„Risikokinder brauchen zusätzliche Prophylaxe!“
Herr Prof. Splieth, Ihr Projekt „Unterstützende Intensivprophylaxe für Kinder mit zahnärztlicher Sanierung unter Narkose“ hat vom Innovationsausschuss des G-BA den Zuschlag für eine Förderung aus dem Innovationsfonds erhalten. Warum gerade dieses Thema – wo liegen die Bedarfe?Prof. Dr. Christian Splieth:
Das Projekt „Unterstützende Intensivprophylaxe für Kinder mit zahnärztlicher Sanierung unter Narkose“ nimmt ein sehr wesentliches Problem in der Zahnmedizin auf: In Deutschland haben circa 10 bis 15 Prozent der Dreijährigen bereits Frühkindliche Karies, und dies im Schnitt mit über drei unversorgten Defekten. Dieser Behandlungsumfang und die geringe Kooperationsfähigkeit der Kinder führen zu vielen Narkosen, Extraktionen, Stahlkronen etc. Im Schnitt versorgen wir bei Kindern in Greifswald pro Narkose mehr als sechs Zähne.
Wie sieht das Projekt genau aus und welche Hauptzielrichtung hat es?
Der gerade beschriebene Tatbestand ist umso erstaunlicher, da Karies eine präventable Erkrankung ist und wir bei den Jugendlichen in der permanenten Dentition einen Kariesrückgang von 90 Prozent haben. Im frühen Milchgebiss liegt dieser aber nur bei 30 Prozent. Da (Frühkindliche) Karies der beste Prädiktor für weitere Karies ist, macht es eigentlich Sinn, für Risikokinder besondere Prophylaxe anzubieten. Im bisherigen GKV-Katalog sind die Präventionsmaßnahmen im Milchgebiss aber besonders spärlich und kaum risikobasiert. Es ist daher unverständlich, dass die teure Narkosesanierung getragen wird, zusätzliche Prävention aber privat bezahlt werden muss. Somit untersucht das Projekt, wie sinnvoll ergänzende zahnärztliche Prophylaxe für Kinder ist, die eine zahnärztliche Narkosesanierung erhalten.
Das Projekt im Überblick
Ziel des Projekts „Unterstützende Intensivprophylaxe für Kinder mit zahnärztlicher Sanierung unter Narkose“ ist es, in drei Sitzungen – einer Erstaufnahmeuntersuchung, einer Sitzung vor sowie einer nach der Narkose – die Mundgesundheit der betroffenen zwei- bis fünfjährigen Kinder analog zu bestehenden Prophylaxeleistungen nachhaltig zu verbessern. Die neue Versorgungsform soll die bestehende kassenzahnärztliche Versorgung um zusätzliche IP1/2/4-Leistungen und die Erhebung von aktiv-kariösen Läsionen in einer definierten Kariesrisikogruppe ergänzen.
Als Indikatoren für die Mundgesundheit sollen in den Sitzungen vor und nach der Narkose ein Befund einschließlich der aktiv-kariösen Initialläsionen und in allen Sitzungen die standardisierten Mundhygieneindizes erhoben werden.
Kooperation mit der AOK Nordost und den KZVen Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Westfalen-Lippe
Methode: Evaluation der Kariesaktivität und des weiteren Kariesbefalls anhand einer kalkulierten Stichprobe bei Kindern einer Gruppe mit der neuen Versorgungsform (n = 204) und Kindern einer Kontrollgruppe (n = 204), Rekrutierung in vier KZV-Bereichen sowie statistische und gesundheitsökonomische Auswertung des Effekts der zusätzlichen Intensivprophylaxe
Ablauf:
1. Aufnahme: Untersuchung und Prävention FU, Lokalfluoridierung IP4, Mundhygieneindizes IP1
2. vor Narkose: Mundhygieneindizes IP1, Prävention IP2, Lokalfluoridierung IP4
3. Evaluation durch Untersuchung nach einem halben Jahr: Untersuchung 01, Lokalfluoridierung IP4, Mundhygieneindizes IP1Evaluation durch Enduntersuchung nach einem Jahr: Untersuchung 01, Lokalfluoridierung IP4, Mundhygieneindizes
Das Projekt wird mit 306.500 Euro vom Innovationsfonds des G-BA gefördert.
Welche neuen Versorgungsformen sind dort vorgesehen und wie soll der Ablauf erfolgen?
Aus Bausteinen der bestehenden FU/IP-Leistungen werden konsequent Präventionspläne für Kinder, die eine zahnärztliche Narksosesanierung erhalten werden, strukturiert, und zwar ähnlich einem PA-Plan: Zuerst erfolgt eine Motivations-/Instruktionssitzung(IP1/2/4) mit dem Schwerpunkt, die häusliche Mundhygiene mit fluoridhaltiger Zahnpaste zu verbessern. Nach etwa 14 Tagen sollte ein Recall erfolgen, um die Verbesserungen zu verstetigen. Danach erfolgen analog zum PA-Plan die Sanierung in Narkose und ein weiterer Recall-Termin zur Prophylaxe. Damit wird der chronischen Struktur der Karies Rechnung getragen und die Kinder und Eltern werden dann in das reguläre FU/IP-System eingegliedert.
Wie soll die bestehende Versorgung damit weiterentwickelt werden?
Die Prophylaxe im Milchgebiss kann sehr zielgenau für eine klar definierte Risikogruppe intensiviert werden. Dies schont die Ressourcen. Es trägt auch der Polarisation des Kariesbefalls Rechnung, dem die Prävention folgen sollte.
Wie sieht die wissenschaftliche Begleitung aus?
Die Abteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde der Universitätsmedizin Greifswald übernimmt die wissenschaftliche Betreuung, während die Leistungen und Dokumentationen innerhalb des etablierten GKV-Rahmens erfolgen.
Mit welchen Kooperationspartnern werden Sie arbeiten?
Alle Projekte benötigen eine Beteiligung einer Krankenkasse, dies ist bei unserem Projekt die AOK Nordost. Für die Umsetzung unter Bedingungen der Regelversorgung konnten wir die KZVen aus Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Westfalen-Lippe gewinnen. Die Kooperationspartner weisen beträchtliche Vorerfahrungen mit Kariespräventionsprogrammen zur Frühkindlichen Karies jenseits der jetzigen GKV-Regelleistungen auf, so dass bereits Kompetenzen bestehen, auf denen das Projekt aufbauen kann.
Wie sieht die erwartete Kosten-Nutzen-Relation aus?
Diese Frage zeigt, dass Sie die Ausschreibungsanforderungen genau gelesen haben. Mein Kollege Roger Basner hat in unserem Antrag dies evaluiert, und wir gehen davon aus, dass die Kosten einer kassenzahnärztlichen Versorgung nach BEMA bei ungefähr 500 Euro liegen plus Kosten von anästhesieärztlicher Seite. Bei weiteren, zahnärztlichen Kosten für restaurative Leistungen inklusive Begleitleistungen und einer einmaligen Folgenarkose bei circa zehn Prozent der Kinder ergeben sich für die nächsten fünf Jahre Milchzahndentition Kosten von etwa 560 Euro pro Kind. Bei einer Wirksamkeit der Intensivprophylaxe von circa 30 Prozent könnten Behandlungskosten von etwa 168 Euro eingespart werden – bei Kosten von insgesamt 118 Euro für die zusätzlichen Präventionsleistungen. Die IP4 kann jetzt schon als Kassenleistung erbracht werden. Dies ergibt einen Nutzen von 1,42 Euro bei einem Einsatz von 1 Euro. Ähnliche Präventionserfolge wurden bereits bei klinischen Untersuchungen zur Prävention von Frühkindlicher Karies bei Kindern in der Hochrisikogruppe erzielt, und auch hier ergeben sich – wie bei fast allen gesundheitsökonomischen Analysen zur Kariesprävention – positive Kosten-Nutzen-Verhältnisse, wie sie zum Beispiel Kowash [2006] oder Splieth Fleßa [2008] zeigen konnten.
Wie kann der Zahnarzt in der Praxis die Erkenntnisse aus dem Projekt im Arbeitsalltag umsetzen?
Relativ einfach, was vielleicht auch zur Förderung des Projekts geführt hat: Die einzelnen Elemente dieses Programms werden in den Zahnarztpraxen als IP1–4 bereits seit über 25 Jahren für das bleibende Gebiss durchgeführt. Seit 2004 in etwas beschränkterem Umfang auch für die Milchzähne ab 2,5 Jahren. Es bereitet daher eigentlich keine Schwierigkeiten, diese Kompetenz jetzt konsequent auch für das Problem der Frühkindlichen Karies in der Risikogruppe zu intensivieren.
Der Innovationsfonds für eine bessere Patientenversorgung
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat seit dem 1. Januar 2016 den Auftrag, neue Versorgungsformen, die über die bisherige Regelversorgung hinausgehen, und Versorgungsforschungsprojekte zu fördern. Ziel des Innovationsfonds nach den Paragrafen 92a und 92b Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V) ist eine qualitative Weiterentwicklung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland.
Die zur Verfügung stehende Fördersumme beträgt in den Jahren 2016 bis 2019 jeweils 300 Millionen Euro jährlich. Hiervon sind 225 Millionen Euro für die Förderung neuer Versorgungsformen und 75 Millionen Euro für die Versorgungsforschung vorgesehen. Die Mittel für den Fonds werden von den gesetzlichen Krankenkassen und aus dem Gesundheitsfonds getragen. Der Innovationsausschuss des G-BA legt Schwerpunkte und Kriterien für die Förderung fest und entscheidet über die eingegangenen Anträge.
In einer ersten Welle werden neben dem beschriebenen Projekt vom Innovationsfonds 28 weitere Projekte für neue Versorgungsformen gefördert. Im Bereich Versorgungsforschung wird zudem das zahnmedizinische Projekt „Implementierung von Routinedaten & PROMS in die evidenzinformierte intersektorale (zahn)medizinische Versorgung“ des Universitätsklinikums Heidelberg gefördert – wir werden es demnächst in den zm vorstellen.