Denken in Zusammenhängen verbessern
Ihr Projekt hat den Zuschlag für eine Förderung aus dem Innovationsfonds erhalten. Warum gerade dieses Thema – und wo liegen die Bedarfe in der Versorgung?
Prof. Dr. Dr. Stefan Listl: Mit Dent@Prevent wollen wir ein innovatives Konzept zur besseren Verzahnung der allgemeinmedizinischen mit der zahnmedizinischen Versorgung entwickeln. Die Grenzen bei der intersektoralen Versorgung sind ja bereits seit vielen Jahren sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesundheitspolitik ein Thema. Auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Komplexität von Informations- und Wissensmengen, der zunehmenden Verfügbarkeit versorgungsrelevanter Daten, ich denke da beispielsweise an Routinedaten der Krankversicherer, sowie der zunehmend patientenzentrierten Versorgung stellt sich die Frage: Wie finden wir geeignete Strategien und Methoden zur nachhaltigen Intensivierung der intersektoralen Versorgung? Genau hier setzt unser Projekt an.
Wie sieht das Projekt genau aus und welche Hauptzielrichtung hat es?
Unser Projekt will einen methodischen Beitrag für eine verbesserte Qualität und Ressourcenallokation in der Versorgung von Patienten mit zahnmedizinischen und chronischen Erkrankungen leisten. Hauptziel ist ein Modell für ein EDV-basiertes, interdisziplinäres (zahn-)ärztliches Entscheidungsunterstützungssystem, das auf wissenschaftlicher Evidenz sowie auf Patientenangaben beruht. Es soll im Rahmen des Projekts auf seine Machbarkeit erprobt werden. Wir wollen damit Antworten auf folgende Fragen finden:
Lassen sich in der Literatur und mittels anonymisierter Routinedaten statistische Zusammenhänge zwischen zahnmedizinischen und chronischen Erkrankungen verifizieren und präzisieren?
Lassen sich durch eine mobile Smartphone-App verlässliche Informationen erheben, wie Patienten mit chronischen Erkrankungen ihren Zahn- und ihren allgemeinen Gesundheitszustand bewerten?
Ist ein elektronisches Entscheidungsunterstützungssystem zum Einsatz in der Arzt- und Zahnarztpraxis realisierbar, das Informationen aus Routinedaten, von Patienten selbst berichtete Informationen sowie aus bester verfügbarer wissenschaftlicher Evidenz integriert?
Wie lassen sich Zusammenhänge zwischen zahnmedizinischen und chronischen Erkrankungen darstellen und wie wollen Sie damit die Praxiswirksamkeit gewährleisten?
Der Schwerpunkt unseres Vorhabens liegt auf der Identifikation von Kausalzusammenhängen. Dazu wollen wir anonymisierte Routinedaten von gesetzlichen Krankenkassen auswerten. Da GKV-Routinedaten bislang keine klinischen Diagnosen für zahnmedizinische Erkrankungen enthalten, zielen unsere im Projekt geplanten Routinedatenanalysen vorwiegend darauf ab, Zusammenhänge zwischen zahnmedizinischen Interventionen und chronischen Erkrankungen (Diagnosen aus Routinedaten) zu identifizieren. Beispielsweise interessiert uns der Zusammenhang zwischen der Behandlung parodontaler Erkrankungen und Diabetes.
Dent@Prevent im Überblick
Mit dem Projekt Dent@Prevent wollen die Forscher GKV-Routinedaten und patientenzentrierte Parameter (Patient Reported Outcome Measures, PROMs) in die evidenzinformierte intersektorale (zahn-)medizinische Versorgung implementieren, um Qualität und Ressourcenallokation bei der Versorgung von Patienten mit zahnmedizinischen und allgemeinmedizinischen chronischen Erkrankungen zu verbessern.
Inhalte sind:
eine Präzisierung der Zusammenhänge zwischen zahnmedizinischen und allgemeinen Erkrankungen,
die Entwicklung einer Smartphone-App zur Erhebung patientenzentrierter Outcomes und
die Entwicklung eines Decision Support System (DSS) zum Einsatz in der Praxissoftware mit dem Ziel, den Arzt beziehungsweise Zahnarzt bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen.
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Die Ergebnisse unserer Analysen sollen nicht nur zu einer stärkeren Sensibilisierung von Zahnärzten für die Relevanz chronisch-systemischer Erkrankungen führen. Sie sollen umgekehrt auch Humanmediziner für Fragen der Mundgesundheit sensibilisieren.
Die Routinedatenanalysen sollen nicht zuletzt auch als wesentliche Informationsgrundlage für die Entwicklung des Entscheidungsunterstützungssystems und der Smartphone-App dienen. Dabei wollen wir eng mit den relevanten Endanwender-Gruppen zusammenarbeiten – also: mit Patienten, Ärzten und Zahnärzten.
Welche Arten von Daten soll der Patient mit der Smartphone-App erheben – und wie verlässlich sind diese Informationen für den Zahnarzt?
Die App soll patientenzentrierte Parameter (Patient Reported Outcome Measures, PROMs) erheben, die im Zusammenhang mit chronisch-systemischen und zahnmedizinischen Erkrankungen relevant sind. Zum Beispiel könnten derartige Informationen dem Allgemeinarzt Hinweise auf das mögliche Vorliegen einer Zahnfleischerkrankung liefern und so zu einer entsprechenden Zusammenarbeit mit einem Zahnarzt motivieren. Durch die App sollen Informationen über die Lebensqualität des Patienten sowie dessen Präferenzen abgebildet werden. Das ist neu: Unseres Wissens gibt es bislang noch kein derartiges PROMs-Instrument mit dem Fokus auf Allgemein- und Mundgesundheit.
Unklar ist beispielsweise bisher noch, inwieweit solche subjektiven Informationen für Allgemeinmediziner relevant sein könnten, damit sie frühzeitig die Notwendigkeit für eine Überweisung in eine Zahnarztpraxis erkennen können. Deshalb wollen wir mit dem Projekt Dent@Prevent untersuchen, inwieweit durch eine App überhaupt verlässliche Informationen über den Patienten erhoben werden können.
Sie planen, ein sogenanntes elektronisches Decision Support System (DSS) für die Zahnarztpraxis zu implementieren – können Sie uns das erklären
Ja, natürlich. Wir planen die nutzergestützte Entwicklung eines elektronischen Entscheidungsunterstützungssystems (DSS) als Pilotversion sowie erste Simulationstests durch Patienten und (Zahn-)Ärzte. Es geht uns dabei nicht um die Entwicklung eines fertigen Medizinprodukts zur unmittelbaren Anwendung in der Zahnarztpraxis. Vielmehr wollen wir einen Prototypen für ein Entscheidungsunterstützungssystem so entwickeln, dass es den Anforderungen im Praxisalltag auch wirklich gerecht werden kann. Sämtliche Entwicklungsschritte erfolgen daher in enger Zusammenarbeit mit den Endanwendern, also Patienten, Ärzten und Zahnärzten.
Wie hilft all das dem Zahnarzt, der Patienten mit Zahn- und Allgemeinerkrankungen im Praxisalltag versorgen will? Können Sie Beispiele nennen?
Ziel des DSS ist zum einen, dem Hausarzt eines Patienten, der an einer chronisch-systemischen Erkrankung leidet, Hinweise auf mögliche Zusammenhänge mit oralen Erkrankungen zu geben. Zum anderen soll das DSS dem Zahnarzt unterstützende Informationen über chronisch-systemische Erkrankungen liefern, die für die Behandlung eines Patienten relevant sind. Die Identifikation und Präzisierung praxisrelevanter Anwendungsbereiche ist elementarer Bestandteil des Projekts und erfolgt in enger Zusammenarbeit mit Zahnärzten, Allgemeinärzten, Fachgesellschaften und Patienten. Dazu gehören etwa das rechtzeitige Einleiten (zahn-)medizinischer Überweisungen, Reminder bezüglich Kontrolluntersuchungen und Hinweise auf der Grundlage (zahn-) medizinischer Richtlinien sowie mögliche Kontraindikationen im Rahmen von Eingriffen bei Patienten mit chronisch-systemischen und zahnmedizinischen Erkrankungen.
Wie sieht die wissenschaftliche Begleitung des Projekts aus, mit wem kooperieren Sie und wie hoch ist die Fördersumme?
Die Durchführung des Projekts erfolgt in Zusammenarbeit zwischen dem Universitätsklinikum Heidelberg (Poliklinik für Zahnerhaltungskunde; Institut für Medizinische Biometrie und Informatik), der Universität zu Köln (PMV Forschungsgruppe; Institut für Medizinische Statistik, Informatik und Epidemiologie), der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg (Institut für Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie), der InGef – Institut für angewandte Gesundheitsforschung Berlin GmbH, der Akademie für Zahnärztliche Fortbildung Karlsruhe, der Leitliniengruppe Hessen und dem BKK Arztnetz Rhein-Main. Die für das Projekt bewilligte Fördersumme aus dem Innovationsfonds beträgt circa 850.000 Euro.
Wie lassen sich diese Erkenntnisse in den Versorgungsalltag integrieren?
Die Integration von Dent@Prevent in den Versorgungsalltag wird insbesondere unterstützt durch
eine enge Zusammenarbeit mit den relevanten Endanwender-Gruppen (Zahnärzte, Ärzte, Patienten) bei der Entwicklung der mobilen App und des Entscheidungsunterstützungssystems,
eine frühzeitige Information relevanter Stakeholder und Einladungen zu den Konsortiumstreffen (unter anderem Patientenorganisationen, Vertreter aus DKG, KBV/KZBV, BÄK/BZÄK, GKV-Spitzenverband, wissenschaftliche Fachgesellschaften, Praxissoftware-Hersteller) und
die Bereitstellung von im Projekt entwickelten Softwarekomponenten als Open-Source-Lösungen.
Können Sie etwas zur Kosten-Nutzen-Relation des Projekts sagen?
Dent@Prevent zielt auf eine verbesserte Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit mit der Vermeidung von Unter-, Über- und Fehlversorgung ab. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung eines neuen Modells, das die intersektorale Versorgung unter Verwendung moderner Informationstechnologien fördert. Dent@Prevent will ein exemplarisches Konzept etablieren, das auch auf andere Versorgungsbereiche übertragbar sein soll – beispielsweise hinsichtlich der Vernetzung von ambulanter und stationärer Versorgung. Die Investition in dieses Projekt scheint auch aus Sicht des G-BA-Innovationsfonds lohnenswert zu sein.
Das Projekt aus Greifswald
Bisher erhalten zwei zahnmedizinische Projekte Gelder aus dem Innovationsfonds. Zusage für eine Förderung bekam neben Dent@prevent als erstes das Greifswalder Konzept „Unterstützende Intensivprophylaxe für Kinder mit zahnärztlicher Sanierung unter Narkose“ von Prof. Christian Splieth. Wie sinnvoll die ergänzende zahnärztliche Prophylaxe für Kinder ist, die eine zahnärztliche Narkosesanierung erhalten, erläutert er in der zm 4 im Interview.
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