Klinische Studien sind nicht das einzig Seligmachende
IQWiG-Argument 1: „Verblindung in der Zahnmedizin ist bedingt möglich!“
Position von Dr. Martina Lietz:In zahnmedizinischen Studien findet man häufig die Bemerkung, dass es sich um eine einfach oder doppelt verblindete Studie handelt. Wichtig ist dabei, wer genau verblindet wurde. Das wird aber in den Publikationen häufig nicht genannt. Der Endpunkterheber kann in der Regel gut verblindet werden. Doch beispielsweise bei der Fluoridapplikation können auch Behandler und Patient verblindet werden, etwa wenn ein Placebo-Fluoridgel angebracht wird, das gleich aussieht und ähnlich schmeckt. Bei nicht-medikamentösen Interventionen wird es schwierig, den Patienten zu verblinden. Denkbar ist eine Scheinbehandlung, etwa eine Scheinlasertherapie in einer Studie „Geschlossene mechanische Therapie versus geschlossene mechanische Therapie plus Laser“. Bei chirurgischen Therapien mit Lokalanästhesie ist eine Verblindung in vielen Fällen schlicht nicht möglich. Eine fehlende Verblindung führt in der Nutzenbewertung nicht zum Ausschluss, aber es kann zu Kointerventionen kommen. Deshalb besteht ein hohes Risiko für einen Kointerventionsbias. Eine fehlende Verblindung führt bei vielen Endpunkten zu einem hohen Verzerrungspotenzial. Auf Verblindung kann verzichtet werden, wenn die Endpunkte zweifelsfrei erhoben werden können.
Position von Dr. Rainer Jordan:Verblindung könnte außerhalb der strengen Vorgaben bei Arzneimittelstudien in den RCTs durchaus kreativer berücksichtigt werden, als es heute in zahnmedizinischen Studien praktiziert wird.
IQWiG-Argument 2: „Zahnflächen dienen als Auswertungseinheit, nicht der Mensch.“
Position von Dr. Martina Lietz: Häufig werden Zähne, Zahnflächen oder Sites als Auswertungseinheiten genutzt, nicht aber der Patient. Die Auswertung geschieht dann häufig nach konventionellen statistischen Verfahren. Das ist irreführend. Die Stichprobengröße wird so sehr aufgebläht. 168 Messwerte von einem Patienten werden betrachtet wie ein Messwert von 168 Patienten. Zudem werden Variabilität und Effektvarianz unterschätzt. Das kann letztlich zu falsch signifikanten Ergebnissen führen. Besser geeignet wäre nur eine Beobachtung pro Randomisierungseinheit und die Bildung von Mittelwerten. Komplexere statistische Methoden wie GEE oder Multilevel Modeling berücksichtigen intraindividuelle Mehrfachbeobachtungen.
Position von Dr. Rainer Jordan:In der Tat ist es oft so, dass Studien die Abhängigkeit der Daten in der Auswertung nicht berücksichtigen. Es sollte aber machbar sein, hier einen geeigneten Weg hinsichtlich der Methodik zu finden. Man müsste sich von der Vermischung von Prävention und Therapie lösen und dürfte den Zahn nur therapeutisch betrachten.
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IQWiG-Argument 3: „Split-Mouth-Studien bringen auch Probleme!“
Position von Dr. Martina Lietz:Trotz der Vorteile von Split-Mouth-Studien (etwa der Halbierung der Stichprobengröße) bergen sie das Risiko, dass Patienten theoretisch für die zweite Intervention nicht mehr zur Verfügung stehen, besonders wenn eine größere Zeitspanne zwischen den Interventionen liegt. Eine Diffusion von Mischspeichel in andere Quadranten ist ein weiteres Risiko.
Position von Dr. Rainer Jordan:Das methodische Berichtswesen in zahnmedizinischen Studien hat noch Potenzial zur Verbesserung. Das sollte jetzt angegangen werden. Ins Team gehören auch Methodiker, Statistiker, Medizinsoziologen und Gesundheitspsychologen – immer abhängig von der Fragestellung.
IQWiG-Argument 4: „Klinische Relevanz lässt sich nicht am p-Wert ablesen!“
Position von Dr. Martina Lietz:Klinische Relevanz lässt sich nicht am p-Wert ablesen. Möglich ist die Bewertung der Relevanz auf Basis von Responderanalysen und Mittelwertdifferenzen. Nicht die Punktschätzung, sondern das dazu gehörige Konfidenzintervall sollte oberhalb dieser Irrelevanzschwelle liegen. Retrospektive Kohortenstudien sind im Übrigen nicht voll umfänglich vertrauenswürdig, weil ein Risiko für einen Selektionsbias besteht.
Position von Dr. Rainer Jordan:Es fehlt aktuell der Konsens, wann ein therapeutischer Unterschied klinisch relevant ist. Die Translation der statistischen Signifikanz in die klinische Relevanz ist noch nicht geklärt, aber höchst relevant. Die Frage ist, ob die Maßzahlen, die das IQWIG anlegt, überhaupt angemessen sind, wenn der weltweite Konsens für das methodische Berichtswesen von klinisch konsensorientierten Studien so etwas gar nicht vorsieht.
Evidenzbasierte Grundlagen seitens des IQWiG beispielsweise bei den Irrelevanzschwellen sind nicht erkennbar. Außerdem stellt sich die Frage, ob die alleinige Fokussierung auf klinisch kontrollierte Studien das allein Seligmachende ist. Letztere haben eine hohe interne, aber eine geringe externe Validität.
Und aus Studien mit hoch selektierten Patientengruppen kann man letztlich nur bedingt Aussagen für die individuelle Therapie von Patienten unter Alltagsbedingungen treffen.
Die Diskussion fand auf der 18. Jahrestagung des „Deutschen Netzwerks EvidenzbasierteMedizin“ vom 9. bis zum 11. März in Hamburg statt. Ziel des Symposiums „EbM und Zahnmedizin: Eine kritische Bewertung am Beispiel der lokalen Fluoridapplikation im Milchgebiss“ war es, an einem aktuellen Beispiel – Fluoridapplikation im Milchgebiss – darzulegen, wie die vorhandene Evidenz aus Sicht der Zahnmedizin interpretiert wird, aber auch wie Methodiker diese Evidenz bewerten.Moderiert wurde das Symposium von PD Dr. Falk Schwendicke, stellvertretender Abteilungsleiter der Abteilung für Zahnerhaltung und Präventivzahnmedizin an der Charité. Prof. Andreas Schulte skizzierte die Studienlage zurFluoridapplikation bei der Kariestherapie im Milchgebiss. Schulte ist erster Lehrstuhlinhaber für Behindertenorientierte Zahnmedizin an der Universität Witten/Herdecke.