Immenser Ressourcenverbrauch bei fraglichem Nutzen
„Meine Meinung zum IQWiG-Vorbericht? Die Wörter, die mir spontan in den Sinn kommen, dürfen Sie gar nicht drucken, so wütend bin ich!“ Nicht nur aus den Büroräumen der Unikliniken hört man derzeit solche Ausrufe.
Der Vorbericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen – kurz IQWiG – zu Vor- und Nachteilen der Parodontaltherapie löst in der gesamten zahnmedizinischen Fachwelt Kopfschütteln aus. Der Grund: Die Wissenschaftler des Instituts attestieren dem Großteil der Pardontitisbehandlungen keinen Nutzen. „Nur bei zwei Ansätzen zeigen Studien Vorteile“, heißt es dort wörtlich. Zwar gebe es eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten, räumen die Autoren ein. Aber eben nur bei zwei Therapien, der geschlossenen mechanischen Therapie (GMT) und einem individuell angepassten Mundhygiene-Schulungsprogramm, existieren vorgeblich Studiendaten, die einen Anhaltspunkt für einen höheren Nutzen zeigen können. Alle anderen Behandlungstherapien? Nutzlos, so das IQWiG.
Statement Prof. Thomas Hoffmann
Die Aussagen sind zu undifferenziert!
Schließlich kommt das IQWiG zum Schluss, dass Lappenoperationen und die zusätzliche Gabe von Antibiotika keinen zusätzlichen Nutzen zum geschlossenen Vorgehen (sogenannte geschlossene mechanische Therapie: GMT) bei der Parodontitistherapie haben. Nur für Scaling findet das IQWiG einen Anhalt (nach Beleg und Hinweis die schwächste Form der Entscheidungsgrundlage) für einen zusätzlichen Nutzen gegenüber keiner Behandlung in der Form, dass Scaling die gingivale Blutung reduziert. Es findet jedoch keine Belege, dass Scaling auch zu einem Attachmentgewinn führt. Für den Nutzen der strukturierten Nachsorge (unterstützende Parodontitistherapie: UPT) findet das IQWiG auch keinen zusätzlichen Nutzen, denn nach Meinung des IQWiG gibt es dazu keine aussagekräftigen Studien. Mir persönlich sind die Aussagen vorab zu undifferenziert und es erscheint mir stark verwunderlich, dass aktuelle Metaanalysen, die sowohl chirurgischer, regenerativer und adjunktiver antibiotischer Therapie einen zusätzlichen Nutzen gegenüber GMT unter Beachtung der Indikationsstellung aus¬weisen, ignoriert werden. Ich stehe einer kritischen Evaluierung von Therapiemaßnahmen stets offen gegenüber, geht es doch um die Gesundheit unserer Patienten. Allerdings sollte die Methodik eine differenzierte Analyse erlauben, um diesem Patientenanliegen auch zu entsprechen.
Prof. Dr. med. Thomas Hoffmann, Dresden
Wie kann das Institut zu solch einem Ergebnis kommen? Gibt es doch weltweit zahlreiche systematische Übersichtsarbeiten, die die Effektivität der systematischen Parodontaltherapie einschließlich einer lebenslang unterstützenden Nachsorge konsentieren.
Statement Dr. Jörg Junker
Der Patient will die Therapie. Und dafür zahlen.
Das Ergebnis enttäuscht natürlich all diejenigen, die tagtäglich über Jahre und Jahrzehnte wissenschaftlich arbeiten und/oder in der Praxis mit Parodontitis und Periimplantitis kämpfen. Das Ergebnis (keine Aussage zur strukturierten Nachsorge aus Mangel an Primärquellen) kann interessierten Kreisen dazu dienen, zu sagen: Wir brauchen in Deutschland keinen zusätzlichen Beruf, der die niedergelassenen Zahnärzte in ihrem Kampf für eine parodontale Langzeitgesundheit ihrer Patienten unterstützt.
Das IQWiG hat aber auch eine Umfrage unter Patienten gemacht und festgestellt, dass es den Patienten hauptsächlich um individuelle persönliche Lösungen geht
Die Aussagen zur halbjährlichen Nachsorge und den privaten Kosten zeigen auf, dass hier die Patienten klarere Vorstellungen haben als von den interessierten Kreisen gedacht. Das von vielen geforderte System System – a. Erstbehandlung als Kassenleistung, b. die wissenschaftlich geforderte Nachsorge durch eine qualitativ dem höchsten Standard verpflichtete Dentalhygienikerin, aber privat bezahlt – sollte endlich angedacht werden.
Denn letzten Endes entscheidet der Patient, welche Therapieform er haben möchte. Und was er dafür zahlen will.
Dr. Jörg Junker, Berlin
Laut IQWiG sind die Studien angeblich „nicht verwertbar“. Die Argumentation: „Die Behandlungsergebnisse wurden nicht in einer dem jeweiligen Studiendesign angemessenen Weise ausgewertet.“ Die Krux liegt also in der Evidenz. Lesen Sie mehr dazu im nachfolgenden Artikel.
Statement Prof. Christof Dörfer
Wenn man nur einen Hammer hat, ...
… ist die ganze Welt ein Nagel. Nach diesem Prinzip scheint der Vorbericht des IQWiG angefertigt worden zu sein.
Die Regeln, die für die Anfertigung von Veröffentlichungen des Evidenzgrads Ia gelten, werden hier noch weiter verschärft und fordern unter anderem Angaben, die selbst die derzeitigen Standards für höchstrangige Publikationen nicht als erforderlich erachten. Werden diese Angaben in den Publikationen nicht gemacht, fällt die Arbeit aus der Bewertung des IQWiG heraus.
Die Betrachtung weltweit etablierter Therapieverfahren ist aber nicht mit der Überprüfung der Wirksamkeit eines neuen Medi-kaments zu vergleichen. Die Qualitätsstandards für klinische Studien sind in den vergangenen 25 Jahren ständig weiter¬entwickelt worden, und unter heutigen Gesichtspunkten halten nur wenige der älteren Studien diesen Ansprüchen komplett stand. Dieses Problem haben diejenigen, die sich mit dem Evidenzgedanken in seiner ganzen Breite befassen, seit Langem erkannt. Längst wird Kritik laut, dass Bewertungen von Verfahren und Therapien nicht sinnvoll sind, wenn die Methodik der maximal erreichbaren Evidenz in der überwiegenden Mehrzahl zu dem Ergebnis kommt, dass eine Beurteilung mangels ausreichend guter Studien nicht möglich sei. Längst wird gefordert, die Aussagen, die auf niedrigeren Evidenzstufen beruhen, mit den nötigen Einschränkungen ihrer Aussagekraft, aber trotzdem in ihrem Inhalt dargestellt und in Empfehlungen einbezogen werden.
Dies ist keine Abkehr vom Evidenzgedanken. Im Gegenteil, durch diese Herangehensweise wird Evidenzbasiertheit zu einem brauchbaren Fundament für die Entscheidungsfindung und verliert sich nicht in akademisch anspruchsvollen aber letztlich nicht zielführendem Klagen über das Fehlen von Evidenz. Genau das ist bei der Vorgehensweise des IQWiG geschehen. Es kann kaum eine Aussage getroffen werden. Der Umkehrschluss, dass deswegen keine Wirksamkeit existiere, ist allerdings unzulässig. Vielmehr ist das eingesetzte Instrumentarium für die Bewertung der vorhandenen Evidenz nicht geeignet. Um im Bilde zu bleiben: Hier werden mit dem Hammer Schrauben bearbeitet, und wenn es nicht funktioniert, sind die Schrauben schuld daran.
Prof. Dr. Christof Dörfer, Kiel
Alle Artikel zum IQWIG-Vorbericht „Parodontitistherapie“
Alternative Fakten
Sie haben gerade eine Paro-Fortbildung gebucht? Stornieren Sie! Wollten Sie gar jetzt im Februar zum Chicago Midwinter Meeting und sich das Symposium über „Perio-Systemic Inflammation Reducing Strategies“ leisten? Fahren Sie lieber an die Niagara-Fälle, sofern Mr. Trump Sie ins Land lässt. Und kommen Sie bloß nicht auf den Gedanken, in neue Paro-Behandlungsgeräte zu investieren.
Rausgeschmissenes Geld! Sie lesen das Journal of Clinical Periodontology – an fünfter Stelle von 83 fachspezifischen Zeitschriften mit seinem Impact Factor von 3,688? Zeitverschwendung!
Das ist eine Gefahr für die Zahnmedizin
Der Auftrag ist klar umrissen: Das IQWiG soll die systematische Behandlung der Parodontopathien überprüfen. Das Institut legt los, sucht und findet 6.004 wissenschaftliche Arbeiten. 573 davon sind potenziell relevant. Doch nur 43 Publikationen zu 35 Studien genügen seinen strengen Kriterien. Das hat Folgen. Warum? Weil mangels Evidenz der Parodontitistherapie der Nutzen abgesprochen wird.
Fallschirme können keinen Nutzen haben ...
Die Kritik am „heiligen Evidenz-Gral“ des IQWiG ist gar nicht so neu. Bereits vor Jahren hatte das renommierte British Medical Journal auf die Konzeptgrenzen hingewiesen. Nähern wir uns dem kritisierten Sachverhalt – glossierend. Denn Sie müssen es glauben: Fallschirme können keinen Nutzen haben.
„Nice Change“
Bereits im vergangenen Jahr hat Prof. Dr. Dr. Martin Kunkel (Bochum) in seiner Publikation „A change in the NICE guidelines on antibiotic prophylaxis“, veröffentlicht im British Dental Journal, ausgeführt, welche Auswirkungen es haben kann, wenn Empfehlungen auf formal höchstem Evidenzniveau erarbeitet werden. In „Der MKG-Chirurg“ findet sich ein aktueller Kommentar, der hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags nachgedruckt wird.