Otto Krämer – pflegebedürftig im Jahr 2017
In nur einer Nacht ist die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland um 1,6 Millionen gestiegen – von rund 2,8 Millionen am 31. Dezember 2016 auf rund 4,4 Millionen am 1. Januar 2017. Grund ist der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff. Er bewirkt, dass zum Jahreswechsel nicht mehr nur Personen mit körperlichen Einschränkungen in den Leistungskatalog der Pflegeversicherung fallen, sondern auch die 1,6 Millionen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und schwindender geistiger Kraft – wie etwa Demenzerkrankte. Und nicht nur das: Die bisher gültigen drei Pflegestufen wurden in fünf Pflegegrade transformiert.
Für Otto Krämer hat das enorme Auswirkungen: Er ist 75 Jahre alt, leidet seit vielen Jahren unter Bluthochdruck und hatte vor einigen Monaten schließlich einen Schlaganfall. Vor zwei Wochen wurde er aus der Anschlussrehabilitation entlassen. Eine beinbetonte Halbseitenlähmung hat sich nicht wieder zurückgebildet. Deshalb ist sein Gangbild deutlich behindert. Er hat wenig Kraft im rechten Bein, und auch die rechte Hand ist schwach. Otto Krämer lebt zusammen mit seiner Ehefrau in einer Etagenwohnung im ersten Stock. Er kennt seinen Medikamentenplan, kann die Tabletten aber nicht mehr selbst aus der Packung drücken. Seine Ehefrau hilft ihm dabei. Einschränkungen des Denkens und des Gedächtnisses liegen nicht vor. Nur selten plagen ihn Wortfindungsstörungen.
„Pflege nach Minuten“ war gestern
Sie fragen sich: Wer ist Otto Krämer? Herr Krämer ist eine Erfindung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS), der an seinem Krankheitsbild das neue Begutachtungsverfahren der Pflegeversicherung erklärt. Denn noch im Jahr 2016 wäre Otto Krämer nach einer Begutachtung durch den MDK in eine der drei Pflegestufen eingeordnet worden – vermutlich in Pflegestufe 1, da der durchschnittliche tägliche Aufwand für seine Grundpflege voraussichtlich bei mehr als 45 Minuten, aber bei weniger als 120 Minuten liegt. Wäre er höher, käme Otto Krämer in die Pflegestufe 2 und bei mindestens 240 Minuten in die Pflegestufe 3. Jetzt, im Jahr 2017, kommt es nicht mehr auf die Minuten an. Die Pflegegrade orientieren sich nicht mehr am Zeitwaufwand, sondern am Grad der Selbstständigkeit.
Das Präventionspotenzial der 75- bis 100-Jährigen
In Deutschland vollzieht sich ein enormer demografischer Wandel: Zum einen erreichen die Menschen ein höheres Alter, zum anderen nimmt der Anteil der Senioren aufgrund der sinkenden Geburtenrate kontinuierlich zu. Epidemiologische Daten zur Mundgesundheit der älteren Senioren sind deshalb für die Planung der zahnmedizinischen Versorgung unverzichtbar. Die DMS V umfasst erstmals die 75- bis 100-Jährigen – und zeigt, wie hoch das Präventionspotenzial in dieser Altersgruppe noch ist.
Jetzt entscheidet der Grad der Selbstständigkeit
Die Überleitung in das neue System verläuft fließend. Alle Personen, die zum 31. Dezember 2016 Geld aus der Pflegeversicherung erhalten haben, wurden automatisch in einen der fünf neuen Pflegegrade übergeleitet. Pflegebedürftige ohne eingeschränkte Alltagskompetenz, die in die Pflegestufe 1 eingeordnet waren, wurden in den Pflegegrad 2 übergeleitet, Pflegebedürftige aus der Pflegestufe 1 mit eingeschränkter Alltagskompetenz in den Pflegegrad 3. Diese Regel gilt entsprechend bei den höheren Pflegestufen. Grundlage für eine eingeschränkte Alltagskompetenz sind demenzbedingte Fähigkeitsstörungen, geistige Behinderungen oder psychische Erkrankungen.
Wer ab dem 1. Januar 2017 einen Antrag auf Pflegebegutachtung stellt, wird von den Mitarbeitern des MDK nach dem neuen System begutachtet. Anhand sechs verschiedener Module versuchen sie, den Grad der Selbstständigkeit des Pflegebedürftigen zu ermitteln. In jedem Modul gibt es unterschiedliche Fragestellungen, bei der Mobilität zum Beispiel, ob ein Positionswechsel im Bett oder das Treppensteigen möglich ist. Jede Fragestellung kann mit „selbstständig“ (0 Punkte), „überwiegend selbstständig“ (1 Punkt), „überwiegend unselbstständig“ (2 Punkte) oder „unselbstständig“ (3 Punkte) bewertet werden. Am Ende werden alle Punkte addiert. Anhand der Punktzahl ergibt sich dann der Pflegegrad: Ab 12,5 Punkten gilt Pflegegrad 1, ab 27 Punkten Pflegegrad 2, ab 47,5 Punkten Pflegegrad 3, ab 70 Punkten Pflegegrad 4 und ab 90 Punkten Pflegegrad 5. Beim Zusammenzählen der Punkte werden die einzelnen Module dabei unterschiedlich gewichtet.
Bei Otto Krämer ist die Mobilität eingeschränkt. Beim Treppensteigen wird er als „überwiegend unselbstständig“ eingestuft, beim Umsetzen als „überwiegend selbstständig“. Die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten sind bei ihm gut ausgeprägt, hier ist er „selbstständig“, Gleiches gilt für den Bereich „Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“. Bei der Selbstversorgung ist Herr Krämer beim Waschen des Intimbereichs und beim Duschen und Baden „überwiegend unselbstständig“ und bei der Körperpflege im Bereich des Kopfes, beim An- und Auskleiden des Oberkörpers, beim An- und Auskleiden des Unterkörpers, beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung, beim Eingießen von Getränken und beim Benutzen einer Toilette „überwiegend selbstständig“. Beim selbstständigen Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen muss seine Frau ihm einmal am Tag bei der Medikation helfen. Und bei der Gestaltung des Alltagslebens benötigt er Hilfe beim Aufstehen und beim Schlafengehen, in diesen Bereichen ist er „überwiegend selbstständig“. Addiert und gewichtet erhält Otto Krämer insgesamt 31,25 Punkte und damit Pflegegrad 2 (siehe Grafik).
Otto Krämer hat 31,25 Punkte – Pflegegrad 2
Wer 2016 keine Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten hat, kann nun in den Pflegegrad 1 eingeordnet werden. Deshalb rechnet der MDS damit, dass im Jahr 2017 200.000 Pflegebedürftige erstmals Geld aus der Pflegeversicherung erhalten. Zudem gilt der Bestandsschutz. Im Übergang von der Pflegestufe 1 in den Pflegegrad 3 steigt das Pflegegeld zum Beispiel von 316 Euro auf 545 Euro, die Pflegesachleistung von 689 Euro auf 1.298 Euro und die Leistungen im Bereich der vollstationären Pflege von 1.064 Euro auf 1.262 Euro. Nur beim Übergang von der Pflegestufe 1 in den Pflegegrad 2 und von der Pflegestufe 2 in den Pflegegrad 3 zahlt die Pflegeversicherung bei vollstationär gepflegten Menschen weniger. Wegen der Bestandsschutzregelung erhöht sich der Eigenanteil für Angehörige jedoch auch in diesen Fällen nicht. Grundsätzlich bleiben die Eigenanteile für die Pflegegrade 2 bis 5 gleich hoch, auch bei steigender Pflegebedürftigkeit.
Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff musste auch die Krankentransport-Richtlinie angepasst werden. Generell übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für Krankenfahrten zur ambulanten Behandlung nur in Ausnahmefällen. Die KZBV hat sich im vergangenen Jahr im G-BA mit Nachdruck für eine eigene zahnmedizinische Richtlinie starkgemacht – ohne Erfolg. Es blieb bei der Entscheidung, die ärztliche Richtlinie auf den zahnärztlichen Bereich auszudehnen.
Diese Erweiterung des Anwendungsbereichs der ärztlichen Krankentransport-Richtlinie auf die Zahnärzte hatte der G-BA Mitte Februar 2016 beschlossen. Seit dem 5. Mai vergangenen Jahres ist die Richtlinie in Kraft und bildet damit die verbindliche Rechtsgrundlage, auf der Zahnärzte Krankenbeförderungsleistungen verordnen können. Es gelten dieselben Ausnahmetatbestände wie in der ärztlichen Versorgung: Allein in den Fällen, in denen Versicherte dauerhaft in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, können Zahnärzte Krankenbeförderungsleistungen verordnen, wenn die Fahrten im Zusammenhang mit einer zahnärztlichen Behandlungsbedürftigkeit stehen.
Einen Krankentransport bekommt er damit nicht
Seit dem 1. Januar 2017 (bei Redaktionsschluss lag die Änderung der Krankentransport-Richtlinie dem Bundesgesundheitsministerium zur Prüfung vor) sollen jetzt nur noch Patienten ab dem Pflegegrad 3 Krankenfahrten zur ambulanten Behandlung verordnet bekommen. Allerdings muss zusätzlich eine dauerhafte Mobilitätsbeeinträchtigung ärztlich festgestellt und bescheinigt werden. Der Pflegegrad 3 allein reicht zur Begründung nicht aus. Für Versicherte, die bis zum 31. Dezember 2016 aufgrund der Einstufung in die Pflegestufe 2 einen Anspruch auf Fahrtkostenübernahme hatten, gilt der Bestandsschutz. So lange diese Patienten mindestens in den Pflegegrad 3 eingestuft sind, bedarf es für sie keiner gesonderten Feststellung einer dauerhaften Mobilitätsbeeinträchtigung.
Pflegereform: 2009 bis 2017
Bereits im Jahr 2009 hatte die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) einen Beirat eingesetzt, der die Pflegereform vorbereiten sollte. Der Beirat legte ein Gutachten für eine Neugestaltung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vor – doch erst das am 1. Januar 2016 in Kraft getretene Zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II) schaffte die rechtlichen Grundlagen für die Vorbereitung des neuen Begutachtungsverfahrens und der Umstellung auf Pflegegrade und neue Leistungsbeiträge. Dieses neue Begutachtungsverfahren begann am 1. Januar dieses Jahres – gemeinsam mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz (PSG III), das den Abschluss der Pflegereform bildet. Ziel des PSG III ist es, die Beratung in der Pflege zu stärken und die Zusammenarbeit der Verantwortlichen in den Kommunen auszubauen.
Die Verordnung ist für Zahnärzte unter Verwendung des vertragsärztlichen Musters 4 „Verordnung einer Krankenbeförderung“ vorzunehmen. Außerdem erfolgt die Übernahme von Fahrtkosten nur nach vorheriger Genehmigung der Krankenkasse. Bei Otto Krämer ist die Mobilität eingeschränkt. Einen Krankentransport bekommt er nicht.