Wir haben eine klare Linie
Unsere gesetzliche Krankenversicherung beruht auf dem Prinzip von Solidarität und Eigenverantwortung. Gleich im ersten Paragrafen des SGB V wird dieses Prinzip allen anderen Bestimmungen vorangestellt. Für alle gesetzlich Versicherten besteht im Rahmen ihres Versicherungsschutzes ein umfassender Anspruch auf medizinisch notwendige Leistungen, die dem anerkannten Stand der Forschung und dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 des SGB V entsprechen. Die Festlegung dessen, was medizinisch erforderlich und von der Solidargemeinschaft zu finanzieren ist, obliegt dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und wird in Richtlinien geregelt. Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung wird kontinuierlich überprüft und bei entsprechender Erkenntnislage an den Stand der Wissenschaft angepasst. Einer der Träger des G-BA ist die KZBV, die in diesem Gremium die Zahnärzteschaft alleine vertritt und insofern an der Ausgestaltung der Richtlinienkompetenz des G-BA verantwortlich mitwirkt und gemeinsam mit den Partnern der Selbstverwaltung in der Folge die konkrete Ausgestaltung der Leistungskataloge genauso wie die Honorierung der einzelnen Leistungen festlegt.
Auf dieser Grundlage erklärt sich auch der Leistungskatalog der kieferorthopädischen Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Er definiert sowohl den Leistungsanspruch des Versicherten als auch den Rahmen dessen, was der Vertragszahnarzt im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung erbringen darf – soweit es im konkreten Behandlungsfall medizinisch erforderlich ist – und welche Honorierung er für diese Leistungen erhält.
Mit diesen gesetzlichen Regelungen wird aber die Wahlfreiheit der Versicherten nicht limitiert. Sie haben als mündige Bürger das Recht, sich auch für solche Leistungen zu entscheiden, die medizinisch anerkannt sind, aber über den Leistungsanspruch der GKV hinausgehen. Gerade im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung existieren vielfältige gesetzliche Regelungen, die trennscharf die medizinisch notwendigen Leistungen im GKV-Katalog von solchen unterscheiden, die über diesen Rahmen hinausgehen und insofern vom Versicherten im Rahmen seiner wirtschaftlichen Eigenverantwortung auch außerhalb der solidarischen Krankenversicherung privat zu honorieren sind. Gesetzliche Regelungen hierzu gibt es bekanntermaßen beispielhaft im Bereich der Füllungstherapie und der Versorgung mit Zahnersatz. Auch existieren grundsätzliche Ausschlüsse von Leistungsansprüchen oder solche, die durch versicherungstechnische Grenzen belegt sind, wie zum Beispiel im Rahmen der Implantologie, der Individualprophylaxe und der Erwachsenenkieferorthopädie, allerdings fehlen solche gesetzlichen Regelungen bis heute für die kieferorthopädische Behandlung innerhalb der GKV.
Wohl deshalb ist es in der Vergangenheit zu selbstbestimmten Interpretationen dessen, was und wie Leistungen außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu vergüten sind, gekommen. Auch haben einzelne Kieferorthopäden gemeint, die Vollwertigkeit der gesetzlichen Versorgung negieren und eigene Qualitätsbestimmungen definieren zu können, die sie in Negierung ihrer vertragszahnärztlichen Pflichten als Grundlage dafür bemüht haben, Versicherten eine GKV-Versorgung gänzlich vorzuenthalten beziehungsweise eine solche von privaten Zuzahlungen abhängig zu machen.
Nur so ist es zu erklären, dass die KFO durch medial breit vorgetragene Kritik in den Fokus der allgemeinen, aber auch der politischen Öffentlichkeit geraten ist:
„Eine schöne Spange Geld. Immer wieder verweigern Kieferorthopäden ihren Versicherten eine Behandlung ohne Zuzahlung. Das ist zwar verboten, aber niemand tut etwas dagegen: nicht die Kassenzahnärztliche Vereinigung, nicht der Berufsverband, nicht das Ministerium. Empörten Eltern bleibt nur der Klageweg.“ Das war der Aufmacher der FAS am 18. Januar 2015. Der Begriff vom „Rotlichtmilieu in der KFO“ machte die Runde und erreichte die Politik. An- und Nachfragen aus dem Bundesgesundheitsministerium und von Abgeordneten aus dem Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages gingen in den Folgetagen bei der KZBV ein. Auch andere Medien nahmen das Thema auf. Und auf einmal waren nicht nur die schwarzen Schafe angesprochen – jetzt stand nicht nur ein Berufsstand und hier besonders die Kieferorthopäden am Pranger, sondern auch die Zuzahlung in der GKV selbst zunehmend im Fokus.
Dabei hatte der Berufsstand im Umgang mit der Mehrkostenregelung in der Füllungstherapie und ganz besonders mit der beim Zahnersatz bewiesen, dass er sehr verantwortlich mit dem Thema „Zuzahlungen“ umzugehen weiß. Umso ärgerlicher der Kollateralschaden nicht nur für die Mehrheit der kieferorthopädisch tätigen Zahnärztinnen und Zahnärzte, sondern für die gesamte Kollegenschaft. Einige wenige waren auf dem besten Weg, seriöse Zahnheilkunde zur sündigen Meile zu degradieren!
Zahnärztinnen und Zahnärzte in Deutschland beweisen dabei jeden Tag, dass sie sich im Spannungsfeld von beruflicher (Therapie-)Freiheit und Verantwortung unter vollständiger Wahrung des Patientenschutzes und ihrer Gemeinwohlverpflichtung sicher bewegen. Bei den gesetzlichen Mehrkostenregelungen sind Patientensicherheit und umfassende Transparenz gegeben: Der Versicherte ist vor der Behandlung umfassend über die möglichen Behandlungsalternativen, deren Vor- und Nachteile sowie über die Höhe der Gesamtkosten und des Eigenanteils zu informieren. Auch bei der Versorgung mit Zahnersatz sind Aufklärung und Information des Versicherten über Therapiealternativen und deren unterschiedliche Kosten vor der Behandlung zu leisten. Besonders bei Behandlungen, die über die Regelversorgung hinausgehen, ist das zwingend vorgegeben. Wer hier schludert, kommt nicht nur seiner Verantwortung nicht nach, er nimmt disziplinarrechtliche und zivilrechtliche Konsequenzen in Kauf und gefährdet darüber hinaus das Ansehen des gesamten Berufsstands.
In unserem freiheitlich orientierten Gesundheitssystem ist der gesetzlich versicherte Patient frei in seiner Entscheidung, ob er ausschließlich die medizinisch vollwertige – zuzahlungsfreie – GKV-Leistung als Sachleistung in Anspruch nehmen will, oder ob er sich ergänzend oder stattdessen für eine alternative, womöglich ästhetischere oder komfortablere Therapie entscheidet. Die Therapiefreiheit des Behandlers findet ihre Grenzen in der Entscheidung des Versicherten. Es versteht sich von selbst, dass die dazu notwendige Kommunikation mit einem auf Augenhöhe informierten Versicherten erfolgen muss. Die Therapiefreiheit des Vertragszahnarztes begründet keine Substitution seiner vertragszahnärztlichen Pflichten. Weder darf er die vertragszahnärztliche Versorgung schlechtreden noch darf er sie dem Versicherten vorenthalten oder sie von privaten Zuzahlungen abhängig machen. Die Versichertenrechte sind nicht nur zu jedem Zeitpunkt zu beachten – sie sind auch Grundlage für eine intakte und erfolgreiche Versorgung innerhalb und außerhalb der GKV.
Nach wie vor gilt der alte Grundsatz: „Nur der aufgeklärte Patient wird ein zufriedener Patient.“
Entscheidet sich der Versicherte nach umfassender Aufklärung und ausreichender Bedenkzeit für einzelne Leistungen oder eine Behandlung außerhalb der GKV, muss vollständige Transparenz auch im Hinblick auf vom Versicherten selbst zu tragende Kosten gewährleistet sein. Es ist nicht nur Zeugnis eines versierten Qualitätsmanagements, sondern noch viel mehr das Gebot einer funktionierenden Arzt-Patienten-Beziehung, dass gerade bei Zuzahlungen transparente Vereinbarungen mit nachvollziehbarer Kostenkalkulation getroffen werden. Hier sind die KZBV und die KZVen besonders in der Pflicht. Die Wahrung der Patientenrechte durch die Kollegenschaft gehört genauso zu ihren gesetzlichen Verpflichtungen wie die Vertretung der rechtmäßigen Interessen des Berufsstands.
Die KZBV hat daher mit dem Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden (BDK), unterstützt von der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) eine Vereinbarung getroffen, die Versichertenschutz, Transparenz, Wahlfreiheit, wirtschaftliche Eigenverantwortung und Therapiefreiheit bündelt. Die darin aufgestellten Grundsätze und Maßnahmen schaffen im Spannungsverhältnis zwischen gesetzlichem Leistungsanspruch und Wahlfreiheit die Grundlage für eine geordnete und transparente Aufklärung, Planung und Durchführung kieferorthopädischer Behandlungen. Mit den entwickelten Informationen und den dazu nötigen Formularen erhält der Behandler eine
Hilfestellung, wie er mit dem Versicherten auf Augenhöhe im Sinne des „shared decision making“ unter Wahrung der Patientenrechte und -interessen die bestmögliche, individuelle Versorgung abstimmen kann. Zugleich wird die Nachvollziehbarkeit von Behandlungsplanung, -verlauf und Abrechnung für die KZVen in Bezug auf deren verpflichtenden Prüfauftrag verbessert.
Ich bin davon überzeugt, mit diesen von der KZBV angestoßenen Maßnahmen den Versichertenschutz zu verbessern und gleichermaßen die große Mehrheit der Fachzahnärzte für Kieferorthopädie und der kieferorthopädisch tätigen Zahnärzte in ihrem Praxisalltag nicht nur zu unterstützen, sondern zukünftig auch vor schnell pauschalierenden, meist ungerechtfertigten Verdächtigungen schützen zu können.
Wenn wir die von uns erkämpften Freiheitsgrade in der vertragszahnärztlichen Versorgung erhalten und ausbauen wollen, müssen wir gemeinsam in Wahrnehmung unserer Verantwortung für die uns anvertrauten Menschen dafür Sorge tragen, dass die Patientenrechte und die Leistungsansprüche der Versicherten umfänglich erfüllt und darüber hinausgehende Versorgungswünsche ausschließlich auf der Basis neutraler Aufklärung und freiwilliger Entscheidung der Versicherten zu deren Wohl erbracht werden. Nur wenn jeder einzelne Versicherte uns als aufrichtigen Partner erlebt und den Mehrwert und gesundheitlichen Nutzen einer über den GKV-Anspruch hinausgehenden Behandlung erkennt, wird sich unser beispielgebendes Versorgungssystem dauerhaft etablieren und gegen die vielfältigen Widerstände behaupten können und als sinnvolle Alternative zum „Flatrate-Denken“ gesellschaftliche Anerkennung finden.
Für „Beutelschneider“ und diejenigen, die sich über ihre vertragszahnärztlichen Pflichten hinwegsetzen, sie nicht beachten oder missbräuchlich ausgestalten, darf und wird in unserem Berufsstand kein Platz sein.
Dr. Wolfgang Eßer ist der Vorsitzende der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung.
Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung,Universitätstr. 31, 50931 Köln