hat Rassaf mit dem Roten Kreuz und dem Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) telefoniert. Mit letzterem hat er vereinbart, dass erst mal festgestellt wird, wer überhaupt Schmerzen hat und was im Einzelfall gemacht werden muss. Grundsätzlich verantwortlich für den Sicherstellungsauftrag sind im Fall von Flüchtlingen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus übrigens die Behörden, nicht die Zahnärzte. Gleichwohl darf man sich als Zahnmediziner nicht dem Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung aussetzen.
Nicht ohne das Team
Rassaf überlegte sich, freitags nach den bestellten Patienten ein Behandlungszeitfenster für Flüchtlinge zu öffnen. Dies ging aber nur mit der Unterstützung seiner Mitarbeiterinnen. Sie einigten sich darauf, dass er die Hälfte der Zeit bezahlt und sie die andere Hälfte ohne Honorar bleiben. Auch der Samstag sollte bei entsprechender Nachfrage ins Auge gefasst werden. So kam es, dass im Oktober dreimal und im November einmal Flüchtlinge in der Praxis behandelt wurden.
Mit dem Großraumtaxi wurden die Patienten samt Übersetzer von der Unterkunft zur Praxis gebracht: hauptsächlich Syrer, aber auch Afghanen und Äthiopier. Mithilfe der Übersetzer konnte genau abgeklärt werden, welche Medikamente im Einzelfall genommen werden. Rassaf erinnert sich: „Wir haben den ersten Abend von 15.30 bis 22.30 Uhr gearbeitet. Wir wussten ja nicht, was auf uns zukommt. Dass da jemand kommt, dem ich acht Zähne ziehen würde! Die waren so marode.“
Ein ethisches Dilemma
Der Zahnarzt fand sich plötzlich in einem ethischen Dilemma wieder. „Es heißt ja, ich darf nur Schmerzbehandlung machen, aber ich kann keinem Zwanzigjährigen einen Zahn ziehen in der Front, wo eigentlich eine Füllungstherapie gemacht wird. Ich habe dann eine Füllung gemacht“, schildert er.
In der Flüchtlingsunterkunft hat sich die zahnmedizinische Hilfe schnell herumgesprochen – und bei manchem völlig falsche Erwartungen geweckt. „Kannst du mir mal die Zähne weiß machen?“, fragte ihn ein Mann. Rassaf sagt: „Ich wurde gewarnt, dass dies passieren könnte, und das hat sich leider bewahrheitet. Die Menschen mussten dann aber wieder gehen.“
Andererseits kamen auch Patienten, die auf der Flucht heftige Gewalt erfahren haben: Ein Mann wurde in Ungarn von Polizisten geschlagen, woraufhin ihm die Brücke in der Unterkieferfront abgebrochen ist. Rassaf hat die Brücke notdürftig geklebt – in der Hoffnung, dass sie hält. Dahinter verbirgt sich die Problematik, dass die Flüchtlinge anfangs nicht wissen, wohin sie verteilt werden, und somit meist nicht ein zweites Mal zum selben Zahnarzt gehen können.
Kurz vor Redaktionsschluss hat Rassaf noch einmal 16 Flüchtlinge an einem Freitag behandelt. „In meinem Stadtteil in Frankfurt-Niederrad haben wir jetzt auch drei Unterkünfte, die haben schon angefragt“, berichtet er weiter. Wie lange er seine Praxis noch für Flüchtlinge außerhalb der festgelegten Arbeitszeit öffnen kann, hänge auch von seinen Mitarbeiterinnen ab: „Die haben auch Privatleben und wir haben feste Termine. Wir machen das, solange es geht und nötig ist“, sagt er.
Pausenraum Kleiderkammer
Was ist nun mit den ganzen Sachspenden passiert? Der Pausenraum wurde kurzerhand zu einer Art Kleiderkammer umfunktioniert. Die Sachen wurden nach Größen sortiert und nach Damen, Herren und Kindern getrennt. Nach der Behandlung können sich die Patienten daraus einzeln etwas aussuchen.
Rassaf sagt von sich selbst, dass er versucht hat, aus seinen beiden Kulturen das Beste mitzunehmen, wobei er sich aber klar als Europäer sieht. Bereits im Gymnasium im Ruhrgebiet habe er gelernt, Bedürftige zu unterstützen. Als Schüler habe er damals Obdachlosen Essen gebracht. „Für mich ist es nichts Besonderes zu helfen“, sagt er abschließend.
„Candystorm“ ist das Antonym zu „Shitstorm“. Es ist der im Netzjargon etablierte Begriff für eine große Zuspruchswelle via soziale Medien.