Der sächsische Weg
2013 fand die letzte Aktualisierung der S2k-Leitlinie „Fluoridierungsmaßnahmen zur Kariesprophylaxe“ statt: Experten der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin e. V., der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Ernährung legten Empfehlungen für die angemessene ärztliche beziehungsweise zahnärztliche Vorgehensweise fest [Hellwig E et al., 2013].
Dabei konnte zum Vorgehen bei Kindern bis fünf Jahren hinsichtlich der Anwendung von fluoridierter Zahnpasta und Fluoridtabletten kein Konsens zwischen Zahnärzten und Pädiatern erzielt werden. Die Leitlinie unterscheidet hier eine pädiatrische und eine zahnärztliche Empfehlung [Hellwig E et al., 2013]. Dieser Dissens verunsichert Eltern, Familien, Hebammen und Mitarbeiter von Kinderbetreuungseinrichtungen: Sie erwarten eine Entscheidungshilfe zwischen den verschiedenen Optionen. Und von wem dürfen sie diese erwarten, wenn nicht von den beteiligten medizinischen Professionen?
Dazu raten Pädiater
In der Leitlinie wurden folgende divergierende Empfehlungen zur Anwendung von fluoridierter Zahnpasta und Fluoridtabletten im Vorschulalter fixiert:
Die Pädiater sprechen sich in der Leitlinie dafür aus, dass die Kinder im älteren Säuglings- und im Kleinkindalter prinzipiell an eine regelmäßige Zahnreinigung mit einer altersgerecht geformten Zahnbürste herangeführt werden sollen. Fluoridhaltige Zahnpasten sind dabei erst ab einem Alter einzusetzen, in dem das Kind Zahnpasta nach dem Zähneputzen regelmäßig vollständig ausspucken kann (in der Regel mit Beginn des fünften Lebensjahres).
Grund für diese Zurückhaltung ist, dass es sich bei Zahnpasta um ein kosmetisches Mittel handelt, das zahlreiche nicht für den Verzehr vorgesehene Inhaltsstoffe enthält und nicht regelmäßig geschluckt werden sollte. Die verfügbaren Empfehlungen zur Fluoridzufuhr weisen aus Sicht der Pädiater auf eine sowohl topische als auch auf eine systemische kariesprophylaktische Wirkung hin, wobei für die langfristige Kariesprävention der topische Effekt von größerer Bedeutung ist [AAP, Pediatrics, 2008]. Daher empfehlen sie die Gabe von Fluoridtabletten nach dem Zahndurchbruch, die möglichst gelutscht werden, um die topische Wirkungskomponente bestmöglich zu nutzen [Hellwig E et al., 2013].
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Das empfehlen Zahnärzte
Aus Sicht der Zahnmediziner steht die lokale Wirkung der Fluoride uneingeschränkt im Vordergrund [Hellwig E et al., 2004]. Bei lokaler Fluoridapplikation bildet sich auf der Zahnoberfläche eine Kalzium-Fluorid-Deckschicht [Robinson C, 2009; RØlla G, 1988]. Diese protrahiert die bakterielle Kolonisation der Zahnoberfläche, beeinträchtigt den Stoffwechsel kariespathogener Mikroorganismen, schützt vor Demineralisationen durch saure Stoffwechselprodukte und fördert die Remineralisation [Hannig C et al., 2013; Hellwig E et al., 2004; Robinson C, 2009; RØlla G, 1988].
Fluoridtabletten sind aus Sicht der Zahnmediziner nur wirksam, sofern sie intensiv gekaut und nicht nach kurzer Zeit geschluckt werden [Hellwig E et al., 2013]. Aus zahnmedizinischer Sicht ist dies insbesondere im Säuglingsalter nicht umsetzbar. Die D-Fluoretten werden von den Eltern den Kindern und Säuglingen häufig in gelöster Form gegeben und sofort abgeschluckt.
Eine präeruptive Wirkung der Fluoride beziehungsweise der Fluoridtabletten konnte wissenschaftlich nicht belegt werden. Aufgrund der lokalen Wirkung der Fluoride ist eine Fluoridgabe vor Zahndurchbruch nicht sinnvoll [Leverett DH et al., 1997; Wang NJ et al., 1999]. Karies ist keine Fluoridmangelerkrankung, über die kariespräventive lokale Wirkung an der Zahnoberfläche hinaus ist für den Organismus keine Fluoridzufuhr notwendig. Unabhängig von der Fluoridapplikation steht aus Sicht der Zahnmediziner die mechanische Biofilm- beziehungsweise Plaqueentfernung im Vordergrund, die durch Fluoride lediglich flankiert wird [Verrips GH et al., 1994].
Das Kennenlernen und Erlernen der Kulturtechnik des Zähneputzens ab dem ersten Zahn ist dabei ein ganz wesentlicher Aspekt. Daher favorisieren die Zahnärzte die Lokalapplikation der Fluoride in Form von fluoridierter Zahncreme zusammen mit der täglichen Zahnpflege ab Durchbruch des ersten Zahnes [Verrips GH et al., 1994].
Zahncreme für Schulkinder und Erwachsene enthält 1.400 ppm Fluorid, die empfohlene Kinderzahncreme 500 ppm Fluorid. Hintergrund dieser niedrigeren Fluoriddosis bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres ist die Gefahr der chronischen Überdosierung von Fluorid [Tavener JA et al., 2006; Wong MC et al., 2010]. Diese kann zur Entstehung von Dentalfluorosen während der Phase der Schmelzbildung führen. Zwischen dem 15. und dem 30. Lebensmonat befinden sich Kleinkinder im höchsten Risikofenster für eine Dentalfluorose an den bleibenden Schneidezähnen und an den ersten Molaren. Daher wird bei Kindern eine reduzierte Dosierung gewählt, ergänzt durch eine reine Vitamin-D-Gabe zur Rachitisprophylaxe.
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Die Bewertung
Diese unterschiedlichen Empfehlungen wurden von allen Beteiligten als unbefriedigend empfunden und bieten für die Familien keine klare Orientierung. Ergebnis ist, dass in vielen Fällen eine Doppelfluoridierung mit Tabletten und Fluoridzahncreme erfolgt, was die Gefahr der Ausbildung einer Dentalfluorose deutlich erhöht. Teilweise wird auch gar keine Fluoridierung durchgeführt [Buske G et al., 2009].
Unter Moderation der Sächsischen Landesärztekammer und der Landeszahnärztekammer Sachsen wurde ein Steuerungskreis zusammengestellt, um die unbefriedigende Situation zu beenden. In nur zwei Sitzungen wurde ein für alle befriedigender Konsens erarbeitet. Beteiligt waren die Universitäten, Berufsverbände, Fachgesellschaften, der Öffentliche Gesundheitsdienst, die Landesarbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege des Freistaates Sachsen e. V. (LAGZ) und der Sächsische Hebammenverband. Nach dem ersten Treffen erfolgte eine sorgfältige Recherche zu ungeklärten, für die Entscheidungsfindung jedoch wichtigen Fragen.
Ein Aspekt war die Unbedenklichkeit der Zahncreme als solche für die Anwendung bei Kleinkindern. Maßgebliche Inhaltsstoffe von marktüblichen Kinderzahnpasten sind Wasser, Sorbitol (Zuckeralkohol), Putzkörper (zum Beispiel hydrated silicea), Bindemittel (zum Beispiel Hydroxyethylzellulose), Titanoxid (weißes Pigment) und Tenside (zum Beispiel Cocamidopropyl Betaine, mildes Netzmittel, Schaumbildner). Zudem sind in sehr geringen Konzentrationen (weniger als 500 ppm) Aromastoffe wie Limonene, Saccharin und HCI enthalten. Sorbitol (Zuckeralkohol) beeinträchtigt den Stoffwechsel kariespathogener Mikroorganismen, größere Mengen wirken laxierend.
Die Konzentration in Zahnpasten ist als unbedenklich einzustufen. Putzkörper wie lösliche Silikate sind inert und ebenfalls in der in Zahnpasten anzutreffenden Konzentration unbedenklich. Gleiches gilt für Ti02 in Suspensionen und Aufschlämmungen sowie Cocamidopropyl-Betain. Aromastoffe und Zuckerersatzstoffe erfordern eine differenzierte Betrachtung, Limonene sind als unbedenklich einzustufen. Nicht näher spezifizierte Aromastoffe können potenziell allergen wirken. Studien zu Allergien auf Zahnpasten bei Kindern sind den Autoren nicht bekannt.
Nach Einschätzung der Fachleute aus klinischer Pharmakologie und Zahnmedizin der TU Dresden sind bei bestimmungsgemäßem und sparsamem Gebrauch Kinderzahnpasten als unbedenklich anzusehen. Produkte mit möglichst wenigen Aromastoffen und ohne Methylparabene sind zu bevorzugen. In Kindergärten und Kitas ist auf den bestimmungsgemäßen Gebrauch der Zahnpasta zu achten. Sehr sinnvoll ist die Portionierung durch eine Erzieherin.
Weiter war zu klären, ob und wie viele Kinder tatsächlich eine orale Prophylaxe mit einem systemischen Fluoridpräparat (mit oder ohne Vitamin D) in den ersten beiden
Lebensjahren erhalten. Exemplarisch konnte dies für die Patienten der AOK PLUS eruiert werden. Fast 55 Prozent der sächsischen GKV-Versicherten sind bei der AOK PLUS versichert, so dass die Zahlen durchaus als repräsentativ angesehen werden können. Berücksichtigt wurde die Anzahl der Versicherten, die mindestens eine Verordnung eines entsprechenden Präparats im Abrechnungszeitraum erhalten hatten. Die Datenauswertung für 2013 zeigte, dass in den ersten beiden Lebensjahren der Anteil der Versicherten mit Verordnung 41 Prozent nicht überstieg.
###more### ###title### Der Konsens ###title### ###more###
Der Konsens
Auf Basis dieser Recherchen konnte ein Konsens erarbeitet werden: Dem Steuerkreis ist es wichtig, dass die Kulturtechnik des Zähneputzens mit Zahncreme ab Durchbruch des ersten Zahnes vermittelt und gelebt wird. Daher ist die Anwendung von Zahncreme (fluoridiert beziehungsweise fluoridfrei) Bestandteil aller Empfehlungen der vorliegenden Publikation. Da bei Kindergartenkindern und oft auch bei Grundschulkindern keine suffiziente Zahnputztechnik vorhanden ist, sollten die Eltern mindestens einmal täglich nachputzen, idealerweise bis zum sicheren Erlernen der Schreibschrift.
Zur Vermeidung der Überdosierung und der damit verbundenen Gefahr der Dentalfluorose und gegebenenfalls sogar einer Knochenfluorose darf keine Mehrfachfluoridierung erfolgen. Eine gleichzeitige Anwendung von Fluoridtabletten und fluoridierter Zahncreme muss unterbleiben. Einigkeit bestand aber auch darüber, dass verschiedene Wege möglich sind.
Zwei mögliche Varianten wurden erarbeitet, die Eltern, Ärzten und Zahnärzten, aber auch Hebammen und anderen Beteiligten eine klare Orientierung bieten.
• Variante A:
Bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahrs erfolgt die Vitamin-D-Prophylaxe mit Tabletten ohne Fluoridzusatz. Ab dem Durchbruch des ersten Zahnes soll dann einmal täglich mit einer reiskorngroßen Menge (Abbildung 3) fluoridierter Kinderzahncreme (Anteil Fluorid 500 ppm) geputzt werden.
• Variante B:
Sie legt die Vitamin-D- Prophylaxe in Kombination mit Fluorid zugrunde. Das einmal tägliche Zähneputzen ab dem Durchbruch des ersten Zahnes erfolgt mit einer reiskorngroßen Menge fluoridfreier Zahncreme.
Beide Varianten werden ergänzt durch die sparsame Verwendung von fluoridiertem Speisesalz bei der Speisezubereitung mit Beginn der festen Kost.
Ab dem zweiten Geburtstag bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres sprechen sich Ärzte und Zahnärzte einheitlich für einen Weg der Fluoridierung aus: zweimal täglich Zähneputzen mit einer „erbsengroßen“ Menge (Abbildung 4) fluoridierter Kinderzahnpasta (Anteil Fluorid 500 ppm) unter Verwendung von fluoridiertem Speisesalz zur Speisezubereitung.
Alle Mitglieder der Arbeitsgruppe weisen hier ausdrücklich darauf hin, dass Speisesalz bei Kindern grundsätzlich sehr sparsam und zurückhaltend zu verwenden ist. Aus karies-präventiver Sicht ist jedoch die Verwendung eines fluoridierten Produkts angezeigt – etwa beim Kochen von Nudeln oder Reis. Im Rahmen einer partizipativen Entscheidungsfindung sollen die Eltern über beide Wege informiert werden. Dies hilft, Verunsicherungen zu vermeiden und die Eigenverantwortung der Eltern zu fördern. Der respektvolle und wertschätzende Umgang miteinander in den beiden Sitzungen hat es erheblich erleichtert, diesen Konsens zu erarbeiten.
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Einen entsprechenden Aufklärungstext für Eltern finden Sie unter www.slaek.de.Die zugrunde liegende Leitlinie steht unter www.awmf.org/leitlinien/ detail/II/083-001.html