Wegbereiter der Zahnheilkunde - Teil 1

Carl Sauer – Widersacher der Dentisten

Heftarchiv Gesellschaft
Dominik Groß
Sauer kämpfte in seinen Funktionen als Standespolitiker und Wissenschaftler im 19. Jahrhundert gegen die nichtapprobierte Konkurrenz. Zudem setzte er sich für bessere zahnärztliche Ausbildungsstandards und eine sukzessive Annäherung an den akademischen Arztberuf ein. Schließlich wurde nach ihm ein Drahtschienenverband benannt, den er entwickelt hat.

Sauer (* 12. Mai 1835 in Berlin) war der Sohn eines Musikers und Lehrers an der Berliner Königlichen Musikschule [Parreidt, 1909; Holzhauer, 1962; Maretzky/Venter, 1974; Tiburczy, 1982; Meyer, 1997; Marz/Zuhrt, 1992]. Da der Vater um 1838 verstarb, geriet die Familie in finanzielle Nöte. Dennoch konnte Sauer die Oberrealschule besuchen und nach der Obersekunda abschließen [Holzhauer, 1962]. Danach absolvierte er eine zahntechnische Lehre. Seine Lehrmeister waren der Berliner Zahnarzt Karl Hans Hesse und dessen Bruder Julius, die ihre Fachkenntnisse beide bei ihrem Vater, dem renommierten „Hof- und practischen Zahnarzt“ Johann Friedrich Wilhelm Hesse (1782–1832), erworben hatten – dem ersten Privatdozenten für Zahnheilkunde an der Berliner Universität.

Anschließend arbeitete Sauer bei dem Berliner Zahnarzt und Hofrat Friedrich Wilhelm Süersen (1827–1919), der zu den Behandlern von König (beziehungsweise Kaiser) Wilhelm I. (1797–1888) gehörte. Zudem kam Sauer in Kontakt mit dem Berliner Arzt und Zahnarzt Eduard Albrecht (1823–1883). Der konnte sich 1858 an der Universität Berlin für das Fach Zahnheilkunde habilitieren, blieb aber neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität auch in eigener zahnärztlicher Praxis tätig [Parreidt, 1909; Holzhauer, 1962; Maretzky/Venter, 1974; Meyer, 1997].

Es darf als sicher angenommen werden, dass Sauer durch dieses fachkundige berufliche Umfeld motiviert wurde, das Studium der Zahnheilkunde aufzunehmen – eine Ausbildung, die damals noch nicht an den Nachweis der Reifeprüfung gebunden war und somit auch „immaturen“ Studierenden offen stand. 1859 – im Alter von bereits 24 Jahren – begann Sauer mit der zahnärztlichen Ausbildung. Nach zwei Jahren erhielt er seine Approbation als Zahnarzt [Tiburczy, 1982]. Er trat zunächst eine Assistentenstelle bei Julius Hesse an und ging dann für kurze Zeit nach Greifswald, bevor er für eine Assistentenstelle bei Eduard Albrecht nach Berlin zurückkehrte [Holzhauer, 1962].

Schließlich eröffnete Sauer eine eigene Praxis, die ihm finanzielle und fachliche Unabhängigkeit gewährte. Daneben fungierte er noch eine Zeit lang als Assistent von Eduard Albrecht und als Konsiliarius bei Bernhard Rudolph Conrad von Langenbeck (1810–1887) in der Chirurgischen Universitätsklinik. Die verschiedenen Tätigkeitsbereiche und die vielfältigen, hierbei gewonnenen Eindrücke boten eine ideale Grundlage für zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen [Marz/Zuhrt, 1992; Meyer, 1997].

Darüber hinaus erwachte Sauers Interesse an der zahnärztlichen Standespolitik. Spätestens seit den 1870er-Jahren trat er durch umfangreiche Aktivitäten im „Central-Verein Deutscher Zahnärzte“ (CVdZ) hervor, die unter anderem auf eine Verbesserung der zahnärztlichen Ausbildungssituation zielten. Tatsächlich fassten die zuständigen preußischen Behörden zu Beginn der 1880er-Jahre den Beschluss, an der Berliner Universität ein zahnärztliches Institut zu gründen. Als der designierte Institutsdirektor Eduard Albrecht am 25. Januar 1883 überraschend verstarb [Holzhauer, 1962], setzte sich der CVdZ für Carl Sauer als künftigen Institutsleiter ein. Sauer war zu diesem Zeitpunkt designierter 3. Vorsitzender des Vereins. Allerdings favorisierte der preußische Kultusminister Gustav von Goßler den Chirurgen Friedrich Busch (1844–1916) als künftigen Direktor. Goßler entschied sich 1884 endgültig für Busch, der fortan dem am 20. Oktober 1884 gegründeten neuen Institut in der Dorotheenstraße 40 vorstand, während der enttäuschte Sauer (zusammen mit den Zahnärzten Willoughby Dayton Miller und Johann Friedrich August Paetsch) als Stellvertreter von Busch fungieren sollte [Meyer, 1997]. Sauer war – als Titularprofessor – vornehmlich für den Bereich zahnärztliche Prothetik zuständig, wobei er den prothetischen Unterricht aus Platzmangel im Wesentlichen in seiner eigenen Praxis abhalten musste. Die organisierte Zahnärzteschaft sah in der Berufung des Nicht-Zahnarztes Busch zum Leiter eines zahnärztlichen Instituts einen Affront. Entsprechend solidarisch verhielt sich der CVdZ gegenüber Sauer: Tatsächlich wurde dieser 1885 zum neuen Vorsitzenden des Vereins gewählt [Groß/Schäfer, 2009].

Der Kampf gegen die Kurpfuscher

In der Folgezeit spitzten sich die Querelen zwischen Busch und Sauer so stark zu, dass Sauer zum 1. September 1888 seine Stellung an der Berliner Universität aufkündigte. 1889 legte er zudem auch den Vorsitz im Central-Verein nieder. Ob die Amtsniederlegung der Enttäuschung über sein glückloses Wirken als Hochschullehrer oder einer Erkrankung geschuldet war, wird in der Literatur unterschiedlich referiert [Parreidt, 1909; Maretzky/Venter, 1974; Meyer, 1997]. Parreidt gibt jedenfalls an, Sauer habe von seinem Amt leider „aus Gesundheitsrücksichten bereits 1889 wieder zurücktreten“ müssen [Parreidt,1909, S. 119]. Tatsächlich starb Sauer nur wenige Jahre später – am 17. März 1892 – im Alter von knapp 57 Jahren in Berlin.

Sauer regte im CVdZ frühzeitig eine zahnärztliche Petition an, um gegen die 1871 im Deutschen Reich eingeführte Kurierfreiheit vorzugehen [Parreidt, 1909; Maretzky/Venter, 1974; Groß, 1994; Meyer, 1997; Groß/Schäfer, 2009]. Noch in den 1870er-Jahren setzte er eine Bittschrift auf, die gegen das zahnärztliche „Kurpfuschertum“ gerichtet war. Darin forderte er im Namen des CVdZ ein Gesetz, das die „Kurierfreiheit“ wieder aufheben sollte. Zudem schlug er vor, alle Nichtapprobierten zur Abgrenzung gegenüber den Zahnärzten auf die Bezeichnung „Zahnarbeiter“ zu beschränken. Diese und weitere Überlegungen legte er 1878 in dem viel beachteten Artikel „Die Gewerbefreiheit auf sanitätspolizeilichem Gebiete, mit besonderer Berücksichtigung der Zahnheilkunde“ in der „Deutschen Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde“ nieder [Sauer, 1878]. Auch auf der Jahrestagung des CVdZ 1878 in Coburg spielte die „Nichtapprobiertenfrage“ eine große Rolle. Dort wurde der Beschluss gefasst, statistische Informationen zur Anzahl und zu den Berufsbezeichnungen und Tätigkeitsprofilen der Nichtapprobierten zu erheben. Im darauffolgenden Jahr referierte Sauer die Ergebnisse: Demnach waren im Deutschen Reich nur 438 Zahnärzte, aber 735 nichtapprobierte Zahnbehandler nachweislich, die sich vielfach zahnarztähnliche Berufsbezeichnungen angeeignet hatten (etwa Zahnartist, Zahnoperateur, Spezialist für Zahnheilkunde), um so den fachlichen Unterschied zu den Zahnärzten zu kaschieren [Groß, 1994; Parreidt, 1909]. Als Gegenmaßnahme schlug Sauer dem CVdZ die Gründung einer Zeitschrift vor, die speziellberufspolitisch virulenten Fragen Raum geben sollte [Maretzky/Venter, 1974; Groß, 1994]. Sauer erhielt daraufhin den Auftrag, die Nichtapprobiertenfrage weiterzuverfolgen. Am 28. Februar 1880 richtete er eine neuerliche Petition an den Staatsminister. Sie blieb jedoch ebenso wie eine weitere, nunmehr an den Reichstag adressierte Petition aus dem Jahr 1882 ohne Erfolg. Unterdessen gingen immer mehr Nichtapprobierte dazu über, sich „Dentist“ zu nennen. Letztlich wurde die „Nichtapprobiertenfrage“ erst 1952 einer Lösung zugeführt: Mit dem „Gesetz über die Ausbildung der Zahnheilkunde“ [Groß, 2006, S. 114] wurde das Ende des Dentistenberufs besiegelt.

Eng verwoben mit dem Kampf gegen die nichtapprobierte Konkurrenz war Sauers Einsatz für eine Verbesserung der zahnärztlichen Ausbildungsstandards und für eine sukzessive Annäherung an den akademischen Arztberuf [Parreidt, 1909; Maretzky/Venter, 1974; Groß, 1994; Groß/Schäfer, 2009]. So kündigte Sauer bereits 1877 auf der Jahresversammlung des Central-Vereins Initiativen zur Gründung eines zahnärztlichen Instituts in Berlin an. Im Folgejahr präsentierte er bereits einen Studienplanentwurf für künftige Studierende der Zahnheilkunde. Dieser sah ein mindestens fünfsemestriges Studium mit einer intensivierten prothetischen Ausbildung vor. In den 1880er-Jahren gehörte die Verbesserung der zahnärztlichen Ausbildung zu den zentralen standespolitischen Zielen Sauers, der als erster deutscher Titularprofessor für das Fach Prothetik gelten kann [Tiburczy, 1982; Bernau, 1986].

Bilanz: Trotz diverser standespolitischer Niederlagen trat Sauer als früher Wegbereiter einer verbesserten zahnärztlichen Ausbildung und als „Aktivist“ in der „Nichtapprobierten-“beziehungsweise „Dentistenfrage“ hervor. Für seine Beharrlichkeit zeichnete der Central-Verein Sauer 1890 mit der „Goldenen Medaille“ aus [Groß/Schäfer, 2009].

Die Rettung des Kiefers

Ähnlich bemerkenswert waren Sauers Beiträge zur fachlich-wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Zahnheilkunde. Bereits als junger Zahnarzt beschäftigte er sich mit den Wirkweisen und Einsatzbereichen von  Wasserstoffperoxyd, Lachgas und Aluminium.

Insbesondere dem Aluminiumguss galt sein frühes Augenmerk. Noch bedeutsamer waren Sauers Arbeiten zur Entwicklung saugfähiger und kostengünstiger Kautschukprothesen, die er zu Beginn der 1860er-Jahre auf Anregung seines Lehrmeisters Süersen betrieb. Bis dahin galt Kautschuk aufgrund der bestehenden Patentrechte als kaum erschwingliches Material. Sauer und Süersen gelang in dieser Zeit die Entwicklung einer preiswerten und praxistauglichen Kautschukvariante, die in der deutschen Prothetik für Aufsehen sorgte und rasch Verbreitung fand [Holzhauer, 1962; Meyer, 1997]. Die größte Bedeutung erzielte Sauer allerdings – retrospektiv betrachtet – im Bereich der (zahnärztlichen) Chirurgie. Er war nicht nur an der Entwicklung von Resektionsverbänden und (Gaumen-)Obturatoren beteiligt [Parreidt, 1909], sondern ging auch als Namensgeber einer Kieferbruchschiene in die Medizingeschichte ein. So entwickelte er im Verlauf der 1880er-Jahre einen „Notverband“ aus Draht [Sauer, 1889], der an den (verbliebenen) Unterkieferzähnen befestigt wurde und etwaige Defekte bogenförmig überspannte. Der in mehreren Publikationen vorgestellte „Drahtschienenverband nach Sauer“ wurde zur Grundlage der modernen Kieferfrakturtherapie und kommt (in vielfach modifizierter Form) noch heute bei Kieferbrüchen und -defekten zum Einsatz.

Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß

RWTH Aachen University, Medical School,
MTI II
Wendlingweg 2, 52074 Aachen

Literaturliste

Ruth Bernau, Beiträge der Berliner Stomatologie zur Wissenschaftsentwicklung in der Prothetischen Stomatologie, in: 100 Jahre Stomatologie an der Berliner Universität (= Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin, 14), Berlin 1986, S. 55-66

Dominik Groß, Die schwierige Professionalisierung der deutschen Zahnärzteschaft (1867- 1919), Frankfurt/Main 1994

Dominik Groß, Vom „Gebißarbeiter“ zum staatlich geprüften Dentisten: Der Berufsbildungsprozess der nichtapprobierten Zahnbehandler (1869-1952), in: Dominik Groß (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte und Ethik der Zahnheilkunde, Würzburg 2006, S. 99-125

Dominik Groß und Gereon Schäfer, Geschichte der DGZMK 1859-2009, Berlin 2009

Wilhelm Holzhauer, Wegbereiter deutscher Zahnheilkunde. Bedeutende Zahnärzte des 19. Jahrhunderts, Köln 1962, S. 46-57 u. S. 76-77

Kurt Maretzky und Robert Venter, Geschichte des deutschen Zahnärzte-Standes, Köln 1974, S. 54-62

Ilona Marz und Rainer Zuhrt, Prof. Carl Sauer zum 100. Todestag, Charité-Annalen NF 12 (1992), S. 247-248

Bernhard Meyer, Zahnarzt und Standesvertreter von höchstem Rang: Carl Sauer (1835- 1892), Berlinische Monatsschrift H. 3 (1997), S. 85-90, www.luiseberlin.de/bms/bmstxt97/9703pord.htm [10.02.2017]

Julius Parreidt, Geschichte des Central-Vereins Deutscher Zahnärzte. 1859 – 1909, Berlin 1909, S. 44-119

Carl Sauer, Die Gewerbefreiheit auf sanitätspolizeilichem Gebiete, mit besonderer Berücksichtigung der Zahnheilkunde, Deutsche Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde 18 (1878), S. 141-148

Carl Sauer, Nothverband bei Kieferbrüchen aus Eisendraht, Deutsche Monatsschrift für Zahnheilkunde 7 (1889), S. 381-392

Friedhelm Tiburczy, Carl Sauer (1835-1892) und seine Bedeutung für die Zahnheilkunde, Diss. med., Berlin 1982

Dominik Groß

Univ.-Prof. Dr. med. dent. Dr. med. Dr. phil. Dominik Groß

Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Vorsitzender des Klinischen
Ethik-Komitees des UK Aachen
Universitätsklinikum der
RWTH Aachen University MTI 2
Wendlingweg 2, 52074 Aachen

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