Wegbereiter der Zahnheilkunde – Teil 5

Friedrich Louis Hesse - erster zahnärztlicher Ordinarius

Dominik Groß
Nach einer medizinischen Ausbildung wechselte Friedrich Louis Hesse von Arzt auf Zahnarzt und wurde 1884 Gründungsdirektor des ersten deutschen universitären zahnärztlichen Instituts. Und 1898 wurde er auf den ersten zahnärztlichen Lehrstuhl in Leipzig berufen. Berufspolitisch kämpfte er gegen die Ärzte, die Zahnbehandlungen durchführten.

Hesse wurde am 7. Dezember 1849 in Bischofswerda geboren [Fiedler/Fiedler, 2014; Holzhauer, 1962;  Maretzky/Venter, 1974; Professorenkatalog, 2013; Remitschka, 1955]. Er war der Sohn des Mediziners Friedrich Wilhelm Hesse (1817–1897) und der Fabrikantentochter Auguste Louise Hesse, geb. Großmann (1824–1885).

Die bildungsbürgerliche Kindheit mit 11 Geschwistern

Der Vater praktizierte in Bischofswerda beziehungsweise Zittau und machte sich insbesondere um die Betreuung und Behandlung kränklicher und sozial benachteiligter Kinder verdient. Friedrich Louis hatte elf Geschwister. Drei Brüder (Richard, Walther, Georg) wurden später ebenfalls erfolgreichen Ärzte, drei Schwestern durchliefen jeweils eine Lehrerinnenausbildung am Freimaurer-Institut Dresden [Fiedler/Fiedler, 2014].

Bereits diese Eckdaten dokumentieren, dass Hesse einem bildungsbürgerlichen Milieu entstammte, in dem die Eltern besonderen Wert auf eine gehobene Ausbildung legten.

Friedrich Louis besuchte in Bischofswerda die Schule, wurde aber auch zu Hause unterrichtet. 1863 wechselte er auf die Kreuzschule Dresden, die er 1868 mit der Reifeprüfung abschloss. Im selben Jahr nahm er an der Universität Leipzig das Studium der Medizin auf. 1870/71 unterbrach er seine Studien, um als Einjährig-Freiwilliger am Deutsch-Französischen Krieg teilzunehmen.

Nach Kriegsende setzte er seine Ausbildung fort und 1873 erhielt er die ärztliche Approbation. Anschließend fand er bei dem renommierten Leipziger Anatom Prof. Wilhelm His eine Assistentenstelle – zunächst mit dem Ziel, das nötige anatomische Grundlagenwissen für eine chirurgische Karriere zu erlangen. 1874 promovierte er bei His mit Untersuchungen „Ueber die Muskeln der menschlichen Zunge“ [Hesse, 1876], und 1875 wurde er ebenda zum Prosektor bestellt [Fiedler/Fiedler, 2014].

Während sich Hesse von His nur bedingt unterstützt fühlte [Holzhauer, 1862], gehörte der fachlich ähnlich herausragende Physiologe Carl Ludwig wohl zu seinen Mentoren. Mit ihm erforschte Hesse die Mechanik der Herzbewegung. 1877 folgten die Habilitation im Fach Anatomie und die Ernennung zum Privatdozenten. In dieselbe Zeit fallen Studienaufenthalte bei Louis Ranvier am Pariser Collège de France sowie in Straßburg bei Heinrich Wilhelm Waldeyer [Fiedler/Fiedler, 2014].

1879 unternahm Hesse eine Studienreise in die USA, die er dazu nutzte, Kontakte zu amerikanischen Zahnmedizinern zu knüpfen. Zu diesem Zeitpunkt dürfte Hesse bereits mit dem Gedanken gespielt haben, die Anatomie aufzugeben und sich der aufstrebenden Zahnheilkunde zuzuwenden, die zu jenem Zeitpunkt sehr starke fachliche Impulse aus den USA erhielt [Hesse, 1882; Fiedler/Fiedler, 2014; Holzhauer, 1962].

Eine „Neigung für manuelle Geschicklichkeit“

Ursächlich für den Fachwechsel waren zum einen schlechte Aufstiegschancen im Fach Anatomie und zum anderen, so Hesse, seine deutliche „Neigung für manuelle Geschicklichkeit“, die in der Zahnheilkunde besonders zum Tragen kam [Holzhauer, 1962]. Tatsächlich wirkte Hesse von 1880 bis 1882 am New York College of Dentistry – ein Studienaufenthalt, der ihn intensiv mit der US-amerikanischen Zahnheilkunde vertraut machte.

Hier legte er 1881 das US-amerikanische Examen ab und graduierte zum Doctor of Dental Surgery (D.D.S.) [Fiedler/Fiedler, 2014; Parreidt, 1909].

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland eröffnete Hesse im Februar 1882 eine Zahnarztpraxis in Leipzig [Fiedler/Fiedler, 2014]. Im selben Jahr absolvierte er zudem bei Dr. Gustav Klare, dem damaligen Vorsitzenden des „Central-Vereins deutscher Zahnärzte“ [Groß/Schäfer, 2009], die deutsche zahnärztliche Prüfung. Nun nahm Hesses Karriere Fahrt auf, wobei sich auch private Kontakte als dienlich erwiesen: So heiratete Hesse 1883 Agnes Thiersch, Tochter des einflussreichen Leipziger Chirurgen Carl Thiersch, der seit 1867 den Chirurgischen Lehrstuhl bekleidet und 1876/77 überdies als Rektor der Universität Leipzig fungiert hatte. Hesses Schwiegermutter, Johanna Thiersch, war ihrerseits eine Tochter des Chemikers Justus von Liebig.

Vor dem Hintergrund der persönlichen Beziehung kann es nicht überraschen, dass Thiersch zu den maßgeblichen Fürsprechern der Einrichtung eines zahnärztlichen Universitätsinstituts unter dem Direktorat von Hesse gehörte. Bereits 1883 erhielt Hesse den ministeriellen Auftrag, in Leipzig eine solche Einrichtung zu konzipieren, im April 1884 wurde er hier zum außerordentlichen Professor ernannt und ein halbes Jahr später, am 16.10.1884, erfolgte in der Goethestraße 5 die Eröffnung des Instituts unter der Leitung von Hesse.

Es handelte sich um die erste universitäre zahnärztliche Einrichtung auf deutschem Boden [Fiedler/Fiedler, 2014; Hesse, 1895]. Zum Patientenstamm der Leipziger Einrichtung gehörten vornehmlich sozial benachteiligte Bürger, die von den ansässigen Studierenden unentgeltlich oder zu niedrigen Tarifen behandelt wurden.

Zu Hesses weiteren Karriereschritten gehörte die Ernennung zum Vorsitzenden des „Zahnärztlichen Vereins für das Königreich Sachsen“ (1890–1900) und des „Central-Vereins deutscher Zahnärzte“ [Fiedler/Fiedler, 2014; Groß/Schäfer, 2009]. Das letztgenannte Amt hatte Hesse über einen Zeitraum von neun Jahren inne. 1898 wurde Hesse zudem zum ordentlichen Professor für Zahnheilkunde an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig – und damit zum ersten zahnärztlichen Ordinarius in Deutschland – bestellt. 1903 folgte die Ernennung zum Ehrenmitglied des CVdZ [Fiedler/Fiedler, 2014; Groß/Schäfer, 2009].

Selbstmord wegen Depressionen

Am 22. Oktober 1906 schied Hesse durch Suizid aus dem Leben. Hintergrund war vermutlich eine Depression, die sich im Verlauf des letzten Lebensjahres deutlich verschlimmert hatte [Parreidt, 1909; Holzhauer, 1962; Fiedler/Fiedler, 2014].

Hesse war einer der wichtigsten Wegbereiter der deutschen Zahnheilkunde: Diese Einordnung ergibt sich zum einen aus der Tatsache, dass Hesse ab 1884 dem ersten universitären zahnärztlichen Institut in Deutschland vorstand, zum anderen aus dem Umstand, dass er 1898 zum ersten zahnärztlichen Lehrstuhlinhaber ernannt wurde.

Rekordverdächtig war auch seine Amtszeit als CVdZ-Präsident: Kein Vorgänger stand dem Verein im 19. Jahrhundert so lange vor wie Hesse (1891–1900), und in den nachfolgenden 116 Jahren sollten lediglich Otto Walkhoff und Hermann Euler die Zeitspanne von neun Jahren übertreffen [Groß/Schäfer, 2009].

Jenseits dieser statistischen Superlative trat Hesse mit wichtigen berufspolitischen Initiativen hervor: So bekämpfte er die zeitgenössischen Ärzte, die als selbsternannte „Spezialärzte für Zahn- und Mundkrankheiten“ Zahnbehandlungen durchführten, ohne als Zahnärzte approbiert zu sein, und schreckte dabei auch vor einem Gerichtsstreit nicht zurück [Hesse, 1905]. Ein weiteres Augenmerk galt der Verbesserung der zahnärztlichen Ausbildung [Hesse, 1888 und 1895].

Zudem bemühte er sich, die deutsche Zahnheilkunde fachlich und berufspolitisch an die internationale Entwicklung heranzuführen. Er engagierte sich insbesondere in der „Fédération Dentaire Internationale“ (FDI), die unter Zeitgenossen als bedeutendste globale Vereinigung auf dem Gebiet der Zahnheilkunde galt.

Verlorene berufspolitische Kämpfe

Gleichwohl musste er auch berufspolitische Niederlagen verbuchen: Er rivalisierte allzu lange mit dem Vereinsbund Deutscher Zahnärzte (VbDZ), der 1891 als zweite nationale Organisation neben dem CVdZ gegründet worden war. Der VbDZ sollte sich gezielt auf standespolitische Aktivitäten fokussieren, damit sich der Central-Verein auf wissenschaftliche Belange konzentrieren konnte.

Hesse beharrte jedoch auf dem Standpunkt, dass dem CVdZ in beiden Belangen eine Führungsrolle zukomme, und machte sich dadurch viele Zahnärzte zum Gegner [Parreidt, 1909; Groß/Schäfer, 2009]. Zudem gelang es ihm in seiner Amtszeit – trotz allgemein steigender Zahnärztezahlen – nicht, Kollegen für den CVdZ zu anzuwerben.

Während unter Hesse die Zahlen über Jahre stagnierten, entwickelte sein Nachfolger im Amt, Willoughby Dayton Miller, höchst erfolgreiche Werbemaßnahmen, die letztlich innerhalb von nur sechs Jahren zu einer Vervierfachung der Mitgliederzahlen führten [Groß/Schäfer, 2009].

Seit der Jahrhundertwende nahm Hesses Gesundheit Schaden: Sein wenig erfolgreicher „Kampf“ gegen die Spezialärzte, sein zähes Ringen mit den Universitäten um eine Verbesserung der zahnärztlichen Ausbildung und um eine Akademisierung des Berufsstands sowie sein konflikthaftes Verhältnis zum Vereinsbund führten zu fortgesetzten Frustrationen und Kränkungen [Fiedler/Fiedler, 2014; Holzhauer, 1962].

Hesse entwickelte eine schwere Depression, musste seine Privatpraxis aufgeben und setzte schließlich 1906 seinem Leben ein Ende. Erst nach seinem Tod konnten einige seiner zentralen Ziele erreicht werden, etwa 1909 die Einführung der Reifeprüfung als Studienvoraussetzung und 1919 das zahnärztliche Promotionsrecht [Groß, 1994].

Wegweisend: seine Ausführungen zur Bäckerkaries

Neben den berufspolitischen Initiativen verdient das wissenschaftliche und klinisch-praktische Erbe Erwähnung. Hesse bemühte sich in Sachsen um die Einführung der Kariesprophylaxe an den Schulen und setzte sich insgesamt für moderate zahnärztliche Honorarforderungen und eine soziale Zahnheilkunde ein. Als wegweisend gelten zudem seine Ausführungen zur Bäckerkaries [Hesse, 1886; Holzhauer, 1962]. Auch um die Entwicklung der Prothetik machte Hesse sich mit mehreren beachteten Arbeiten verdient [Hesse, 1892 und 1901a].

Darüber hinaus wurde Hesse besonderer Nachruhm zuteil: So wurde 1994 an der Poliklinik für Konservierende Zahnheilkunde der Universität Leipzig das zweijährlich stattfindende wissenschaftliche Friedrich-Hesse-Symposium ins Leben gerufen, das den Nachwuchs an Hesses Beitrag zur Zahnheilkunde erinnern soll. In Leipzig wurde 2009 aus Anlass des 125. Jahrestages der Gründung der Universitäts-Zahnklinik das „Zentrum für Orale Medizin“ nach Friedrich Louis Hesse zu benannt. Und last, but not least trägt auch die Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde e. V. in Leipzig seinen Namen.

Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Medizinische Fakultät
RWTH Aachen University
dgross@ukaachen.de

Alle Teile der Serie „Wegbereiter der Zahnheilkunde“

Jacob Callmann Linderer – Zahnerhalter der ersten Stunde

Zu den Wegbereitern der Zahnheilkunde zählt Jacob Callmann Linderer, der sich einen Namen als Fachautor machte und unter anderem den Fiedelbohrer erfand. Linderer lebte in einer Zeit, in der sich der Zahnarztberuf grundlegend wandelte: Er zog als Behandler noch umher, hatte aber auch schon eine erfolgreiche standortgebundene praktische Tätigkeit.

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Hans Moral – Miterfinder der Lokalanästhesie

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Dominik Groß

Univ.-Prof. Dr. med. dent. Dr. med. Dr. phil. Dominik Groß

Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Vorsitzender des Klinischen
Ethik-Komitees des UK Aachen
Universitätsklinikum der
RWTH Aachen University MTI 2
Wendlingweg 2, 52074 Aachen

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