Prof. Dr. Anne Schäfer zur Verhältnismäßigkeitsprüfung

Das Gesundheitswesen ist nicht der Straßenbau!

Was in Berlin geschieht, ist weit weg, noch weiter weg ist Brüssel. Doch manchmal lohnt ein Blick auf die von der EU Kommission geplanten Vorhaben. Das Dienstleistungspaket etwa ist der erneute Versuch, die Dienstleistungsrichtlinie auf die Gesundheitsberufe auszudehnen – für mehr Wettbewerb in Europa, aber auch für mehr europäische Mitbestimmung in einem Bereich, der – noch – nationales Recht ist. Für Prof. Dr. Anne Schäfer von der Hochschule Fulda will die Kommission damit mit dem Rasenmäher gleichmachen, was nicht gleichzumachen ist.

Die Dienstleistungsrichtlinie der EU hat die Gesundheitsberufe einst ausgeklammert, jetzt „droht“ den Heilberufen in Deutschland wieder Ungemach durch das EU-Dienstleistungspaket. Warum dieser erneute Versuch der EU-Kommission?

Prof. Dr. Anne Schäfer: Aus dem Dienst‧leistungspaket steht für die Heilberufe besonders die Initiative für eine Richtlinie über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen im Fokus. Die Gründe, warum die Kommission eine weitere europäische Richtlinie für notwendig erachtet, um das nationale Berufsrecht der Zahnärzte und anderer sogenannter reglementierter Berufe zu überformen, sind in dem Vorschlag für den Richtlinienentwurf von der Kommission klar formuliert. 

Im Großen und Ganzen sind es zwei Gründe: Zum einen möchte die Kommission neue „unverhältnismäßige“ Regulierungen verhindern. Schon bisher mussten die Rechtsetzer in den Mitgliedstaaten (so auch die Zahnärztekammern) deren Verhältnismäßig‧keit vor dem Erlass neuer Regulierungen prüfen. Neu an dem Richtlinienvorschlag ist, dass ein Katalog von Kriterien für die Verhältnismäßigkeitsprüfung gesetzlich festgeschrieben werden soll und darin auch statistische oder andere wissenschaftliche Belege von den Mitgliedstaaten für bestimmte Zusammenhänge verlangt werden. Das Maß des Nachweises hängt von der Kommission ab. 

Der zweite Grund für die neue Richtlinie liegt in den Verhältnismäßigkeitsprüfungen, wie sie bisher für das Berufsrecht der reg‧lementierten Berufe durchgeführt wurden. Die Kommission moniert, dass nach der letzten großen Reform der Berufsanerkennungsrichtlinie viele Mitgliedstaaten gar nicht oder viel zu spät ihr Berufsrecht geprüft und keine einheitlichen Kriterien bei der Prüfung angewandt hätten. Sie bewertet die bisher durchgeführten Prüfungen daher als schwach. Circa 70 Prozent der Prüfungen hätten die Entscheidung getroffen, die bestehende Praxis aufrechtzuerhalten. 

Verhältnismäßigkeitsprüfung 

Die EU-Kommission hat am 10. Januar 2017 einen Vorschlag für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor dem Erlass neuer Berufsreglementierungen – als Teil des sogenannten Dienstleistungspakets – veröffentlicht. Ziel der Kommission ist die Aufhebung von Wettbewerbshindernissen bei der Mobilität von Dienstleistungs‧erbringern und bei der Erbringung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen.

Konkret soll die Richtlinie dazu dienen, Regeln für einen Rechtsrahmen zur Durchführung von Verhältnismäßigkeitsprüfungen vor der Einführung neuer Rechts- und Verwaltungsvorschriften festzulegen, mit denen der Zugang zu reglementierten Berufen oder deren Ausübung beschränkt oder bestehende Vorschriften geändert werden.

Die Richtlinie umfasst auch den Erlass oder die Änderung von Berufsregeln im zahnärztlichen und ärztlichen Bereich und betrifft unmittelbar die Berufszugangs- und Berufsausübungsregelungen der Ärzte und Zahnärzte.

Können Sie erklären, wie man sich diesen Prozess bis zur Entscheidung (Stichwort Verhältnismäßigkeitsprüfung) vorstellen muss?

Sinn und Zweck der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist es, zwei Ziele miteinander in einen verträglichen Ausgleich zu bringen: den Binnenmarkt mit den Zielen, wie sie durch die europäischen Grundfreiheiten – etwa die Dienstleistungs- und die Nieder‧lassungsfreiheit – festgeschrieben sind, und die Ziele, die die Mitgliedstaaten mit ihren nationalen Regelungen verfolgen. Beides muss gewichtet und gegeneinander abgewogen, also ins Verhältnis gesetzt werden. Diese Verhältnismäßigkeitsprüfung gilt auch für Regelungen, die den Berufszugang und die Berufsausübung betreffen, und verläuft in vier Stufen:

Stufe 1: Prüfung der Wirkung der Regelung

Auf der ersten Stufe wird geprüft, ob eine nationale Rechts- oder Verwaltungsvorschrift eine beschränkende Wirkung auf den Berufs‧zugang oder die Berufsausübung hat. Eine solche Beschränkungswirkung liegt vor, wenn die Vorschrift (zum Beispiel eine Regelung aus einem Berufsgesetz) geeignet ist, die Tätigkeit des Dienstleistenden (zum Beispiel eines Zahnarztes), der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig solche Dienstleistungen erbringt, in dem Mitgliedstaat, in dem die Regelung gilt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. 

Beispiel: Ein Zahnarzt will in einem anderen Mitgliedstaat vorübergehend tätig werden. In diesem Staat dürfen Zahnärzte wegen eines Werbeverbots aber nicht werben. Der Zahnarzt könnte sich durch das Werbeverbot daran gehindert fühlen, seine Dienstleistung in dem anderen Staat anzubieten. Er kann sich bei potenziellen Patienten ja nicht bekannt machen. Für diese Beschränkungswirkung ist es ausreichend, dass die Regelung geeignet ist, eine Tätigkeit in dem anderen EU-Staat zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Nicht relevant ist, ob eine solche Wirkung real eintritt. 

Stufe 2: Prüfung des Ziels des Normsetzers

Es kann Gründe eines Mitgliedstaates für eine beschränkende Regelung geben. Der europäische Gesetzgeber und der Europäische Gerichtshof (EuGH) haben eine ganze Reihe von Zielen des Allgemein‧interesses anerkannt („geschützte Ziele“). Daher wird in einer zweiten Stufe geprüft, ob der Staat mit der beschränkenden Regelung ein geschütztes Ziel verfolgt. Zu diesen anerkannten Allgemeininteressen zählen beispielsweise der Schutz der Gesundheit, die Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts der Systeme sozialer Sicherung oder auch die Würde des Zahnarztberufs, nicht aber rein wirtschaftliche Gründe.

Stufe 3: Prüfung der Eignung der Norm für das Ziel

Ist festgestellt, dass das von dem Mitgliedstaat mit der Regelung verfolgte Ziel ein anerkanntes Allgemeininteresse ist, wird drittens geprüft, ob die Regelung konkret geeignet ist, das geschützte Ziel zu erreichen. So kann – wie der EuGH jüngst entschieden hat – intensive, gegebenenfalls sogar aggressive Werbung, die möglicherweise sogar geeignet ist, Patienten hinsichtlich der angebotenen Versorgung irrezuführen, der Gesundheit und dem Vertrauen in den Zahnarztberuf schaden. Ein nationales Werbeverbot ist geeignet, dieser Gefahr entgegenzuwirken. 

Stufe 4: Milderes Mittel mit gleicher Effektivität?

Der Mitgliedstaat darf die Regelung nur dann europarechtlich aufrechterhalten, wenn es – einfach erklärt – kein milderes Mittel als die zu prüfende Regelung gibt, um das angestrebte geschützte Ziel zu erreichen. In unserem Beispiel sind geschützte Ziele die Würde des Zahnarztberufs und die öffentliche Gesundheit im Fall von Werbemaßnahmen. Es sind aber durchaus Werbemaßnahmen denkbar, die diesen Gütern nicht schaden. Ein umfassendes Verbot ist daher unverhältnismäßig und europarechtswidrig. 

Welche Aspekte an dieser Prüfung sind nun neu?

Die Beweisanforderungen der Mitglied‧staaten gegenüber der Kommission und vor allem die in Stufe 4 zu berücksichtigenden Kriterien werden nunmehr in der Richtlinie gesetzlich festgeschrieben. Im Vergleich zum Entwurf der Kommission sind die Formulierungen in dem betreffenden Artikel der Richtlinie zwar geändert, in der Sache bleibt es aber bei der Anforderung von objektiven Feststellungen. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist – so die Beratung im Rat – „unter Berücksichtigung objektiver Feststellungen objektiv und unabhängig durchzuführen“. Was mit „objektiv“ gemeint ist, müsste näher definiert werden. Es könnte auf eine Bringpflicht wissenschaftlicher Studien der Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission hinauslaufen. Im Erwägungsgrund 9 ist von einer Nachweispflicht der Mitgliedstaaten zur Stützung ihrer Argumente die Rede. Andersherum wird die Kommission zum Beleg ihrer Vorstellungen die bisherigen Studien vorlegen.

Gibt es EU-Mitgliedstaaten, die ein ähnliches System im Gesundheits‧wesen aufweisen wie das in Deutschland?

Alle Mitgliedstaaten weisen soziale Sicherungssysteme auf, die die Gesundheitsversorgung mit sicherstellen. Sie unterscheiden sich bei der Finanzierung und zum Teil auch in der einzelnen Ausgestaltung. Die Regu‧lierung der Gesundheitsberufe sollte diese Verbindung – auch wenn es nicht um das Sozialrecht geht – wegen der Folgen für diese Systeme, die mittelbar betroffen sein können, mitbedenken.

Im Berufsrecht lassen sich bei den klas‧sischen Heilberufen des Zahnarztes und des Arztes drei Typen von Ländern unterscheiden: diejenigen, die ausschließlich unmittelbar staatlich – also nicht durch Councils oder Kammern – den Beruf regulieren. Das sind die skandinavischen Länder, aber auch die Niederlande oder Estland und Lettland. Dann gibt es – dies ist vor allem in Mittel- und Zentraleuropa so – Staaten, die ein Kammersystem aufweisen, wie Deutschland, Österreich, Slowenien, Polen, Kroatien, Portugal und Spanien. Diese Kammern haben ein Regulierungsrecht. Zuletzt gibt es einige wenige Mitgliedstaaten, die Councils im Bereich der Heilberufe eingerichtet haben. Dazu zählen das Vereinigte Königreich mit seinen Landesteilen, Malta und Zypern. Allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist, dass die Gesundheitsberufe zusammen mit den Sozialberufen nach Angaben der Datenbank der reglementierten Berufe der EU zwischen ungefähr 26 Prozent und 77 Prozent der reglementierten Berufe stellen. Sie sind also EU-weit von Bedeutung.

Sie haben beim Europatag der Bundeszahnärztekammer in Brüssel harsche Kritik am Prozedere der EU-Kommission bezüglich der Verhältnismäßigkeitsprüfung geübt. Was läuft falsch?

Die Enttäuschung der Kommission über die Ergebnisse der Verhältnismäßigkeitsprüfung der vergangenen Jahre ist verständlich, zum Teil aber auch hausgemacht. Ein Grund für die uneinheitliche Prüfung könnte in der Befragung der Mitgliedstaaten durch die Kommission liegen. Der Fragebogen, der hier zum Einsatz kam, entspricht nicht dem internationalen Methodenstandard für Befragungen, der der Kommission durch Experten des Eurobarometers an sich zur Verfügung steht. Vermutlich kam man dazu nicht zusammen. Anders ist die Konstruktion des Fragebogens für mich derzeit nicht erklärbar. In der Umfrageforschung gilt: Die Qualität der Ergebnisse einer Befragung hängt von mehreren Faktoren ab. Ganz zentral ist dabei die Qualität des Fragebogens. Die Antworten auf die Fragen sind also nur so gut (und einheitlich), wie der Fragebogen ist. Hier ist viel Luft nach oben. 

Sie fürchten, das Einbeziehen der Heilberufe ins Dienstleistungspaket führe zu einem Rechtsschaden und zu einem „Gesundheitsschaden“ mit Folgekosten für das Sozialsystem. Können Sie das erläutern?

Die Gesundheitsberufe – und nur dies habe ich versucht deutlich zu machen – dienen einem besonderen Rechtsgut, das sich in verschiedener Hinsicht von anderen Rechtsgütern wie dem Straßenbau, der Steuer‧beratung oder einer Tätigkeit im Immobilienbereich unterscheidet. Die aufgezählten Tätigkeiten fallen je nach Regulierung in den verschiedenen Mitgliedstaaten genauso wie die Heilberufe unter die Richtlinie. Einen Beratungsschaden etwa können Sie durch Geld kompensieren. Je nachdem, welcher Schaden der Gesundheit zugeführt wird, kann keine Zahlung – sei die Summe noch so hoch – diesen Schaden wiedergutmachen. Auch eine Versicherung kann hier nicht weiterhelfen. Hinzukommt, dass in allen europäischen Staaten die Regulierung der Heilberufe und die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung eng mit den je‧weiligen Systemen der sozialen Sicherung verknüpft sind. Gesundheitsschäden durch eine unsachgemäße Regulierung können Folgekosten für die Sozialsysteme auslösen, wenn dort Behandlungsansprüche bestehen. Diese Verknüpfung besteht ansonsten bei keiner anderen Berufsgruppe als bei den Heilberufen. Daher können die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien zum Abbau von Regulierungen und deren Folgen zu anderen reglementierten Berufen nicht auf die Heilberufe übertragen werden. 

Prof. Dr. Anne Schäfer

Vita

Prof. Dr. Anne Schäfer ist Professorin für Sozial- und Gesundheitsrecht an der Hochschule Fulda und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Europäischen Zentrum für Freie Berufe der Universität zu Köln (EuZFB), Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht. Sie ist Rechtsanwältin in internationaler und in in medizinrechtlicher Sozietät.

Ihre Lehrgebiete umfassen Gesundheits- und Sozialrecht, Staatsorganisationsrecht, Grundrechte, Verfassungsprozessrecht, Allgemeines und besonderes Verwaltungsrecht. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gesundheitsrecht einschließlich Sozialrecht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht einschließlich Recht der Freien Berufe und Empirische Rechtstatsachenforschung.

Das Interview führte Anita Wuttke.

Anita Wuttke

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