Nicht-restaurative Karieskontrolle
Traditionell wurde in der Zahnmedizin die vollständige Entfernung kariöser Zahnhartsubstanz mit anschließender restaurativer Versorgung als Standardtherapie für kariöse Zähne als „chirugische-technische“ Maßnahme durchgeführt. Das aktuelle, biologische Verständnis von Kariesentstehung und -entwicklung ermöglicht es, Kariesläsionen durch die Störung des Biofilms sowie durch Beeinflussung der De- und Remineralisationsprozesse zu arretieren [Kidd Fejerskov, 2013; Kidd, 2012]. Karies wird als chronischer Prozess begriffen und neben der etablierten Füllungstherapie können alternative, evidenzbasierte Kariesmanagementmethoden wie etwa die Nicht-restaurative Karieskontrolle als Therapieoption ohne Kariesexkavation praktiziert werden [Hansen Nyvad, 2017; Santamaria et al., 2014, 2015].
Dieses Konzept wurde zunächst in praxisbasierten [Peretz Gluck, 2006; Gruythuysen et al., 2010] und darauf in systematischen, wissenschaftlich-klinischen Studien untersucht [Mijan et al., 2014; Santamaria et al., 2014]. Dabei wurden kariöse Läsionen bei Kindern oberflächlich geöffnet (Abb. 1), um dort eine manuelle Plaqueentfernung durch das Zähneputzen zu ermöglichen (Abb. 2). Außerdem wurden die geöffneten Milchzahnläsionen mit fluoridhaltigen Produkten touchiert, um die Remineralisation zu fördern. Ferner erhielten die Eltern exakte Mundhygiene- und Ernährungsinstruktionen sowie eine effektive Motivation zur Therapierealisierung.
Bei dieser Therapie wird im Gegensatz zu den Standardfüllungen das Kariesmanagement bewusst auf die Patientenebene verlagert, da der chronische Kariesprozess nur durch die manuelle Störung des Biofilms (Putzen) gestoppt werden kann und somit eine Arretierung der Dentinläsion erfolgt. In diesem Fall ist keine restaurative Therapie zwingend notwendig, kann aus ästhetischen oder funktionellen Gründen aber sekundär erfolgen. Voraussetzung ist eine maximal reversible Pulpitis, bei der dann die Pulpotomie vermieden werden kann.
Der Patientenfall: Ein Fünfähriger stellte sich mit seiner Mutter in der Abteilung für Präventive Zahnmedizin Kinderzahnheilkunde des Zentrums für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (ZZMK) der Universitätsmedizin Greifswald vor. Das Kind wurde vom Hauszahnarzt aufgrund von Nichtkooperation bei der Füllungstherapie überwiesen. Laut Aussage der Mutter war das Kind bereits zuvor bei zwei anderen Zahnärzten, ohne dass angesichts der geringen Kooperation eine Therapie möglich gewesen wäre. Spontane oder Dauerschmerzen seien am Zahn bislang nicht aufgetreten.
Die Mutter erhoffte sich nun vom Zahnarztbesuch, dass ihr Kind positive Erfahrungen bezüglich der zahnärztlichen Behandlungen macht sowie eine bessere Motivation zum Zähneputzen erhält. Außerdem lehnte sie andere Therapieoptionen wie die Hall-Technik (Behandlung des Zahnes mittels einer vorgefertigten Krone ohne Kariesentfernung) oder die Anwendung von Lachgas für die zahnärztliche Behandlung ab.
Bei der im Rahmen des ersten Termins vorgenommenen Untersuchung lag das Kind auf dem Schoß seiner Mutter. Spielerisch wurde das Kind auf die Prophylaxe und die Untersuchung vorbereitet, wobei die Kooperation des Kindes nach der „4-Punkte-Frankl-Skala“ als „definitiv negativ“ klassifiziert wurde (Ablehnung der Behandlung, sehr starkes Weinen, Angst et cetera).
Bei weiterer Symptomfreiheit und der Einwilligung zu einem zweiten Termin wurde angeboten, die kariösen Zähne mittels der NRCC zu therapieren.
Klinischer Befund
Die klinische Untersuchung des Mundraums zeigte eine gesunde Mundschleimhaut und Zunge und ein vollständiges Milchgebiss. Die klinische Untersuchung ergab:
caries media (ICDAS 5) an Zahn 55 (okklusale und mesiale Fläche)
an Zahn 54 eine insuffiziente Füllung (okklusale und distale Fläche)
weitere nicht kavitierte Läsionen an den Frontzähnen und an den Okklusalflächen der Molaren 55, 65, 64, 74, 75, 85 (ICDAS 2), die als aktiv klassifiziert wurden.
Alle Approximalflächen wurden mittels der faseroptischen Translumination (FOTI) untersucht. Dabei zeigte sich kein Schatten als Hinweis auf weitere approximale Dentinläsionen der anderen Zähne.
Aufgrund der fehlenden Zustimmung der Mutter wurde keine Röntgenaufnahme angefertigt. Klinisch ergaben sich weder eine Fistel noch eine pathologische Mobilität als Anzeichen für eine pathologische, periapikale Beteiligung.
Kariesrisikobewertung
In Bezug auf die Ernährungsgewohnheiten berichtete die Mutter von einem hohen und regelmäßigen Konsum gesüßter Getränke, insbesondere selbst gemachter Apfelsaft bis zu viermal täglich. Zum Kochen verwendete die Familie fluoridiertes Speisesalz. Das Kind putze seine Zähne in der Regel zweimal täglich mit fluoridhaltiger Kinderzahnpasta (500 ppm), wobei dies nur unregelmäßig von den Eltern kontrolliert werde.
Der Approximalraum-Plaque-Index ( 50 Prozent) zeigte, dass die Mundhygiene verbesserungsbedürftig war. Papillenblutungen beziehungseise eine Gingivitis wurden jedoch nicht festgestellt. Nach Auswertung der relevanten Parameter liegt für den Patienten eine hohe Kariesaktivität vor.
Diagnose und Therapie
Bei diesem sehr ängstlichen Patienten mit Caries media (ICDAS 5) bei 54 (distal) und 55 (mesial) fand sich kein klinischer Anhalt für eine Pulpabeteiligung. Die Mutter wirkte motiviert, verhielt sich eher kooperativ und wünschte nach Möglichkeit keine invasive Kariestherapie für ihr Kind.
Ziele | |
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– Inaktivierung der vorhandenen Kariesläsionen oder Verlangsamung der Kariesprogression | |
– Begrenzung des Zahnhartsubstanzverlusts | |
– Vermeidung des Eintritts in den Restaurationszyklus | |
– Vermeidung neuer kariöser Läsionen | |
Indikationen | Kontraindikationen |
– initialkariöse Läsionen bis caries media | – caries profunda mit dem Risiko pulpaler Komplikationen |
– Zähne ohne Anhalt auf pulpale Beteiligung | – irreversible Pulpitis |
– hohe Kariesaktivität | – Spontanschmerz. andauernder Schmerz |
– mäßige Kooperation des Patienten (Patientenalter. negatives Verhalten) | – Pulpanekrose |
– Fistel. Abszess | |
– apikale Aufhellung | |
Quelle: Santamaría |
Die NRCC kann bei unauffälliger Schmerzanamnese – wie im vorliegenden Fall – in Betracht gezogen werden. Dabei wird keine Lokalanästhesie und auch keine Kariesentfernung durchgeführt, sondern lediglich eine minimale Entfernung des überhängenden Zahnschmelzes mittels rotierender Instrumente. Dadurch wurden die kariösen Läsionen an den Zähnen 54 und 55 geöffnet, um eine tägliche Reinigung (Biofilmstörung) mit gleichzeitiger Lokalfluoridierung durch Zahnpaste (1000+ ppm) zu ermöglichen.
Exakte Mundhygieneinstruktionen und Trainingsanweisungen für alle Zähne und speziell für die geöffneten kariösen Läsionen, die ein zusätzliches Querputzen erforderlich machen, wurden vorgenommen. Weiterhin wurden ein tägliches Nachputzen seitens der Eltern und eine erhöhte Fluoridnutzung (zweimal täglich Juniorzahnpasta, 1000+ ppm Fluorid [Walsh et al., 2010]) zur häuslichen non-invasiven Kariestherapie empfohlen.
Regelmäßige, vierteljährliche Kontrolltermine wurden geplant und auch wahrgenommen – was essenziell ist, um die Motivation zu festigen, die Läsionsaktivität zu überwachen (Abb. 3) und gegebenenfalls korrigierende Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen.
Diskussion
In Deutschland und vielen anderen Ländern haben Kinder im Milchgebiss noch einen signifikanten Bedarf an einer Optimierung der Mundgesundheit [Pieper, 2010]. So wiesen Sechs- bis Siebenjährige in Deutschland eine Karieserfahrung von 46 Prozent auf und interessanterweise war circa die Hälfte der kariösen Milchzähne (47 Prozent) nicht behandelt.
Zahnbehandlungsangst beziehungsweise Nichtkooperation stellen häufige Probleme in der Zahnmedizin dar, vor allem in der Kinderzahnheilkunde. Dies bedingt, dass viele ängstliche Kinder nicht oder nur unter Narkose therapiert werden können. Die NRCC erweist sich daher als eine alternative Option zur klassischen Füllungstherapie, bei der auch bestehende kariöse Dentinläsionen – insbesondere bei Kindern mit mäßiger Kooperation – inaktiviert werden können. Im Rahmen einer randomisierten klinischen Studie [Santamaría et al., 2016] wurde die klinische Effektivität der NRCC im Vergleich zu konventionellen Füllungen und zur Hall-Technik bei hohem Kariesrisiko bei Drei- bis Achtjährigen analysiert. Nach zwei Jahren wies die Hall-Technik die besten Ergebnisse mit einer Erfolgsrate von 93 Prozent auf, jedoch gab es interessanterweise keine signifikanten Unterschiede zwischen den Erfolgsraten der NRCC (72 Prozent) und den konventionellen Füllungen (67 Prozent). In einer weiteren Studie [Mijan et al., 2014] wurden ebenfalls keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Überlebensraten zwischen der NRCC und konventionellen Füllungen (p = 0,13) festgestellt.
Konventionelle Füllungen beziehungsweise Stahlkronen stellen bisher die Standardtherapie für kariöse Milchzähne dar. Doch aufgrund der komplexen und anfälligen Applikationstechnik der ästhetisch ansprechenden Kunststoffmaterialien sowie der hohen erforderlichen Kooperationsbereitschaft des Kindes sollten gerade bei weniger kooperativen Kindern andere, non- beziehungsweise minimalinvasive Optionen abgewogen werden [Santamaría et al., 2015; Kidd, 2012]. Dadurch können häufig Narkosen vermieden werden.
Bei der NRCC besteht die Priorität darin, eine gute Kooperation seitens der Eltern zu erreichen, da ihre Mitwirkung beim täglichen Nachputzen mit Fluoridzahnpasta für die Arretierung der Kariesläsionen essenziell ist. Zudem sollten eine zahnärztliche Intensivbetreuung und eine konsequente, initial mindestens vierteljährliche Intensivprophylaxe in der Zahnarztpraxis erfolgen, um die Inaktivierung der vorhandenen kariösen Läsionen durch eine generell verbesserte Mundhygiene zu prüfen und zu unterstützen.
Fazit
Bei der NRCC handelt es sich um eine wenig invasive Therapieoption zur Behandlung kariöser Milchmolaren ohne Pulpabeteiligung, die ähnliche Erfolgsraten wie die konventionelle Füllung aufweist. Der Erfolg der NRCC ist in hohem Maße von der Mitarbeit der Eltern als Verantwortliche für die tägliche Plaqueentfernung durch Putzen der betroffenen kariösen Zähne mit fluoridhaltiger Zahnpasta abhängig. Die NRCC scheint von Kindern gut akzeptiert zu werden und erweist sich daher vor allem auch bei mäßig kooperativen Kindern als eine sehr hilfreiche Therapieoption.
OÄ Dr. Ruth Santamaría, MSc, PhD,
Dr. Julian Schmoeckel,
Prof. Dr. Christian Splieth
Abt. für Präventive Zahnmedizin Kinderzahnheilkunde,
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (ZZMK)
Universitätsmedizin Greifswald
Rotgerberstr. 8, 17487 Greifswald
Literaturliste
Gruythuysen R: Non-restorative cavity treatment: managing rather than masking caries activity. Ned Tijdschr Tandheelkd. 2010;117:173–180.
Hansen NV Nyvad B. Non-Operative Control of Cavitated Approximal Caries Lesions in Primary Molars: A Prospective Evaluation of Cases. J Oral Rehabil. 2017. doi: 10.1111/joor.12508. [Epub ahead of print]
Kidd E, Fejerskov O. Changing concepts in cariology: forty years on. Dent Update. 2013;40:277-8, 280-2, 285-6.
Kidd E. Should deciduous teeth be restored? Reflections of a cariologist. Dent Update. 2012;39:159-62, 165-6.
Mijan M, de Amorim RG, Leal SC, Mulder J, Oliveira L, Creugers NH, Frencken JE: The 3.5-year survival rates of primary molars treated according to three treatment protocols: a controlled clinical trial. Clin Oral Investig. 2014;18:1061-9.
Peretz B, Gluck G. Early childhood caries (ECC): a preventive-conservative treatment mode during a 12-month period. J Clin Pediatr Dent. 2006;30:191-4.
Pieper K. Epidemiologische Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe 2009. Bonn, Druckerei Gerhards GmbH, 2010.
Santamaria RM, Innes NP, Machiulskiene V, Evans DJ, Alkilzy M, Splieth CH: Acceptability of different caries management methods for primary molars in a RCT. Int J Paediatr Dent. 2015; 25:9-17.
Santamaria RM, Innes NP, Machiulskiene V, Evans DJ, Splieth CH. Caries management strategies for primary molars: 1-yr randomized control trial results.J Dent Res. 2014;93:1062- 9.
Walsh T, Worthington HV, Glenny AM, Appelbe P, Marinho VC, Shi X. Fluoride toothpastes of different concentrations for preventing dental caries in children and adolescents. Cochrane Database Syst Rev. 2010;20:CD007868.