Leitartikel

Wie entsteht eigentlich Mundgesundheit?

Dietmar Oesterreich

Die Zeiten ändern sich und mit ihnen auch unsere zahnärztliche Professionspolitik. War es früher Usus, seine Positionen aus den Praxiserfahrungen aufzubauen und zu verteidigen, gehört es heute dazu, seine standespolitischen Forderungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu untermauern. Nur so erscheint es möglich, in dem vielstimmigen Konzert der Gesundheitspolitik überhaupt Gehör zu finden. Nicht zuletzt der – in seiner Ausschließlichkeit durchaus kritisch zu hinterfragende – Siegeszug der evidenzbasierten Medizin mit ihren methodisch-wissenschaftlichen Anforderungen zum Wirksamkeitsnachweis von Diagnose- und Behandlungsverfahren hat uns Zahnärzten gezeigt, wie wichtig es ist, das Gespräch mit der Wissenschaft zu suchen, um standespolitische Entscheidungshilfen an die Hand zu bekommen. Klar erscheint mir aber auch, dass dieser Kontakt auf Augenhöhe erfolgen sollte, denn wissenschaftliche Erkenntnis und politische Bewertung sind immer zwei Paar Schuhe.

Gerade das Beispiel der evidenzbasierten Medizin mit ihren harten methodischen Prinzipien zeigt aber auch, dass diese Studien fast immer unter kontrollierten und nicht dem Versorgungsalltag entsprechenden Bedingungen entstehen, um dann jedoch Allgemeingültigkeit zu beanspruchen. Dabei können sie nicht einfach in die alltägliche Versorgung unserer Patienten einfließen: Zu verschieden sind Labor- und Alltagsbedingungen einer konkreten medizinischen/zahnmedizinischen Maßnahme. Vor diesem Hintergrund können wir es nur begrüßen, dass sich in den vergangenen Jahren ein eigener Zweig der Versorgungsforschung entwickelt hat, der diese letzte Meile der Gesundheitsversorgung beforscht und sich gerade mit den Alltagsbedingungen der Versorgung auseinandersetzt. Krankheitsverständnis und Therapieerfolg werden aus einer somatischen, psychischen und sozialen Sicht betrachtet, was die evidenzbasierte Methodik nicht leisten kann. Dieses biopsychosoziale Geflecht ist es, das die Versorgungsforschung im Kern bearbeitet. Leider ist die Frage nach der Evidenzbasierung zu einem zentralen Ausschlusskriterium für medizinische Leistungen geworden. Die Versorgungsforschung ermöglicht uns nun, argumentativ darauf Einfluss zu nehmen.

Wenn man unsere aktuelle Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) zur Hand nimmt, wird man als Zahnarzt sicherlich erst einmal erschlagen ob der Fülle der Ergebnisse. An dieser Stelle möchte ich ein Thema herausstellen, das bisher nicht so sehr im Zentrum stand, es aber für mich als Standespolitiker mit präventionspolitischem Schwerpunkt in sich hat: die Salutogenese. Daran lässt sich sehr eindrucksvoll zeigen, wie gerade sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und Fragestellungen auch für die Zahnmedizin nutzbar gemacht werden können. Verhalten und Befunde stehen bei vielen Erkrankungen naturgemäß in einem sehr engen Zusammenhang – speziell da, wo es um die orale Morbidität als eine stark verhaltensabhängige Erkrankungsweise geht. Zentrale Frage der Salutogenese ist, wie überhaupt „Gesundheit“ entsteht und durch welche Bedingungen, Prozesse und Ressourcen sie konstituiert wird, also: Wie bewahren Menschen ihre Gesundheit?

Schauen wir uns den Einfluss der generellen Einstellung eines Menschen gegenüber seiner Umwelt, also seine Lebensorientierung im Sinne des Kohärenzsinns (Sense Of Coherence) an, bleibt für die Präventionspolitik die wichtige Erkenntnis aus der DMS V bestehen, dass der Kohärenzsinn offensichtlich sehr stark das Mundhygieneverhalten und das Inanspruchnahmeverhalten von zahnärztlichen Diensten beeinflusst (Lesen Sie dazu auf S. 70: „Salutogenese – ein neues Stichwort für die Zahnmedizin?“).

Wenn wir diese Erkenntnis für die zahnärztliche Präventionspolitik aufnehmen, ergeben sich meines Erachtens völlig neue Möglichkeiten für eine mundgesundheitsbezogene Kommunikation mit unseren Patienten und der Bevölkerung insgesamt: Indem wir unsere präventiven Anstrengungen neben der „klassischen“ Aufklärung über die pathogenen Risiken auf die Stärkung patientenseitiger Ressourcen lenken, also auf die Faktoren, die den Patienten gesund erhalten – sprich die Förderung salutogenetischer Schutzfaktoren. Pathogenetische und salutogenetische Ansätze schließen sich keineswegs aus, sondern ergänzen sich idealerweise.

Ich meine, es lohnt sich, diesen Ansatz zu verfolgen.

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