Zahnarzt testet Sprechstunde online
Der nächste Patient wartet schon. Zahnarzt Dr. Jochen Deppe aus Gütersloh wirft einen letzten Blick in die Patientenakte. Dann bittet er seinen Patienten „herein“ und dieser „betritt“ – den Monitor. Denn die nun folgende Beratung verläuft online per VideoSprechstunde. „Grundsätzlich ist es wie bei jeder Sprechstunde“, sagt Deppe. „Der Patient wartet in einem virtuellen Wartezimmer. Wenn wir beide anwesend sind, kann die Sprechstunde beginnen. Der weitere Ablauf ist wie bei einem Chat über Skype.“ Wichtig sei, dass der Chat genauso konzentriert und ungestört stattfindet wie die Unterredung im Sprechzimmer. „Ich befrage den Patienten zu seinem Befinden, ob er Fragen zum Ablauf der Behandlung hat oder irgendetwas seiner Ansicht nach nicht in Ordnung ist. Bejaht er dies, muss er natürlich kommen“, erklärt Deppe.
Knapp die Hälfte aller Mediziner kann sich vorstellen, Video-Sprechstunden mit Patienten abzuhalten. Dies geht aus der neuesten Studie der Stiftung Gesundheit hervor, die deutschlandweit rund 10.000 Ärzte, Zahnärzte und Psychologen zur Digitalisierung des Arztberufs befragte. Während im Vorjahr nur rund ein Drittel der Video-Sprechstunde gegenüber aufgeschlossen war, ist es nun mit 47 Prozent knapp die Hälfte.
Deppe ist seit einem Jahr dabei. Der 53- Jährige sitzt in seinem Büro, vor sich den Laptop – und seinen heutigen Patienten, mit dem er dank Mikrofon und Kamera einfach kommunizieren kann. Als Plattform dient ihm das Online-Portal Patientus – der führende Anbieter für Online-Videosprechstunden in Deutschland.
Sprechstunde per Webcam
Patientus bietet eine Software an, mit der Ärzte und Patienten per Webcam miteinander sprechen können. Für den Dienst zahlen Ärzte 29 Euro im Monat – bei einer Mindestlaufzeit von zwölf Monaten. Den Premiumservice mit einer monatlichen Kündigungsfrist gibt es für 59 Euro im Monat. Die Patienten nutzen den Service von Patientus kostenfrei – sie tragen bislang das Beratungshonorar, das die Mediziner festlegen. Registriert sind laut Dr. Felix Schirmann, Leiter für Unternehmensentwicklung und operatives Geschäft bei Patientus, „mehrere hundert Zahnärzte und Ärzte“. Aktuell findet man auf der Website allerdings lediglich vier registrierte Zahnärzte.
Die Abläufe für einen Termin sind vergleichbar mit einer „normalen“ Sprechstunde in der Praxis, erklärt Deppe: „Für die VideoSprechstunde vergeben wir einen Termin und einen sechsstelligen Code, mit dem sich der Patient bei Patientus einloggen kann.“ Dafür muss keine eigene Software installiert werden, der Patient meldet sich über seinen Browser direkt auf der Website an – dann erscheint auf Deppes Praxis-PC der Schriftzug „Patient wartet im Wartezimmer“. Und die Video-Sprechstunde kann beginnen.
„Das übliche Szenario für uns ist eine Nachkontrolle nach einer umfangreicheren Behandlung am Vortag“, führt Deppe aus. Ein anderes Szenario ist die Diskussion von Röntgenbefunden oder implantologischen und prothetischen Planungen, „aber nur mit Patienten, die wir kennen!“, betont der Zahnarzt. „Die Beratung mir unbekannter Patienten finde ich schwierig. Es ist eben keine Untersuchung möglich und auch das Kennenlernen – entscheidend für die Etablierung einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Patient und Arzt – ist völlig anders.“
So sieht es auch der Gesetzgeber. In Deutschland ist die ausschließliche Fernbehandlung bisher verboten. Im E-Health-Gesetz ist festgehalten, dass es sich bei der Videosprechstunde um eine „telemedizinisch gestützte Betreuung von Patienten handelt, mit der eine wiederholte persönliche Vorstellung in der Praxis ersetzt werden kann“. Die Konsultation per Video darf nicht den persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt ersetzen, sondern nur bei einer bereits begonnenen Behandlung ergänzend eingesetzt werden. Das heißt, nur wenn der Arzt den Patienten schon einmal persönlich gesehen hat, darf er ihn online oder telefonisch weiter betreuen. In der Zahnmedizin gibt es zudem technische Grenzen: Über die Computerkamera in den Mund zu schauen und so eine Ferndiagnose zu stellen kommt nicht infrage. „Intraorale Untersuchungen sind rein technisch gar nicht möglich“, sagt auch Deppe, „lediglich normale Konversationen von Angesicht zu Angesicht.“
Dennoch liegen für Deppe die Vorteile der Video-Sprechstunde auf der Hand: „Wir bieten zum Beispiel für die Nachsorge unseren Patienten an, entweder in der Praxis zu erscheinen, oder machen einen Termin für ein Nachfragen per Video. Bei der Video-Sprechstunde spart sich der Patient natürlich die Anfahrtszeit. Und in der Praxis entfällt die hygienische Auf- und Nachbereitung des Sprechzimmers.“
Online-Beratung wird Kassenleistung
Aber rechnet sich die Video-Sprechstunde auch? Im E-Health-Gesetz war vorgesehen, dass Video-Sprechstunden ab dem 1. Juli 2017 Kassenleistung werden. Jetzt haben sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der GKV-Spitzenverband aber vorzeitig über die Honorierung geeinigt, so dass die Video-Sprechstunde schon ab April als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden kann.
Die Vergütung besteht dabei aus zwei Komponenten: Für jede Video-Sprechstunde gibt es einen Technikzuschlag von 4,21 Euro. Die Anzahl ist pro Quartal und Arzt auf 47,5 Kontakte gedeckelt – laut KBV sind aber vermutlich bei zwei Video-Sprechstunden pro Woche die Kosten gedeckt.
Zusätzlich zum Technikzuschlag soll die Honorierung einer Video-Sprechstunde bei 88 Punkten liegen. Dies entspricht einem Erlös von 9,27 Euro. Voraussetzung ist, dass der Patient in den vorangegangenen zwei Quartalen mindestens einmal in der Praxis persönlich vorstellig geworden ist und die Verlaufskontrolle durch dieselbe Praxis erfolgt wie die Erstbegutachtung. Beide Leistungen sind jedoch zunächst auf sechs Indikationen begrenzt. Dazu zählen die Verlaufskontrolle von Operationswunden, Bewegungseinschränkungen und -störungen des Stütz- und Bewegungsapparats sowie die Kontrolle von Dermatosen. Eine Erweiterung des Leistungsspektrums ist vorgesehen.
Der Bundesverband Internetmedizin e. V. kritisiert die geplante Honorierung. „Eine Technikpauschale in der Höhe wird niemanden motivieren, sich der Sache zuzuwenden“, sagt Sebastian Vorberg, Fachanwalt für Medizinrecht und Vorstandssprecher des Bundesverbandes Internetmedizin. Außerdem setze dies an der falschen Ecke an, sagt Vorberg: „Wir müssen den Arzt motivieren, sich im Internet mehr als nur spontan blicken zu lassen. Der Patient sucht dort Rat, und der ist bisher frei von ärztlicher Qualität. Das Signal einer Technikpauschale ist da ein falsches. Dies ist gerade nicht der Schritt zu einer ausreichend bezahlten OnlineSprechstunde, sondern eher eine Lästigkeitsentschädigung. Motivation kann der Arzt daraus für eine angemessene OnlineSprechstunde sicher nicht ziehen.“
Deppe ist ebenfalls verärgert. Zwar sei eine Onlinesprechstunde in seinem Praxisalltag noch die Ausnahme, doch immerhin komme es mehrmals monatlich vor. „Die Forderung nach einer sprechenden Medizin wird von allen Seiten immer wieder an uns Ärzte herangetragen. Gleichzeitig ermöglicht es die Entwicklung der Medizin 2.0, dass immer mehr und bessere Gesundheitsdaten telemetrisch übertragen und befundet werden können. Die Entwicklung, dass der Arzt seinem Patienten hilft und ihn berät, diese Daten in eine bessere Gesundheit umzusetzen, beginnt eben. Dies betrifft bis auf Weiteres weniger die Zahnmedizin. Dennoch benötige ich für eine Video-Sprechstunde im Schnitt zehn Minuten ungeteilter Aufmerksamkeit. Da ich in dieser Zeit keine andere Behandlung machen kann, sollte das Honorar realistischerweise die unterschiedliche Zeitdauer berücksichtigen und etwa vier Euro pro Minute betragen. Die vorgeschlagene Honorierung ist ein Witz. Keiner, der dies so vergüten will, ist ernsthaft am medizinischen Fortschritt oder an einer besseren Versorgung von Patienten interessiert, die die Video-Sprechstunde wollen oder brauchen.“
Sprechstunde im Netz – wer hört mit?
Dazu kommen die Kosten für die technische Ausstattung. Über die Anforderungen für die Praxis und den Videodienst haben sich KBV und GKV-Spitzenverband bereits im November vergangenen Jahres geeinigt. Ärzte, die die Video-Sprechstunde anbieten wollen, müssen sich laut Vereinbarung eines Videodienstanbieters bedienen. Dieser muss über entsprechende Sicherheitsnachweise verfügen.
So muss zum einen der Klarname des Patienten für den Arzt erkennbar sein, zum anderen die Video-Sprechstunde frei von Werbung sein. Und der Video-Dienstanbieter muss gewährleisten, dass die Video-Sprechstunde während der gesamten Übertragung nach dem Stand der Technik Ende-zu-Ende-verschlüsselt ist.
Deppe hat sich intensiv mit dem Thema Datenschutz für seine Praxis auseinandergesetzt. „In meiner Masterthesis als Prothetiker 2013 habe ich mich mit der Schweigepflicht in Zeiten des Internets beschäftigt“, erklärt Deppe. „Daher weiß ich, dass es eine absolute Sicherheit nie mehr geben wird und dass es eine breite und verantwortungsvolle Diskussion über das Arztgeheimnis heute bräuchte. Soweit ich das überblicken kann, ist sich Patientus der Sensibilität der übertragenen Video-Chats bewusst.“
Der Leiter für Unternehmensentwicklung und operatives Geschäft bei Patientus kann dies nur bestätigen: „Die gesamte Kommunikation ist nicht einsehbar“, versichert Dr. Felix Schirmann, „Patientus bietet den Vorteil der sicheren Peer-to-peer-Übertragung. Wir arbeiten getreu dem Motto ‚Speicher so wenig Daten wie möglich, das ist der beste Datenschutz!‘“ Und: „Auch vor dem Hintergrund der Strafbewehrung der Schweigepflicht ist es wichtig, einen solchen Anbieter zu wählen“, ergänzt Deppe, „deswegen in aller Vorsicht: Ja, bei der Video-Sprechstunde fühle ich mich sicher.“
Die Telemedizin gewinnt zunehmend an Bedeutung. Laut dem Berufsverband der Internetmedizin reagiert die Bundesregierung jedoch nicht umfassend genug. „Ärzte sollten die Möglichkeit haben, im Rahmen einer Video-Sprechstunde Patienten auch zu behandeln“, fordert der Verband. Dazu zähle auch die Möglichkeit, online Rezepte auszustellen. Denn ohne diese Möglichkeit „verkümmert die Video-Sprechstunde zu einer reinen Beratungsinstitution, die nicht zur bedarfsgerechten Versorgung beitragen kann“.
Der Blick auf die europäischen Nachbarn zeigt, wie es funktionieren kann: In der Schweiz werden Telekonsultationen von den Kostenträgern durch Prämienreduzierung aktiv gefördert. Das Schweizer Zentrum für Telemedizin Medgate, einer der europaweit führenden Telemedizinanbieter, erbringt monatlich rund 16.000 Telekonsultationen, die sogar die Verschreibung von Arzneimitteln umfassen. Auch in mehreren skandinavischen Ländern wird die Patientenversorgung in entlegenen Gebieten durch telemedizinische Angebote ergänzt – auch anstelle des persönlichen Arzt-Patienten-Kontakts.
Dennoch: Obwohl die Bundesregierung teilweise noch sehr zögerlich reagiert, boomt auch in Deutschland der Markt für Gesundheitsdienstleistungen. Beispiel Jameda: Deutschlands größtes Arztbewertungsportal startete im Jahr 2007. Seit Ende 2015 gehört das Unternehmen zum Burda-Verlag. Der Kaufpreis wurde in der Branche damals auf 47 Millionen Euro geschätzt, der Jahresumsatz von Jameda auf etwa sechs Millionen. Jameda zählt laut eigenen Angaben monatlich rund 5,5 Millionen Besucher, die auf dem Portal herausfinden wollen, wie andere ihren Arzt bewerten. Arztpraxen können Bilder und Öffnungszeiten einstellen und online Termine vergeben. Und damit nicht genug: Zum Jahreswechsel hat sich Jameda in die Telemedizin eingekauft – und das Berliner Start-up Patientus erworben.
Nun soll das Angebot von Patientus im Lauf des Jahres sukzessive auf jameda.de integriert werden. Patientus wiederum erhält durch die Übernahme neben den finanziellen Mitteln auch den Zugang zu Millionen von Patienten und Tausenden von Ärzten.
Zahnmedizin bleibt Apparatemedizin!
Laut einer Prognose der Unternehmensberatung Roland Berger wird sich der Markt für digitale Gesundheitsanwendungen bis 2020 weltweit auf mehr als 200 Milliarden Dollar verdoppeln. Allein der Bereich Telemedizin soll in dieser Zeit von 14 auf 26 Milliarden Dollar klettern.
Deppe selbst hat ein Faible für die Digitalisierung: „Wir brauchen in der Medizin den Breitbandausbau. Die demografische Entwicklung und die Verödung ländlicher Regionen erfordern die virtuelle Erreichbarkeit von Ärzten. Die größte Chance liegt meines Erachtens in der schnellen Umsetzung der von Patienten selbst geführten digitalen Patientenakte. Das heißt, der Patient hat alle seine Gesundheitsdaten selbst und kann diese selbstbestimmt mit seinen Ärzten teilen. Dies bedeutet auch eine tiefgreifende Veränderung im Verhältnis zwischen Patient und Arzt – und Kostenträgern. In diesem Modell ist auch kein Platz für Dritte, sei es der Staat oder die Industrie, die ohne Zustimmung des Patienten Zugriff auf diese Daten bekommen dürfen. Ebenso sollte es die fortschreitende Digitalisierung ermöglichen, dass das Teilen und kollaborative Bearbeiten komplexer Fälle mit anderen Ärzten einfacher und zum Wohle des Patienten besser wird.“
Auch wenn Deppe in seiner Praxis die Video-Sprechstunde bereits anbietet, glaubt er nicht, dass sich in naher Zukunft viel ändern wird: „Da Zahnmedizin Apparatemedizin ist, werde ich als Zahnarzt noch lange Patienten haben, die zu mir in die Praxis kommen müssen. Gleichwohl werde ich Röntgenbilder, digitale Abdrücke und Planungen mit ihnen, Kollegen und dem Zahntechniker teilen. Zum Beispiel werde ich einen Patienten, der eine Herzerkrankung hat, bitten, mir Zugang zu diesem Teil seiner Krankenakte zu gewähren, damit ich sein Risiko bei einem zahnchirurgischen Eingriff beurteilen kann. Anders als heute rufe ich dann nicht mehr den Hausarzt an, sondern werde einen Algorithmus damit füttern, der mir, gestützt auf Big Data, eine valide Empfehlung gibt. Diese Empfehlung hilft mir nicht nur bei der Therapie, sondern wird selbst wieder Teil der digitalen Krankenakte.“
Die Video-Sprechstunde ist für Deppe durchaus eine angenehme Alternative zum Beratungsgespräch in der Praxis: „Es erfordert eine gewisse Gewöhnung, danach ist es kein Unterschied mehr“, sagt der Zahnarzt. Und wer denkt, nur junge Menschen nähmen die Video-Sprechstunde in Anspruch, muss sich eines Besseren belehren lassen: „Vor allem die, die bereits Erfahrungen mit Video-Chat gemacht haben, nutzen die Sprechstunde per Webcam“, sagt Deppe. „Das betrifft jede Altersgruppe. Es gibt durchaus den Großvater, der über Skype den Kontakt zu seinen Enkeln in Übersee hält.“
Dr. Felix Schirmann von Patientus geht noch weiter: „Ich bin davon überzeugt, dass es in zehn Jahren weder erwähnenswert noch erklärungsbedürftig ist, dass ich online zum Arzt gehe – im Gegenteil, der digitale Arztbesuch wird selbstverständlich sein. Im Bereich der digitalen Medizin wird weiterhin viel passieren – zum Beispiel die Diagnosestellung mit Unterstützung durch künstliche Intelligenz.“