Gerinnungshemmer

Thromboembolisches Ereignis nach Absetzen der Antikoagulation

Irina Bolm
,
Christian Walter
,
Tina Eyalil
Die Behandlung mit gerinnungshemmenden Medikamenten ist in der modernen Medizin nicht mehr wegzudenken. Wie der vorliegende Fall einer 73-jährigen Frau zeigt, stellen antikoagulierte oder mit Thrombozytenaggregationshemmern behandelte Patienten jedoch nach wie vor eine Herausforderung für die zahnärztliche Praxis dar.

Die Patientin wurde in die Universitätsmedizin Mainz eingeliefert, da ihr Ehemann sie im somnolenten Zustand zu Hause aufgefunden hatte. Beim Eintreffen im CT der Neuroradiologie präsentierte sich dem Neurologen eine vigilanzgeminderte Patientin mit einer hochgradigen sensomotorischen Hemiparese rechts und einem Herdblick nach links. Die klinische Untersuchung ergab ein Glasgow-Coma-Scale Wert von 10 (Tabelle 1).

Anamnestisch bestand an kardiovaskulären Risikofaktoren eine arterielle Hypertonie und ein chronisches Vorhofflimmern, weswegen die Patientin mit Marcumar eingestellt war. Für eine geplante Zahn- extraktion des Zahnes 46 erfolgte das Absetzen des Marcumars zehn Tage vor Zahnextraktion ohne ein Bridging.

Für die Notfall-Diagnostik erfolgte eine craniale Computertomografie (CCT) mit CT-Angiografie und CT-Perfusion, die einen distalen Verschluss bis zur T-Gabel der Arteria carotis interna (ACI) links zeigte (Abbildung 1). Nach Zusammenschau der Befunde wurde die Indikation für eine systemische Lysetherapie mit 70 mg rt-PA und lokaler Thrombektomie gestellt. Unter laufender Lysetherapie konnte die linke ACI wieder erfolgreich eröffnet werden (Abbildung 2). Während der Lysetherapie kam es zu einer Blutung mit Abgang von Blut über den Mund. Bei zunächst unbekannter Blutungsquelle erfolgte die prophylaktische Einlage zweier geblockter Choanal-Katheter in beide Nasenhauptgänge durch die erstbetreuenden Anästhesisten. Nach erweiterter Inspektion wurde eine Blutung aus der Alveole 46 vermutet, so dass zunächst ein Aufbisstupfer eingelegt wurde. Nach erfolgreicher Intervention erfolgte die Aufnahme der intubierten und beatmeten Patientin auf die Intensivstation der Neurochirurgie. Dort wurde eine konsiliarische Mitbeurteilung durch die Abteilung für Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie erbeten. Es zeigte sich eine Sickerblutung aus der Alveole 46. Die Alveole war mit einer adaptierenden Einzelknopfnaht und einer kleinen insuffizienten Tamponade versorgt. Nach Anlegen von Sekundärnähten sistierte die Blutung.

Zur weiteren Blutungsprophylaxe erfolgte die Einbringung eines mit Tranexamsäure getränkten Aufbisstupfers. Die einliegenden Choanal-Katheter konnten nach Exploration des Mund- und Rachenraums und bei Fehlen weiterer Blutungsquellen erst entblockt und dann entfernt werden.

Am gleichen Tag nach Thrombektomie erfolgte die Re-Evaluation mittels CCT, hierbei konnte kein größerer Infarkt abgegrenzt werden. Im anschließenden cMRT ließen sich kleine frische Diffusionsstörungen abgrenzen (Abbildung 3).

Nach kardio-pulmonaler Stabilisierung der Patientin wurde sie extubiert und auf die Stroke Unit verlegt. In der abschließenden neurologischen Untersuchung wies die Patientin keine motorischen, sensiblen oder kognitiven Defizite auf, es kam auch zu keinen weiteren Blutungsepisoden.

Diskussion

Täglich ist der Zahnarzt mit Risikopatienten und hierunter Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko konfrontiert. Wichtig ist zunächst die Erkennung solcher Risikofaktoren, was häufig aus der Medikamenten- anamnese entnommen werden kann, so dass ein regelmäßiges Update für behandelnde Ärzte und Zahnärzte auf diesem Gebiet unerlässlich ist (Beispiel: Zulassung Lixiana® mit dem Wirkstoff Edoxaban im Juni 2015). Indikationen für eine gerinnungshemmende Therapie sind zum Beispiel Vorhofflimmern, künstlicher Herzklappenersatz, eine tiefe Beinvenenthrombose, eine Lungenembolie sowie die primäre und sekundäre Prävention von Herzinfarkt oder Schlaganfall. Zur besseren Beurteilung des individuellen Risikos können Scores dienen, wie zum Beispiel der CHAD2-Score (beziehungsweise der modifizierte CHA2DS2-VASc-Score) für das Schlaganfallrisiko (Tabellen 2 und 3) [Gage et al., 2001], sowie der HAS-BLED-Score für das individuelle Blutungsrisiko von wegen Vorhofflimmerns prophylaktisch antikoagulierter Patienten (Tabelle 4) [Pisters et al., 2010].

Die Konsequenzen eines folgenschweren thrombembolischen Ereignisses durch Pausieren beziehungsweise Umsetzen (Bridging) einer gerinngungshemmenden Medikation sind gravierender als eine postoperative Blutungskomplikationen [Kämmerer et al., 2015], so dass das Absetzen der Antikoagulation und ein Bridging auf Heparin möglichst unterlassen werden sollte, da das Risiko eines thrombembolischen Ereignis mit potenziellen letalen Ausgang um den Faktor 3 erhöht ist. Hingegen sind letale Blutungskomplikationen nach zahnärztlich-chirurgischen Eingriffen bisher nicht beschrieben [Kammerer et al., 2015; Wahl, 2000]. Demnach sollten kleinere und mittlere dentoalveoläre Eingriffe, wie zum Beispiel Extraktionen von einzelnen Zähnen oder unkomplizierte Osteotomien, bei antikoagulierten Patienten im therapeutischen INR- Bereich (International Normalized Ratio) stattfinden, ohne eigenhändige Veränderung der Medikation und selbstverständlich mit suffizienten lokalen homöostatischen Maßnahmen. Zur Minimierung des Blutungsrisikos sollte sich beispielsweise der INR im unteren therapeutischen Bereich befinden und bei den neuen oralen Antikoagulantien mag ein Aussetzen der Medikation am Morgen der Operation nach Rücksprache und in Zusammenarbeit mit dem behandelnden Hausarzt beziehungsweise Internisten sinnvoll sein [von Haussen et al., 2015].

Dem Zahnarzt steht eine Vielfalt an hämostatischen Maßnahmen zur Verfügung, unter anderem physikalische Maßnahmen mittels Kompression durch Naht, Kollagenkegel, Aufbisstupfer und Verbandsplatte als auch die lokale Anwendung von antifibrinolytischen Lösungen wie Tranexamsäure oder unterschiedlichen Klebstoffen wie beispielsweise Histoacryl-, Fibrin- oder Cyanoacrylaten [von Haussen et al., 2015].


Fazit für die Praxis

• Ein Bridging beziehungsweise Pausieren der Antikoagulation für minor-dentoalveoläre Chirurgie ist in den meisten Fällen nicht indiziert.

• Auch größere dentoalveoläre Eingriffe können unter lokalen blutstillenden Maßnahmen und gegebenenfalls unter stationärem Setting komplikationsarm durchgeführt werden.

• Eine Veränderung der gerinnungshemmenden Therapie vor zahnärztlich-chirurgischen Eingriffen ist obligat mit dem behandelnden Hausarzt beziehungsweise Internisten abzuklären.


Sollte die Invasivität des Eingriffs, das Risikoprofil des Patienten zu Zweifeln führen, sollte eine Überweisung in eine Fachklinik erfolgen. Im vorliegenden Fall kam es durch das Absetzen zu einer schweren Komplikation, die jedoch durch rechtzeitiges Eingreifen ohne bleibende somatische Folgen für die Patientin blieb. Interessant ist aber, dass es trotz dieser Umstellung zu einer so starken Blutung aus der Alveole kam, dass die Erstbehandler sich in der Pflicht gesehen haben, die Patientin mit Choanalkathetern zu versorgen, so dass auch das Absetzten der Medikation im vorliegenden Fall eine Blutung nicht hat verhindern können.

Dr. Irina Bolm, Prof. Dr. Dr. Christian Walter

Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – plastische Operationen

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Augustusplatz 2, 55131 Mainz

Tina Eyalil

Klinik und Poliklinik für Neurologie

Geb. 503, EG

Langenbeckstr. 1, 55131 Mainz

Dr. Irina Bolm

Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – plastische Operationen
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Augustusplatz 2,
55131 Mainz

Prof. Dr. Dr. Christian Walter

medi+ Zahnärztliche Praxisklinik
Haifa-Allee 20, 55128 Mainz
und
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – plastische Operationen, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Tina Eyalil

Klinik und Poliklinik für Neurologie Geb. 503, EG
Langenbeckstr. 1,
55131 Mainz

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