Pioniere der Anästhesie
Genau 170 Jahre ist es her: Am 16. Oktober 1846 verkündete Zahnarzt William Thomas Green Morton im Operationssaal des Massachusetts General Hospital das bisher Undenkbare: Er werde seinen Patienten mittels einer geheimnisvollen Substanz in einen schlafähnlichen Zustand versetzen.
Gesagt, getan: Patient Gilbert Abbott inhalierte das stechend riechende „Letheon“ und spürte, so erzählt er selbst später, tatsächlich kaum, wie ihm ein Tumor unterhalb des linken Unterkiefers entfernt wurde. Der Schmerz sei noch spürbar gewesen, sagte Abbott nach der OP, doch deutlich abgeschwächt, so als habe jemand „mit einer Hacke die Haut aufgekratzt“. Diese Tumor-Entfernung gilt als Geburtsstunde der Anästhesie und fand schon im November 1846 im Fachblatt Boston Medical and Surgical Journal, dem heutigen New England Journal of Medicine, große Anerkennung.
In der Zahnmedizin soll Äther als Narkosemittel bereits im Januar 1842 durch William E. Clarke eingesetzt worden sein. Er verabreichte angeblich in Rochester im US- Bundesstaat New York einer Patientin durch ein Handtuch Äther. Danach soll ihr der Zahnarzt Elijah Pope einen Zahn gezogen haben. Morton hatte für seine Operation ein halboffenes Narkosesystem entwickelt. In einen Glaskolben mit zwei Öffnungen war ein Schwamm mit Äther getränkt. Durch den Glaskolben atmete der Patient ein Gemisch aus Raumluft und Äther ein, wobei das Ausatmen durch ein spezielles Ventil nach außen erfolgte.
Experimente mit Lachgas
Einer, der ebenfalls als Pionior der Anästhesie bezeichnet werden kann, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts der amerikanischen Zahnarzt Dr. Horace Wells. Sein Augenmerk galt früh der Vermeidung von Schmerzen bei der Extraktion von Zähnen. Im Jahre 1838 veröffentlichte er seine Arbeit „An Essay on Teeth, Comprising a Brief Description of their Formation, Disease, and Proper Treatment“. Nach einer Reihe von fehlgeschlagenen Experimenten mit unterschiedlichen Narkotika glaubte er seit 1840 an die Effizienz des Stickoxyduls, dessen genaue Bezeichnung heute Distickstoffmonoxid lautet und das umgangssprachlich Lachgas genannt wird. In einem Selbstversuch ließ er sich in seiner Praxis durch den Kollegen Dr. John Mankey Riggs unter der Narkose von Stickoxydul einen Weisheitszahn ziehen. Als er wieder zu sich kam, soll der ausgerufen haben: „A new era in tooth-pulling!“ Durch den erfolgreichen Selbstversuch ermutigt, wandte Wells das Gas als Narkosemittel sofort in der eigenen Praxis an. Vielen seiner Patienten konnte er so schmerzfrei die Zähne ziehen. Um seine Entdeckung einer breiteren Öffentlichkeit zu demonstrieren, ging Wells am 20. Januar 1845 nach Boston. Dorthin hatte ihn der berühmte Chirurg Dr. John Collins Warren zu seiner Vorlesung an das Massachusetts General Hospital der Harvard University eingeladen, um die Wirkung des Stickoxyduls an einem Studenten vorzuführen. Doch anstatt von dem anwesenden Auditorium gefeiert zu werden, misslang die Demonstration. Sehr wahrscheinlich war die Dosierung des Gases zu gering oder das selbst hergestellte Lachgas nicht rein genug. Horace Wells wurde von den Studenten ausgepfiffen und als Scharlatan bezeichnet und das Narkosegas als Humbug abgetan. Der gute Ruf des Zahnarztes war in der medizinischen Fachwelt dahin. Dennoch wendete Wells in seiner Praxis bei der Zahnextraktion weiterhin erfolgreich Lachgas als Narkosemitteln an.
Neben Lachgas und Äther experimentierten Mediziner zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch mit Chloroform, das bei Überdosierung aber immer wieder zu Todesfällen geführt hatte. Seit den 1870er-Jahren hatte sich Äther als Narkosemittel in der Medizin durchgesetzt. Gegen Ende des 19. Jahrhundert kam Lachgas als Narkosemittel wieder vermehrt zum Einsatz.