Zu viel Prävention in der Kita: Gruppenprophylaxe ade?
Im Juni 2015 wurde das Präventionsgesetz verabschiedet. Die Bundesrahmenempfehlungen der neuen „Nationalen Präventionskonferenz“ [Anm. d. Red.: eine Arbeitsgemeinschaft der gesetzlichen Spitzenorganisationen von Kranken-, Unfall-, Renten- und Pflegeversicherung] wurden beschlossen. Orientiert an den Lebensphasen wurden drei gemeinsame Oberziele definiert:
gesund aufwachsen
gesund leben und arbeiten
gesund im Alter
In 14 von 16 Bundesländern wurden Landesrahmenvereinbarungen zwischen den Bundesländern, der gesetzlichen Kranken- und Pflege- sowie der Unfall- und Rentenversicherungen und den Vertretern der Bundesagentur für Arbeit unterzeichnet. In den meisten Bundesländern sind die kommunalen Spitzenverbände den Vereinbarungen beigetreten. Erklärtes Ziel ist es, die existierenden Gesundheitsaktivitäten im Land zu bündeln und die Gesundheitsförderung in allen Lebenswelten weiterzuentwickeln.
Statement BZÄK
„Kassen dürfen nicht wildern!“
Dr. Sebastian Ziller, MPH Leiter Abteilung Prävention und Gesundheitsförderung bei der Bundeszahnärztekammer | © zm-dg
Der Gesetzgeber hat jüngst die Maßnahmen nach § 20a (Prävention in Lebenswelten) und § 21 SGB V (Gruppenprophylaxe, GP) gleichberechtigt als GKV-Aufgaben in den Settings Kita und Schule nebeneinandergestellt.Mit ihrer aktuellen Verpflichtung zur Mittelausgabe in den Lebenswelten werden natürlich ungleiche Motivationsanreize für die Krankenkassen gesetzt. Doch weder eine Doppelfinanzierung von Aufgaben in der etablierten GP noch Störeffekte durch neue Konkurrenzangebote der GKV können im Sinne des Gesetzgebers sein. Dennoch gibt es Kassen, die genau dies tun und im sozialgesetzgeberischen Hoheitsbereich des § 21 SGB V „wildern“, indem sie Unterrichtsmodule zur Mundgesundheit anbieten, die nicht in Abstimmung mit den Strukturen der GP erfolgen und nicht deren Qualitätsanforderungen entsprechen. Sie nehmen aber auf diese Strukturen Bezug und suggerieren, dass auf die GP verzichtet werden oder zwischen beiden Varianten (Angebot nach § 20a oder GP nach § 21 SGB V) gewählt werden könne. Diesen negativen Entwicklungen muss durch ein klares Bekenntnis von Politik und GKV zur Beibehaltung der erfolgreich etablierten, flächendeckenden GP und durch ein abgestimmtes Agieren der Kassen entgegengewirkt werden.
Die Settings Kita und Schule sind nur in begrenztem Umfang zu einer Kooperation mit externen Anbietern in der Lage. Deshalb ist die Vorgabe des Gesetzgebers zu vernetztem Handeln im Setting vor allem auf der kommunalen Ebene so wichtig. Dieser Auftrag zur Vernetzung muss jedoch die seit Langem etablierten Strukturen der GP als gleichberechtigten Partner einbeziehen, um nicht eine Konkurrenz der Präventionsthemen in die Lebenswelten zu tragen. Im Rahmen der Kooperationsabschlüsse zu Programmen in den Lebenswelten gemäß der Landesrahmenvereinbarungen sind die Landesarbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege durch die GKV mit einzubeziehen! Dies gilt auch für den Ausbau der Strukturen zur Vernetzung auf Landes- und kommunaler Ebene („Regionale Knoten“) im Rahmen des „Kooperationsverbunds Gesundheitliche Chancengleichheit“: Die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den Arbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege muss strukturell ebenso mit angelegt werden. Wichtig ist schließlich auch, dass am Ende alle Maßnahmen des Monitorings der Umsetzung des § 20/20a SGB V in den Lebenswelten Kita und Schule wie auch die Wechselwirkungen mit den Maßnahmen nach § 21 dokumentiert werden.
Dr. Sebastian Ziller
MPHLeiter Abteilung Prävention und Gesundheitsförderung bei der Bundeszahnärztekammer
Allerdings ist die Zahl der Vertragspartner auf die genannten Unterzeichnenden begrenzt – weder Landessportbünde noch Landesarbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege sind beteiligt. Nur in Bayern und Berlin existieren bislang keine unterschriebenen Vereinbarungen. Aber auch das ist nur eine Frage von Wochen.
Sinn der schnellen Umsetzung der Gesetzesvorgaben und des Erhalts des breiten Rahmens als Handlungsfeld für jede einzelne Kasse ist die Erfüllung der Ausgabenvorgaben des Gesetzes: 1,55 Euro für nichtbetriebliche Lebenswelten sollen pro Versicherten verausgabt werden und 45 Cent für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung für ein ebenfalls bereits definiertes Auftragsvolumen zur Unterstützung dieser Settingaktivitäten. Das Geld fließt tatsächlich: Bereits zur Halbjahresbilanz am 5. September 2016 meldete das Bundesgesundheitsministerium vollen Erfolg. Bei den Ausgaben für Präventionsleistungen verzeichneten die Krankenkassen im 1. Halbjahr 2016 gegenüber dem 1. Halbjahr 2015 einen Zuwachs von rund 157 auf rund 224 Millionen Euro (rund 42 Prozent). Die Ausgaben für Leistungen für die Prävention in nichtbetrieblichen Lebenswelten sind exponentiell um 194 Prozent gestiegen, von 19 auf 55 Millionen Euro.
Mehr Geld im System = mehr Gesundheit im Land?
Angesichts dieser Meldungen stellt sich die Frage, ob mehr Geld zu mehr Gesundheit in den Lebenswelten führt. Da die gesetzlichen Krankenkassen im Wettbewerb miteinander stehen, sind konkurrierende Parallelaktivitäten quasi systemimmanent. Junge Familien sind als die zentrale Zielgruppe des Kassenwettbewerbs identifiziert worden. In jedem Bundesland konkurrieren deshalb 50 bis 70 Kassen miteinander in den zentralen Settings, über die diese Zielgruppe am besten erreicht werden kann: Kindertagesstätten und Schulen. Schon der Präventionsbericht der GKV für das Jahr 2015, in dem nur 38 Millionen ausgegeben wurden, zeigt sehr deutlich, wohin die Reise geht. Insgesamt wurden demnach 24.420 Lebenswelten erreicht.
Statement Öffentlicher Gesundheitsdienst
„Niemand kennt die Strukturen so gut wie wir!“
Die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe ist mit ihren Prozessen und in ihren Strukturen in ihren landesspezifischen Ausprägungen gleichermaßen effektiv und effizient. Dies deswegen, weil sie auf die in der Präventionsarbeit und der Gesundheitsförderung fest verankerten Elemente des Settingansatzes, der Interaktion mit den Zielgruppen, Multiplikatoreneffekte in Verbindung mit Kontinuität und Nachhaltigkeit setzt. Die Zielgruppen werden direkt in ihrem Alltag erreicht. Vielfach konnte gezeigt werden, dass der gruppenbezogene Ansatz im Setting Kindergarten und im Setting Schule unter Einbezug der individualmedizinischen Betreuung erfolgreich ist und im Sinne der Kinder und Jugendlichen wirkt. An dieser Schnittstelle erfüllen die Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes eine wichtige Rolle. Sie bringen die Botschaften der zahnmedizinischen Prävention in die Lebenswelten. Durch die regelmäßige (Gesundheits-)Berichterstattung werden Bedarfe erkannt und Handlungsmaximen formuliert. Damit wirken die Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes steuernd, koordinierend und verantwortlich in vielen regionalen Arbeitsgemeinschaften mit.
Dr. Michael Schäfer MPH, Bundesvorsitzender der Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V. | © privat
Die Struktur- und Prozesslogik mit ihren niedrigschwelligen Angeboten, die sich über viele Jahre herausgearbeitet und fortentwickelt haben, darf man nicht leichtfertig infrage stellen. Vielmehr gilt es, im Nebeneinander voneinander zu lernen und aufeinander zuzugehen und sich im Idealfall zu ergänzen. Niemand kennt die Strukturen im kommunalen Bereich so gut wie der Öffentliche Gesundheitsdienst. Dies gilt es bei der Prävention zu nutzen.Jedenfalls sollte es nicht so sein, dass die schwächsten Glieder in der Kette, nämlich die Settings selbst, bei einem Überangebot von Präventionsleistungen über die Effizienz, Effektivität und Nachhaltigkeit von präventiven und gesundheitsförderlichen Maßnahmen entscheiden. Die Qualität neuer Programme muss überprüfbar sein und darf nicht subjektiven Einschätzungen unterliegen.
Konzertierte Aktionen und neue Verbünde auf der Basis sozialräumlicher Gegebenheiten unter Berücksichtigung bewährter Strukturen und jahrelanger Erkenntnisse sind jetzt die Botschaften, wenn es gilt, die unterschiedlichen gesetzgeberischen Vorgaben vor Ort umzusetzen.
Dr. Michael Schäfer MPH,
Dr. Claudia Sauerland
Bundesvorsitzende der Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V.
In den meisten Industriestaaten haben Kinder immer gesündere Zähne, in Deutschland ist das einer der zentralen Erfolge der Gruppenprophylaxe, die 1986 im Sozialgesetzbuch V verankert wurde. In den 1980er-Jahren hatten die Zwölfjährigen in Deutschland durchschnittlich sieben kariöse Zähne, heute sind es 0,7. Das entspricht einem Rückgang um 90 Prozent. Heute werden etwa 80 Prozent aller Kinder in Kitas mindestens einmal im Jahr erreicht. 2012/2013 nahmen insgesamt 1.920.244 Kinder in Deutschland an der Gruppenprophylaxe teil.
Das bis dato größte Gesundheitsförderungsprogramm einer einzelnen Kasse, die „Jolinchenkids“ des AOK Bundesverbands kommt seit der bundesweiten Einführung 2007 (damals als „Tigerkids“) bis Ende 2014 auf etwa 5.500 Kitas, das entspricht einem Erreichungsgrad von zehn Prozent in knapp zehn Jahren. Da jetzt fast alle Kassen in Kitas aktiv werden, vergrößert sich die Reichweite bei einer Verfünffachung der Ausgaben eben auch fünffach, sprich in zehn Jahren könnte die AOK, wenn sie so weitermacht wie bislang, die Hälfte aller Kitas einmal erreicht haben, wenn diese nicht ein Konkurrenzprogramm einer anderen Kasse vorziehen.
Die Programmqualität ist zwar irgendwie leitfadenkonform, aber dennoch sehr heterogen: hier mal nur Ernährung und Bewegung, da noch was für die Erzieherinnengesundheit. Einige Programme probieren auch gleich das große „one fits all“ – beispielsweise das Programm „Die Rakuns – das gesunde Klassenzimmer“ der ikk classic, ein bundesweites Programm zur Gesundheitsbildung in Grundschulen der Stiftung Kindergesundheit, geadelt durch die Schirmherrschaft von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. Die Inhalte, die vor allem durch Comics und Internetangebote vermittelt werden, umfassen neben Selbstwahrnehmung, Bewegung und Entspannung eben auch Zahnpflege und Hygiene. Fast alle Krankenversicherer investieren zur zeit massiv in Medien, Material und Personal.
Statement DAJ
„Das Erfolgsprogramm braucht Artenschutz!“
Bettina Berg, Geschäftsführerin Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege e.V. (DAJ)schäftsführerinDeutsche Arbeitsgemeins | © DAJ
Die Gruppenprophylaxe bekam von Anfang an einen festen Platz in den Settings Kita und Schule und wurde schnell zum größten gruppenbezogenen Angebot der Kindergesundheitsförderung und -prävention in Deutschland. Dies verdankt sie zwei wesentlichen, geradezu historischen Strukturmerkmalen: § 21 SGB V verpflichtet seit 1989 die beteiligten Akteure zu „gemeinsamem und einheitlichem“ Handeln. Das bedeutet im Klartext: wettbewerbs- und werbefreies Auftreten. Und § 21 SGB V erwirkte, dass innerhalb kurzer Zeit auf Landes- und kommunaler Ebene feste Strukturen entstanden, in denen niedergelassene Zahnärzte, der Öffentliche Gesundheitsdienst und die Krankenkassen nach klaren Spielregeln und mit klarem sozialpolitischem Auftrag zusammenwirkten, auf der regionalen Ebene häufig auch unter Einbeziehung der Träger- und Elternvertreter selbst. Im Präventionsgesetz fehlen beide Merkmale für die neuen Angebote nach § 20 (a) SGB V.
Dass dies 1989 möglich wurde, verdanken wir maßgeblich einem gesundheitspolitischen Mikroklima, das von der 1986 publizierten Ottawa-Charta geprägt wurde. Dieses gesundheitspolitische Leitbild der WHO lieferte zumindest „solides Material für Visionen“ (Rosenbrock) und rückte eine salutogenetische Orientierung, gesamtgesellschaftliche sowie sozialkompensatorische Ansätze in den Fokus der gesundheitspolitischen Debatte. In der Folge wurden dann Prävention und Gesundheitsförderung weitgehend durch gesetzliche Aufträge an die GKV operationalisiert. Während der Rückbau in anderen Handlungsfeldern zugunsten des politisch gewollten Wettbewerbs zwischen den Kassen und einer zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens einsetzte, konnte die Gruppenprophylaxe in ihrer gesetzlich abgesicherten Nische richtig aufblühen und die Früchte tragen, die Thomas Altgeld skizziert hat. Betrachtet man die 2004 publizierten zwölf Good-Practice-Kriterien des Kooperationsverbunds Gesundheitliche Chancengleichheit, so ist mit Stolz festzustellen, dass diese zwar nicht alle gleichermaßen durchgängig und flächendeckend in der Gruppenprophylaxe umgesetzt, jedoch alle als Prinzipien der Qualitätsentwicklung gut angelegt und verankert sind. Hier seien nur einige Punkte erwähnt: Die Gruppenprophylaxe agiert, dem föderalen Bildungssystem angepasst, nach klaren Konzepten, die sich am Bildungsauftrag der Settings orientieren und sich methodisch-didaktisch mit ihren Angeboten in diese einfügen.
Dabei nimmt die Gruppenprophylaxe den Settingansatz ernst: Sie betrachtet das Setting nicht nur als Vehikel zum Transport einer Botschaft, sondern sucht dieses unter Einbeziehung der dort Handelnden im Sinne einer mundgesundheitsförderlichen Lebens- und Alltagswelt der Kinder zu gestalten. Gerade unser Konzept zur Gruppenprophylaxe für unter Dreijährige, aber auch viele Programme auf Landesebene leben dieses Prinzip. Der Blick richtet sich sowohl auf die individuellen Bewältigungschancen des Kariesrisikos eines einzelnen Kindes als auch auf die einschlägigen Aspekte seiner alltäglichen Lebensbedingungen. Mit ihren Angeboten zur Stärkung elterlicher Erziehungskompetenzen, zur Verknüpfung der Inhalte mit Angeboten der Sprach- und Motorikförderung weist die Gruppenprophylaxe viele Merkmale qualitativ hochwertiger Gesundheitsförderung auf. Die verlässlichen, stabilen und nachhaltigen Angebotsstrukturen der Gruppenprophylaxe, die entsprechend dem gesetzlichen Auftrag gut dokumentiert sind und auch in die Gesundheitsberichterstattung auf Bundes- und Landesebene Eingang finden, heben sich absolut wohltuend von der sonst branchenüblichen „Projektitis“ ab. Mit den DAJ-Definitionen zum erhöhten Kariesrisiko liegen klare und altersdifferenzierte Kriterien dafür vor, wann Kinder oder einzelne Bildungseinrichtungen in den Genuss spezifischer (sozial-)kompensatorischer Intensivprophylaxe-Programme kommen. Dass Kinder aller sozialen Schichten und nicht etwa nur Kinder aus „besseren Verhältnissen“ an den Prophylaxe-Erfolgen der vergangenen 30 Jahre teilhaben, zeigt sich in unseren regelmäßigen epidemiologischen Begleituntersuchungen, die den Blick auch auf das Drittel mit dem schlechtesten Mundgesundheitsstatus richten.
Fazit: Alle Beteiligten können stolz auf diese Gemeinschaftsleistung sein und sollten für ihren uneingeschränkten Erhalt kämpfen. Es wäre paradox, wenn die Gruppenprophylaxe nun ausgerechnet durch die Folgen eines Gesetzes unter Druck geriete, für das sie ursprünglich eine Vorbildfunktion erfüllen sollte und das eigentlich ihre Effekte durch Synergien verstärken sollte.
Bettina Berg
Geschäftsführerin
Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege e.V. (DAJ)
Bornheimer Str. 35a, 53111 Bonn
Die entwickelten Angebote konkurrieren dann um die Aufmerksamkeit und die Zeit von Erzieherinnen, Grundschullehrerinnen und Eltern. Das macht die Settings eher präventionsmüde als aufgeschlossen für Neues. Deshalb wäre ein abgestimmtes Vorgehen auf allen Ebenen dringend notwendig, auch um erfolgreiche Programme wie die Gruppenprophylaxe nicht zu gefährden. Nur wenn der Wildwuchs aufhört und Synergien angestrebt werden, ist mehr Geld im System auch eine sinnvolle Investition in die Zukunft.
Dipl.-Psych. Thomas Altgeld
Geschäftsführer Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V.
Fenskeweg 2, 30165 Hannover
thomas.altgeld@gesundheit-nds.de