Fallschirme können keinen Nutzen haben ...
Der Power Tower steht im Kölner Media (!) Park – der Olymp der deutschen Evidenz und Nutzenbewertung mit rund 200 Mitarbeitern und einem Etat von bald 20 Millionen Euro. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, kurz: IQWiG, so eine Art TÜV Rheinland. Es ist eine Kopie des britischen NICE (National Institute for Health and Care Excellence). Das erklärt das selbstbewusste Auftreten: „IQWiG – we‘re so nice!“ als Logo-Unterzeile und die britische Pop-Hymne „We Are the Champions“ in der Telefonschleife.
Dieser Tage brachte das IQWiG wieder einmal aufsehenerregende Arbeitsergebnisse in die Öffentlichkeit. Das Institut konnte keinen Nutzen für Fallschirme feststellen. Nach den strengen Kriterien seiner Methodik der evidenzbasierten Medizin war das notwendige Studiendesign nicht erfüllt. Es fehlten die randomisierten kontrollierten Studien (RCTs), die die nötige Kausalität bei der Nutzenbewertung hätten belegen können. Noch dazu waren sie nicht verblindet! Weder waren sie einfachblind – die Versuchsperson weiß nicht, ob sie einen funktionstüchtigen Fallschirm dabei hat oder mit der Discounter-Plastiktragetasche im Rucksack springt. Noch waren sie doppelblind – die Versuchsperson weiß nichts, aber auch der Behandler hat keine Ahnung, wem er was in den Rucksack packt. Auf eine dreifach blinde Versuchsanordnung (auch der Testauswerter weiß nichts) hätte das Institut ja sogar verzichtet. Der Institutsleiter bedauerte in seinem Statement, dass sich keine Versuchspersonen bereit gefunden hätten. Allenfalls wären Suizidwillige für die Kontrollgruppe zu gewinnen gewesen. Das aber habe der hohe Anspruch seines Instituts (doppelblind) nicht erlauben können. Nach den strengen Kriterien musste das IQWiG daher zu der eindeutigen Bewertung kommen, einen Nutzen, aber auch einen Schaden bei der Verwendung von Fallschirmen, wenn man aus dem Flugzeug zu springen neigt, nicht feststellen zu können.
Airbags taugen auch nichts!
Ein ähnliches Bewertungsschicksal ereilten Airbags im Auto. Auch hier konnte das IQWiG keinen Nutzen, aber gottlob auch keinen Schaden feststellen. Auch hier mangelte es am Studiendesign. Das IQWiG kritisierte in seinem Bewertungsfazit die mangelnde Bereitschaft, sich als Versuchsperson für ein so wichtiges, den wissenschaftlichen Erkenntnisstand doch so wesentlich prägendes Experiment zur Verfügung zu stellen. Da es auch hier um den Goldstandard gehe, könne aber das Institut nichts anderes gelten lassen. Für eine seriöse Untersuchung sei es unabdingbar, angemessene Methoden anzuwenden. Das Institut stellte dazu die Wichtigkeit des Hedges‘ g heraus, ebenso die Berücksichtigung von Irrelevanzschwelle und Responderanalyse. Wenn sich keine Versuchspersonen für verblindete Crashtests fänden, seien die Autofahrer die Dummen.
Ein alternativer Einsatz von Dummies sei dem Institut nicht zumutbar, da hier die Evidenz fehle, dass Dummies für alle Varianten des menschlichen Situs (zum Beispiel adipös oder magersüchtig) eingesetzt werden können.
Wann ist blind blind genug?
Als besonders bedauerlich bewertete das IQWiG sein Untersuchungsergebnis zum Einsatz von Metall- und Keramikbrackets in der kieferorthopädischen Behandlung. Obwohl hier ein zumindest einfachblindes Studiendesign möglich gewesen wäre (von doppelblind habe das Institut abgesehen, weil es dem Behandler beim Kleben nicht die Augen verbinden wollte), habe man die Untersuchung abgebrochen. Man habe die Keramikbrackets metallisch anfärben müssen, um ein für die Verblindung notwendiges gleiches Aussehen zu ermöglichen. Doch schon nach kurzer Untersuchungszeit gab es das erste höchst bedauerliche Ergebnis: Der Lack ist ab! Eine belastbare Odds ratio könne dadurch nicht errechnet werden.
Statement der BZÄK
Versorgungsforschung stärken!
Im Kern geht es primär darum, wie die Behandlung von Patienten mit parodontalen Erkrankungen gestaltet werden soll. Trotz des erfreulichen Rückgangs der Erkrankungslasten, wie jüngst in der DMS V festgestellt, bleibt die Parodontitis eine Volkskrankheit. Das heißt, auch zukünftig müssen wir Zahnärzte nicht nur über die Zahnbetterkrankungen aufklären und den Patienten in seinem Mundgesundheitsverhalten beeinflussen, sondern auch die Erkrankung therapieren.
Mit der Versorgungsforschung, die die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung unter Alltagsbedingungen analysiert und bewertet, gibt es neben der evidenzbasierten Medizin eine weitere, mittlerweile etablierte Forschungsrichtung, die sich darum bemüht, die Versorgung der Bevölkerung effektiv und effizient zu gestalten. Ohne Frage gibt es in vielen Bereichen der Medizin, so auch in der Zahnmedizin, weiteren evidenzbasierten Forschungsbedarf. Neben der kritischen Auseinandersetzung mit dem Par-Vorbericht sollte es aber auch für die Wissenschaft Anlass sein, die Methodenansätze der Versorgungsforschung stärker zu nutzen und sich mit dem EbM-Paradigma à la IQWIG deutlich kritischer auseinanderzusetzen. Denn allein mit klinischen Laborparametern ist der bevölkerungsweite Nutzen einer Parodontitistherapie nicht objektiv abzubilden.
Geschäftsführender Vorstand der BZÄK
Prof. Dietmar Oesterreich, Dr. Peter Engel, Prof. Christoph Benz, Berlin
Zufrieden zeigt sich hingegen das IQWiG mit seinem Vorbericht „Systematische Behandlung von Parodontopathien“. Hier wurde der Nutzen von Behandlungsmethoden in der Parodontologie „hinsichtlich patientenrelevanter Endpunkte bei Patienten mit behandlungsbedürftigen Parodontopathien untersucht“, so das IQWiG. Dabei ging es um eine geschlossene mechanische Therapie (GMT) als alleinige Behandlung im Vergleich zu keiner Behandlung, zu zusätzlichen u. a. offen chirurgischen oder adjuvant antibiotischen Maßnahmen, zu einer strukturierten Nachsorge wie der Unterstützenden Parodontitis-Therapie. Als patientenrelevanten Endpunkt bestimmte das Institut den Zahnverlust. Das Ergebnis des Vorberichts ist eindeutig: „Zusammenfassend lässt sich für die GMT im Vergleich zu keiner parodontitisspezifischen Behandlung ein Anhaltspunkt für einen Nutzen ableiten, wohingegen für zusätzlich zur GMT angewendete Maßnahmen mit Ausnahme des IHOTEPVerfahrens [Anm. der Red.: IHOTEP ist ein individuell angepasstes Mundhygiene-Schulungsprogramm] kein höherer Nutzen oder Schaden im Vergleich zur alleinigen GMT gefunden wurde.“
Alle Artikel zum IQWIG-Vorbericht „Parodontitistherapie“
Alternative Fakten
Sie haben gerade eine Paro-Fortbildung gebucht? Stornieren Sie! Wollten Sie gar jetzt im Februar zum Chicago Midwinter Meeting und sich das Symposium über „Perio-Systemic Inflammation Reducing Strategies“ leisten? Fahren Sie lieber an die Niagara-Fälle, sofern Mr. Trump Sie ins Land lässt. Und kommen Sie bloß nicht auf den Gedanken, in neue Paro-Behandlungsgeräte zu investieren.
Rausgeschmissenes Geld! Sie lesen das Journal of Clinical Periodontology – an fünfter Stelle von 83 fachspezifischen Zeitschriften mit seinem Impact Factor von 3,688? Zeitverschwendung!
Immenser Ressourcenverbrauch bei fraglichem Nutzen
„Meine Meinung zum IQWiG-Vorbericht? Die Wörter, die mir spontan in den Sinn kommen, dürfen Sie gar nicht drucken, so wütend bin ich!“ Nicht nur aus den Büroräumen der Unikliniken hört man derzeit solche Ausrufe.
Das ist eine Gefahr für die Zahnmedizin
Der Auftrag ist klar umrissen: Das IQWiG soll die systematische Behandlung der Parodontopathien überprüfen. Das Institut legt los, sucht und findet 6.004 wissenschaftliche Arbeiten. 573 davon sind potenziell relevant. Doch nur 43 Publikationen zu 35 Studien genügen seinen strengen Kriterien. Das hat Folgen. Warum? Weil mangels Evidenz der Parodontitistherapie der Nutzen abgesprochen wird.
Die Zahnmedizin steckt in der Evidenzfalle
Die ersten Reaktionen reichten von ungläubigem Entsetzen über Kopfschütteln bis zum Türenknallen. Der IQWiG-Vorbericht, der einen Großteil der Parodontaltherapie quasi über Nacht für nutzlos erklärte, hat ohne jeden Zweifel für Unmut gesorgt. Die Zahnärzteschaft will sich damit nicht geschlagen geben. Im Gegenteil.
„Nice Change“
Bereits im vergangenen Jahr hat Prof. Dr. Dr. Martin Kunkel (Bochum) in seiner Publikation „A change in the NICE guidelines on antibiotic prophylaxis“, veröffentlicht im British Dental Journal, ausgeführt, welche Auswirkungen es haben kann, wenn Empfehlungen auf formal höchstem Evidenzniveau erarbeitet werden. In „Der MKG-Chirurg“ findet sich ein aktueller Kommentar, der hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags nachgedruckt wird.
Weltweit auf wissenschaftlicher Basis entwickelte Behandlungskonzepte mit nachweisbaren Erfolgen, die als Behandlungsstandards gelten, musste das IQWiG gemäß seiner Arbeitsphilosophie negieren, denn die notwendige Verblindung hat gefehlt! Es ist danach nicht Aufgabe des Instituts zu erklären, wie bei solchen Untersuchungen die Verblindung des Patienten (zum Beispiel in der Kontrollgruppe) oder gar des Behandlers zu erfolgen habe.
Das ist schließlich bei der Nutzenbewertung von Arzneimitteln, dem Brot-und Butter-Alltag des IQWiG auch machbar. Ein womöglich vorgebrachter Vorwurf der methodischen Blindheit muss daher ins Leere laufen.
Literatur
Potts M, Prata N, Walsh J, Grossman A: Parachute approach to evidence based medicine.BMJ. 2006 Sep 30;333(7570):701–3.
Parachute use to prevent death and major trauma related to gravitational challenge: systematic review of randomised controlled trials. BMJ. 2003 Dec 20; 327(7429): 1459–1461.