Interview mit Dr. Gisela Tascher zur Rolle der Ärzte in der NS-Zeit

"Schmerzlich & unbegreiflich!"

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Die Zahnärztin Dr. Gisela Tascher ist Trägerin des "Herbert-Lewin-Preises zur Rolle der Ärzteschaft in der NS-Zeit" 2015. Sie ist ausgezeichnet worden für die erweiterte und überarbeitete Fassung ihrer Dissertation über das Zusammenspiel von Staat, Macht und ärztlicher Berufsausübung am Beispiel des Saarlands. Wir sprachen mit ihr über die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit.

zm: Frau Dr. Tascher, Sie haben über das Zusammenspiel von Staat, Macht und ärztlicher Berufsausübung am Beispiel des Saarlands geforscht. Was haben Sie herausgefunden?

Dr. Gisela Tascher:

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die ärztliche Berufsausübung zunehmend davon bestimmt, welche Rolle der Staat den Ärzten in der Sozialgesetzgebung und den daraus resultierenden Strukturen zugestehen wollte – und welche Freiheiten er ihnen bei der Organisation ihrer standespolitischen Vertretungen gewährte. Die Gesetzgebung wiederum war von den politischen und ideologischen Zielen der jeweilig regierenden Parteien im Staat abhängig.

In der Zeit des Saargebiets – von 1920 bis 1935 – wurde dieser Aspekt zusätzlich von der besonderen Staatsform des Saarstatuts von 1920 und von den Auseinandersetzungen vor und während der Volksabstimmung über die Rückgliederung des Saargebiets ins Deutsche Reich im Jahr 1935 beeinflusst. Während der NS-Diktatur wurde dieser Prozess ganz entscheidend von den rassen- und bevölkerungspolitischen Zielen und Inhalten der NSDAP-Politik und deren neuer Definition des nationalsozialistischen „Sozialismus“ bestimmt.

Was genau ist damals passiert?

Bindeglied des nationalsozialistisch geprägten Sozialstaats sollte die völkisch und rassisch ausgerichtete Solidarität aller „Volksgenossen“ sein. In diese „Gemeinschaft“ wurden die Ärzte ab 1933 autoritär durch „Ermächtigungsgesetze“ eingebunden. Mithilfe von NS-Funktionären (auch aus der Ärzteschaft) in der neu geschaffenen NS-Gesundheitsbürokratie und des staatlichen Gesundheitswesens sowie in den ebenfalls neu geschaffenen ärztlichen Standesorganisationen wurden Strukturen installiert, die das Funktionieren dieser totalitären Einbindung gewährleisteten. Die ärztliche Berufsausübung und die wissenschaftliche Medizin wurden nach den Zielen des NS-Staates ausgerichtet.

Hinzu kam der Machtzuwachs der Ärzte in Staat und Gesellschaft. Sie erhielten eine Schlüsselposition bei der Durchsetzung der rassen- und bevölkerungspolitischen Ziele der Politik der NSDAP. Sie konnten über den „Wert“ des Lebens ihrer Patienten entscheiden.

Also gehörten die Ärzte zu den Säulen des Systems ...

In der Tat! Im Mittelpunkt der ärztlichen Berufsausübung stand nicht mehr das Individuum, sondern der „Volkskörper“. Die meisten Ärzte hatten mit ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP oder in einem der NSDAP angeschlossenen Verbände die NS-Diktatur mitgetragen und dabei zugelassen, dass die ärztliche Ethik im Interesse einer Ideologie umgedeutet wurde. Am Ende dieser Entwicklung kam es zu Medizinverbrechen, denen viele Menschen – auch im Saarland – zum Opfer gefallen sind.

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Die Rolle des Saarlandes

Wie ging es nach 1945 weiter, und welche besondere Rolle spielte das Saarland?

Nach 1945 bestanden einige der vorher beschriebenen Strukturen im Gesundheits- und Sozialwesen vom Grundsatz her weiter. Die Rolle der Ärzte wurde im Saarland ab 1947 zusätzlich noch von der besonderen Staatsform – der von Frankreich abhängigen „Autonomie“ – und von den Auseinandersetzungen während der Volksabstimmung zum „Europäischen Saarstatut“ im Jahr 1955 beeinflusst. Dabei stand das Saarland – wie vorher das Saargebiet – im Spannungsfeld der europäischen Politik.

In der Anfangszeit des „autonomen“ Saarlands versuchten viele unbelastete Ärzte, die Strukturen und die ärztliche Berufsausübung zu reformieren. Dies wurde ihnen aber von der Regierung des Saarlands und von der französischen Militärregierung im Interesse der sogenannten „sozialen Sicherheit“ nicht zugestanden. Vor allem aus machtpolitischen Erwägungen wurden die ehemaligen Strukturen der ärztlichen Standesorganisationen sowie die gesetzlichen Bestimmungen teilweise erhalten. Funktions- und Funktionärseliten des NS-Staates erhielten nach einer kurzen Entnazifizierungsphase wieder wichtige Funktionen in diesen Strukturen – vor allem, um die ärztlichen Körperschaften als Machtinstrument des Staates im Gesundheits- und Sozialsystem zu erhalten.

Diesen ehemaligen NS-Funktionsträgern gelang es, im Saarland nicht nur die Demokratisierung der ärztlichen Berufsausübung zu verhindern, sondern auch, das „Europäische Saarstatut“ zum Scheitern zu bringen. So konnte es geschehen, dass im Saarland die Ärzte und Patienten, die der NS-Diktatur kritisch gegenüberstanden oder deren Opfer waren, ein zweites Mal benachteiligt wurden.

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Die Rolle der ärztlichen Standesvertretungen

Wenn man über den saarländischen Fokus hinausschaut: Welche Rolle spielten die ärztlichen Standesvertretungen und ihre führenden Köpfe in der NS-Zeit generell?

Die vor 1933 führenden und als Verbände organisierten ärztlichen Standesorganisationen – also der „Hartmannbund“ und der „Deutsche Ärztevereinsbund“ – ließen sich schon im März 1933 ohne größere Gegenwehr gleichschalten. Sie wurden mit politisch loyalen Führern besetzt und danach zu öffentlich-rechtlichen Kontroll-, Überwachungs- und Disziplinierungsstrukturen umgestaltet. Dazu gehörten die Einrichtung von Zwangsmitgliedschaften, Hoheitsfunktionen und ideologisch konformen Pflichtfortbildungen, die Standesgerichtsbarkeit, ein Honorarverteilungsmonopol und die Abschaffung des Streikrechts. Die Gründung der örtlichen Kassenärztlichen Vereinigungen im Jahr 1931 stellte den Beginn dieser Entwicklung dar.

Die Zwangsmitgliedschaft in den KZVen diente vor allem dazu, alle Ärzte statistisch zu erfassen, zentral zu überwachen und in die planwirtschaftlichen Aufgaben und Ziele der NS-Gesundheits- und Sozialpolitik einzubinden. Hierdurch wurde die gesetzliche Grundlage geschaffen, sogenannte „nichtarische“ und regimekritische Ärzte an ihrer Berufsausübung zu hindern. Dabei wurden nicht nur kassenärztliche, sondern auch privatärztliche Tätigkeiten überwacht. Eine individuelle Honorierung ärztlicher Leistungen wurde als „jüdische Bereicherung“ diffamiert, die nicht im Interesse des neuen Sozialstaats der NSDAP war. Gleichzeitig wurde die Bindung der Versicherten an die ebenfalls gleichgeschaltete und zur Körperschaft des öffentlichen Rechts umgestaltete gesetzliche Krankenversicherung erheblich ausgeweitet.

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Die Gleichschaltung

Also Gleichschaltung auf allen Ebenen?

Genau. Dazu gehört die Gründung der „Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands“ am 2.8.1933 als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Sie schaltete die bereits 1931 im „Hartmannbund“ gegründeten Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder gleich und gliederte sie ein. Weiterhin gehört dazu die Ausarbeitung einer NS-konformen ärztlichen Berufsordnung, die am 13.12.1935 mit der Verabschiedung der „Reichsärzteordnung“ und der Schaffung der von den Ärzten lange geforderten „Reichsärztekammer“ als Körperschaft des öffentlichen Rechts abgeschlossen wurde. Damit war die gesamte Ärzteschaft in die Gesundheits- und Sozialpolitik des NS-Staates totalitär eingebunden.

Das Themenfeld Medizin und Nationalsozialismus ist ein sehr bewegendes und oft auch belastendes. Was bedeutet es für Sie persönlich – als Zahnärztin und als Wissenschaftlerin?

Ich habe anhand der Aufarbeitung der Karrieren einer großen Anzahl von Persönlichkeiten gezeigt, wie die ärztliche Berufsausübung – und damit das Arzt-Patienten-Verhältnis – missbräuchlich für machtpolitische Zwecke des Staates oder einer Partei instrumentalisiert werden kann. Ich habe mich auch mit Täterschaft und Tat und mit ärztlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschäftigt. Das war sehr schmerzlich und unbegreiflich.

Unbegreiflich war auch, dass sich nach 1945 die Täter oft unbehelligt als „Mitläufer“ und Opfer inszenieren konnten und viele Opfer von Medizinverbrechen kein Recht und keine Wiedergutmachung bekommen haben. Für mich als Zahnärztin hat die historische Forschungsarbeit das Bewusstsein ethischer Grenzen im ärztlichen und interkollegialen Handeln geschärft und gezeigt, wie wichtig es ist, dass das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis unangetastet und ethisch auf den einzelnen Patienten ausgerichtet bleibt.

Die Fragen stellte Gabriele Prchala.

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