Orientierungslos im Digitalwald
Ich weiß nicht, wie Sie es empfinden, aber mir geht diese Art und Weise, wie wir die Digitalisierungsdebatte im Gesundheitswesen führen enorm auf den Geist. Mittlerweile sieht man vor lauter Digital-Pappeln den Gesundheits-Wald nicht mehr. Pappeln – Napoleons Wegweiser für seine Soldaten. Gepflanzt, um im Sommer im Schatten marschieren zu können, im Winter zur besseren Orientierung. Schnell wachsend, allerdings von minderer Holzqualität. Kein besonders stabiler und langlebiger Baum, dessen Holz gerne für Verpackungen genommen wird. Leicht zynisch formuliert: Für Potemkinsche Dörfer hervorragend geeignet …
Ein solches ist zum Beispiel die inszenierte mediale Gleichsetzung der von der Techniker Krankenkasse zurzeit massiv gepushten elektronischen Patientenakte (ePA) mit der Telematikinfrastruktur (TI) und deren einzelnen Leistungsstufen. In der im Übrigen auch eine ePA vorgesehen ist. Im günstigsten Fall noch als Projekt von gestern beschrieben, wird seitens mancher großer Kassen die ePA als „Problemlöser“ für das „vollkommen verkorkste eGK-Projekt“ dargestellt. Tenor: 14 Jahre Entwicklung, bis dato mehr als eine Milliarde Entwicklungskosten, lasst uns dieses Fass ohne Boden schnellstmöglich loswerden.
Nur: Ist die Kassen-ePA die Lösung? Meines Erachtens ein klares Nein. Denn sie bedeutet keinesfalls die digitale Vernetzung der Leistungserbringer im Gesundheitswesen. Schon gar nicht ist sie die von den Krankenkassen einst massiv geforderte Zugangskontrolle für den Leistungsabruf seitens der Patienten. Usw. und so fort. Wer die Vernetzung der Leistungserbringer im Gesundheitswesen will, wird für die nächsten Jahre nicht an der TI vorbeikommen.
Das selbst von den Kassen zunehmend ungeliebte Projekt hat nämlich einen Vorteil: Die Kommunikation, der Fluss der Information ist gesichert, weil die TI den „Standard“ vorgibt, mithin interoperabel ist. Alle anderen Softwares – von Praxisverwaltung über Arzneimitteldatenbanken bis zu Apothekenverwaltungsprogrammen – müssen in Abhängigkeit davon den Datenaustausch gestalten. Alleine die Erstellung der Logik und des Thesaurus für den Medikationsplan hat Jahre gedauert. Und diese Aufgabe wäre bis heute nicht erledigt, wenn sich nicht das BMG der Sache angenommen und eine Struktur samt Semantik vorgegeben hätte.
Hiermit will ich weder Werbung für die TI machen noch ein Hallelujah ausrufen. Schon gar nicht will ich die potenziellen Gefahren negieren, die durch den Internetzugriff auf die Daten gegeben sind. Denn die Alternativen, z. B. alles über eine vom Patienten selber geführte und inhaltlich gesteuerte ePA leisten zu wollen, machen die Daten und deren Verwendung nicht besser und schon gar nicht sicherer. Wer die Digitalisierung im Gesundheitswesen will, um die Information und Kommunikation zur besseren Versorgung des Einzelnen sowie eine ökonomischere Ressourcenverwendung zu ermöglichen, kann eine missbräuchliche Datenverwendung nie zu 100 % ausschließen. Warum? Weil es in der Natur dieser Technik liegt. Denken Sie an die schnell sprießenden Pappeln, die sichere „Wege“ verheißen …
Wir halten also fest: Die ePA der Kassen und die TI sind zwei Paar Schuhe. Wovon das eine Paar ziemlich alt, aber immer noch nicht wirklich be- und genutzt wurde und doch die Versorgung sämtlicher GKV Patienten durch Bündelung und stete Aktualisierung verbessern soll. Durch wen? Die Heilberufler. Das andere Paar, die ePA der Kassen, kommt sehr modern daher. Da geht es um: „Die elektronische Gesundheitsakte wird das Gesundheitswesen auf ein völlig neues Qualitätslevel heben … Wir sehen uns hier als Coach der unserer Versicherten ... Wir möchten unsere Kunden fit machen für das digitale Gesundheitswesen, damit sie für sich informierte Entscheidungen treffen können“, so Jens Baas, der Vorsitzende des Vorstands der Techniker Krankenkasse, im Vorwort der TK-Studie zur Digitalen Gesundheitskompetenz 2018 *. In der Studie wird nachgelegt: „Erstmals ist der Patient der Souverän seiner eigenen Gesundheit.“
Ah ja. Aber nur, wenn die Gleichung „Gesundheit + digitale Medienkompetenz = Digitale Gesundheitskompetenz“ auch zutrifft. Aber: Wir reden hier nicht nur von einer anderen Rollenverteilung zwischen Arzt und „Kunde“. Schlimmer ist, dass die propagierte digitale Medienkompetenz nicht gleich verteilt ist – weder in der Bevölkerung noch in den Lebensphasen des Einzelnen. Und wo dann die Heilberufler aus einer individuell geführten digitalen Akte bruchstückhafte Informationen wieder zu einem entscheidungsrelevanten Bild zusammenfügen müssen. Pappeln als Orientierung funktionieren halt nur in einem konsistenten System. Bei Napoleon damals wenigstens eine Zeit lang ...
Dr. Uwe Axel Richter, Chefredakteur
Digitale-Gesundheitskompetenz-Homo-Digivitalis-2018.pdf-